1 Die Welt aus dem Lot?
TEIL I
1DIE WELT AUS DEM LOT?
(MÜLLER 2016)
Das Bild irritiert: ein Eisbär auf der braunen Tundra. Frühlingshaft warm ist es gemäß der «New York Times» gegenwärtig in der Arktis, das Eis schmilzt rapide, und die Bären werden notgedrungen zu Festlandtieren, weiße Flecken auf braunem Grund. Natürlich: Nie war die Natur statisch, immer hat sie sich verändert. Doch so schnell? So unaufhaltsam? So unerklärlich? Auch weiße Weihnachten, diese im kollektiven Gedächtnis eingelagerten Bilder der Kälte, gegen die sich die Wärme der Kerzen fast spürbar abhebt – weiße Weihnachten gibt es faktisch nicht mehr. Aber so soll es doch eigentlich sein, und dass das Rieseln der Flocken ausbleibt, bestätigt nur einen Eindruck: Die Welt ist aus dem Lot.
Das Jahr 2016 wirkt da als Verstärker. Putin lässt in Aleppo Spitäler bombardieren, und die Rechtspopulisten in Europa bewundern ihn, Diktator Assad kämpft mit Giftgas, und keiner hindert ihn daran. Trump will wieder mehr Atombomben bauen, und alle bleiben stumm. China erobert schrittweise das Südchinesische Meer, und alle sind ratlos. In Berlin rast ein Terrorist in einen Weihnachtsmarkt, die Türkei wird zur Diktatur. Und in der Schweiz schwadronieren manche Leute von einer Revolution, was einen Frontalangriff auf einen zentralen Wert schweizerischer Politkultur – die stete Suche nach Konsens – darstellt.
Was der Schweizer Journalist Felix E. Müller in dieser Passage seines Kommentars am Weihnachtstag 2016 zum Ausdruck bringt, ist ein Zeitgefühl, das vor allem in Europa weit verbreitet ist. Auch die Schweiz ist davon nicht ausgenommen, obwohl die Lebenszufriedenheit der Bevölkerung sehr hoch ist. Die Ergebnisse des neusten Sozialberichts werden denn auch unter dem Titel Zufriedenheit, Glück und ein erfülltes Leben in der Schweiz zusammengefasst (Ehrler 2016). Man kann sagen, das subjektive alltägliche Empfinden und die Wahrnehmung der allgemeinen Weltlage klaffen weit auseinander. Es sind die in den Medien nicht selten reißerisch dargestellten Zeitdiagnosen, die vielen Menschen das Gefühl vermitteln: die Welt ist aus dem Lot. Die Rede ist unter anderem von der Konsumgesellschaft, vom gläsernen Menschen, von der Netzwerkgesellschaft, vom Ende der Arbeit, von Globalisierung, von Prekarisierung, von Einwanderungsgesellschaften, von Digitalgesellschaften. Und diese vielfältigen und zum Teil sich widersprechenden Gegenwarts- und Zukunftsdiagnosen verweisen auf heterogene Strukturen und Entwicklungen, die kein homogenes Gegenwartsverständnis zulassen und dem Blick in die Zukunft ein Bild des Chaos offenbaren.
Historische Vergleiche drängen sich auf, auch wenn die Geschichtswissenschaft solchen gegenüber sehr zurückhaltend ist (vgl. z. B. Haupt & Kocka 1996, S. 53). Die amerikanische Historikerin Anne Applebaum zieht Parallelen zur Zwischenkriegszeit im Europa des letzten Jahrhunderts, in der sich innerhalb von zwei Jahrzehnten viele demokratische Staaten in Diktaturen wandelten. Sie erachtet die Demokratie durch den Rechtspopulismus als hoch gefährdet: «Ich kann mir noch mehr Einparteienstaaten vorstellen, wie es ihn in Ungarn faktisch schon gibt. Die Techniken dafür sind jetzt bekannt. Die Russen machen es, die Türken, die Polen versuchen es. Ja, ich kann mir für die nächste Dekade das Ende der EU und der Nato vorstellen. Es wird ein anderes Europa sein – und es wird ein finsteres» (Applebaum 2016).
Nicht selten werden auch Ähnlichkeiten mit der Zeit zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Europa gesehen. Im Taumelnden Kontinent verweist der Schriftsteller und Historiker Philipp Blom (2009) auf zahlreiche Quellen, in denen die damaligen Menschen ihre Zeit als unsicher und erregt empfanden, und er zieht explizit Parallelen zu unserer Zeit:
(BLOM 2009, S. 12)
Damals wie heute waren tägliche Gespräche und Presseartikel dominiert von neuen Technologien, von der Globalisierung, von Terrorismus, neuen Formen der Kommunikation und den Veränderungen im Sozialgefüge; damals wie heute waren die Menschen überwältigt von dem Gefühl, dass sie in einer sich beschleunigenden Welt leben, die ins Unbekannte rast.
Bereits 1900 befanden sich laut Blom die Männer in einer tiefen Identitätskrise, wie sie auch heute wieder diagnostiziert wird.
Mit ihren Vergleichen zeichnen beide, Applebaum wie Blom, mögliche düstere Szenarien, denn wir wissen: Der taumelnde Kontinent stolperte damals in die Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts, und knapp 20 Jahre später entfachten ein radikaler Nationalismus und Rassismus einen Weltenbrand.
Doch Geschichte wiederholt sich nie, und wir leben im «Dunkel des gelebten Augenblicks». Damit bezeichnete der deutsche Philosoph Ernst Bloch seine Beobachtung, dass aktuelles Bewusstsein nur für ein soeben vergangenes oder ein erwartetes Erlebnis da ist. «Der gelebte Augenblick selbst bleibt in seinem Inhalt wesenhaft unsichtbar, und zwar umso sicherer, je energischer Aufmerksamkeit sich darauf richtet: an dieser Wurzel, im gelebten Ansich, in punktueller Unmittelbarkeit ist alle Welt noch finster» (Bloch 2009, S. 338). Der Literaturwissenschaftler Hans Mayer (1996) hat diesen Gedanken aufgenommen und für ganze Menschengruppen und Gesellschaften so interpretiert, dass diese zwar folgenreiche Augenblicke als Ereignisse erlebten, sie könnten aber nicht erahnen, was diese für die Zukunft bedeuten. Als historischen Beleg dafür führt Mayer unter anderem den 30. Januar 1933 an. Hitler wurde zum Reichskanzler ernannt, und nachts zogen die Nationalsozialisten mit Fackeln singend und grölend durch Berlin, so ihre neu gewonnene Macht demonstrierend. Dies machte sicher einen starken Eindruck auf die Zeitgenossen – dennoch konnte damals niemand ahnen, dass das der Schicksalstag des 20. Jahrhunderts war. Erst die Geschichtsschreibung macht aus Ereignissen historisch Bedeutsames, Folgenreiches; und umgekehrt erweisen sich Ereignisse, die Zeitgenossen als bedeutend empfinden, im Nachhinein als praktisch folgenlos. War die Wahl Donald Trumps zum Präsidenten der Vereinigten Staaten ein Wendepunkt? Wir können es nicht wissen.
Natürlich wird die Zukunft in der Wissenschaft und in den Medien nicht nur düster gezeichnet. Vor allem technische und wirtschaftliche Innovationen werden als Lösungen der Probleme der Menschheit dargestellt. Unter dem Titel Die Weltveränderer beschreibt die Journalistin Charlotte Jacquemart solche Innovationen (2017): Das Internet wird 100-mal schneller als heute, die sogenannte Genschere CRISPR ermöglicht präzise Eingriffe ins Erbgut von Pflanzen, Tieren und Menschen, und der Roboter wird als größte industrielle Revolution angepriesen.
Die beiden Ökonomen Ian Goldin und Chris Kutarna sehen unsere Zeit als zweite Renaissance, in der die Menschheit vor einem Wendepunkt steht. Die Zeit der Renaissance war die bislang beste aller Zeiten, und sie hob sich kontrastreich von den finsteren Zeiten des vorherigen Jahrhunderts ab, in dem Kriege und die Pest dominierten (vgl. Goldin & Kutarna 2016, S. 104 f.). Dass dieses Renaissancebild aus geschichtswissenschaftlicher Sicht längst überholt ist, scheint die beiden Autoren nicht zu kümmern. Schon 1972 wies der Historiker Peter Burke in seinem epochalen Werk zur Renaissance in Italien nach, dass sich auch diese Zeit, wie die meisten anderen, zwischen Tradition und Erfindung bewegte.
(BURKE 1984, S. 29)
Man kann nicht erwarten, dass die Zeitgenossen die eigenen Leistungen zutreffend beschreiben. […] Wie so oft bei kulturellen Wandlungsprozessen, [sic] wurde das Neue dem Alten hinzugefügt, dieses wurde durch jenes aber nicht ersetzt; der Kulturwandel vollzog sich «additiv» nicht «substitutiv». Der Humanismus machte das Interesse an der scholastischen Philosophie keineswegs zunichte.
Dennoch, vor dem Hintergrund eines burckhardtschen Renaissancebildes zeichnen Goldin und Kutarna Parallelen zwischen dem damaligen Europa (gemeint ist jener Teil Europas, der vom Humanismus und der Renaissance beeinflusst war) und der Gegenwart: der Buchdruck damals – die digitalen Medien heute; Gutenberg damals – Zuckerberg heute. Und enthusiastisch wird Bill Gates aus dem Jahr 1995 zitiert und betont, wie recht er damals hatte:
(GATES 1995, ZITIERT AUS GOLDIN & KUTARNA 2016, S. 57)
Der Tag wird kommen, und er ist nicht fern, an dem Sie in der Lage sein werden, ein Unternehmen zu führen, zu studieren, die Welt und ihre Kulturen zu erforschen, erstklassige Unterhaltung zu genießen, Freundschaften zu knüpfen, Stadtteilmärkte zu besuchen und entfernten Verwandten Fotos zu zeigen, ohne von Ihrem Schreibtisch oder Sessel aufzustehen.
In der Renaissance wie heute entstanden beziehungsweise entstehen ganz neue Vernetzungen: im Handel und in den Finanzen, durch kurzfristige (Tourismus) und langfristige (Migration) Mobilität. Und wie Leonardos vitruvianischer Mensch gegen Ende des 15. Jahrhunderts entsteht heute ein neuer Mensch – vernetzt, gesund, gebildet, genialisch, und mit ihm bricht ein neues goldenes Zeitalter an. Natürlich kann laut den beiden Autoren noch vieles schief gehen, die goldene Zukunft muss durch die Menschen erkämpft werden, indem das Potenzial der Genialität maximal ausgeschöpft, Wagemut und der Mut zum Scheitern gefördert werden. Es gilt, einen breiten und tiefen Wissensschatz zu bergen, die physischen und digitalen Grundlagen für einen Austausch in den Gemeinden zu stärken, und Tugenden wie Ehrlichkeit, Wagemut und Würde haben die ganze Entwicklung zu rahmen (ebd., S. 326–372).
Der Blick zurück in die Geschichte hilft, die Gegenwart zu verstehen. «Zukunft braucht Herkunft», wie der deutsche Philosoph Odo Marquard eine Essaysammlung (2003) betitelte. Wer aber mit historischen Vergleichen und Parallelen scheinbar klare Zukunftsprognosen stellt und gleichsam die Zukunft aus der Vergangenheit konstruiert, ist verhaftet im Historizismus des 19. Jahrhunderts und unterliegt der Illusion des zurückschauenden Determinismus.
Im Gegensatz dazu verstehen sich die nachfolgenden Gegenwartsbeschreibungen und Zukunftsdiagnosen als Versuch, gegenwärtige Entwicklungen, die heute im Fokus des öffentlichen und wissenschaftlichen Diskurses stehen, ins Zentrum zu rücken. Wir sind uns dabei bewusst, dass diese Zeitdiagnose zweiter Ordnung nicht die Zukunft voraussagt. Einiges wird in ein paar Jahren und Jahrzehnten so sein, vieles wird ganz anders kommen. Der Lauf der Welt ist kontingent, und daher hören wir auf bedeutende Stimmen, vor allem auch auf einander widersprechende.
Wenn heute die Gegenwart diskutiert und Zukunftsszenarien entworfen werden, dann stehen zwei Megathemen, die eng miteinander verflochten sind, im Zentrum: die Veränderung der Wirtschaft und mithin der Arbeitswelt und die Digitalisierung. Optimistinnen und Optimisten sehen den Kapitalismus mit dem Konzept Industrie 4.0 und dem Beginn eines neuen Kondratjew-Zyklus sowie mit der (digitalen) Vernetzung der Welt auf einer höheren Entwicklungsstufe zum Wohle der Menschheit. Theoretiker des Postkapitalismus hingegen prognostizieren das Ende des Kapitalismus und räsonieren über neue Wirtschaftsmodelle. Unsere hoch differenzierte Gesellschaft ist auf Kooperation angewiesen. Dennoch ist seit dem Aufkommen der Spieltheorie strittig, welche Kooperationsstrategien am erfolgreichsten sind – für das Individuum und für die Gesellschaft. Und bedeutet Kooperation in einer Gemeinschaft nicht gleichzeitig den Ausschluss anderer, herrscht letztlich immer noch Tribalismus? Neue Technologien, Digitalisierung und die Ökonomisierung des ganzen menschlichen Seins werfen auch Fragen zur Autonomie und Freiheit des Menschen auf. Wandelt sich die Disziplinargesellschaft zur Kontroll- und Transparenzgesellschaft? Inwiefern verändern sich unter diesen Einflüssen die Befindlichkeit und die moderne Seele? Wie gelingt in einer auf fortgesetzte Steigerung angelegten Gesellschaft echte Weltbeziehung? Kann es heute und in Zukunft eine gerechte Welt und ein gutes Leben geben? Und nicht zuletzt – wie sieht die Zukunft des Lernens aus? All diese Punkte werden in Teil I des Buches beleuchtet.
2 Die Veränderung der Wirtschaft
2DIE VERÄNDERUNG DER WIRTSCHAFT
Die rasante Veränderung von Wirtschaft und Arbeitswelt basiert in erster Linie auf Technologisierung und Digitalisierung. Diesen Trend kann man zwar schon seit den 70er-Jahren des letzten Jahrhunderts beobachten, doch neu ist die Vernetzung der Produktionsprozesse, die auch zu neuen Formen in der Produktentwicklung führt sowie zu einer weitgehenden Selbststeuerung bei der Fertigung von Produkten. Diese Neuerungen wiederum erlauben eine auf individuelle Ansprüche ausgerichtete Gestaltung von Produkten.
2.1 Industrie 4.0 und Arbeit 4.0
2.1INDUSTRIE 4.0 UND ARBEIT 4.0
Eine intensive Debatte um einen entscheidenden Schritt bei der Veränderung von Produktion und Arbeit wird seit rund sieben Jahren in Deutschland unter dem Begriff Industrie 4.0 geführt. Sie wurde ausgelöst, als 2011 auf der ...