II Welche Faktoren bestimmten das Leben der Kriegsgefangenen?
Zwei Geschichten
Das Paket
Eisige Temperaturen lassen alles in einem sibirischen Kriegsgefangenenlager erstarren. Ein Gefangener in fadenscheinigem Soldatenmantel trottet mit zerschlissenen Filzschuhen über den vereisten Boden zur Lagerpost. Er zeigt seinen Postschein und erhält ein großes, beschädigtes Paket. Freudig erkennt er als Absender den Namen seiner Mutter. An der Packschnur trägt er das Paket vorsichtig in seine Baracke. Mit Spannung wartet er bis die Finger wieder beweglich sind und löst zitternd die Knoten der Schnur. Als er das Paket öffnet, sieht er zwischen Papieren nur einen zerrissenen, modrigen, russischen Schaftstiefel. Verzweifelt wühlt er weiter. Nichts! Jedes Papierstück faltet er auseinander. Endlich findet er eine leere, weiße Bäckertüte mit dem Firmenaufdruck aus seinem Heimatort. Er entdeckt darauf in einfacher Handschrift seinen Namen und ein paar Worte. Sie sind von einem Mädchen geschrieben worden, das dort bediente. Er erinnert sich, wie er mit ihr unzertrennlich Hand in Hand auf einer Bank hinter einer Hecke saß.
Als die leuchtenden Sterne am sibirischen Nachthimmel auftauchen, verlässt er seinen Platz auf der hölzernen Pritsche und geht nach draußen. Träumend wandert er dem Bretterzaun entlang, auf der Suche nach der Hecke mit der Bank. Er geht immer weiter, bis er erstarrt aus der sibirischen Nacht zurück in seinem Heimatdorf ist.
Am Morgen bringen die Kameraden den Erforenen in die Baracke. Beim Durchsuchen seines Mantels findet man die weiße Tüte und liest die von Mädchenhand geschriebenen Worte: „Ich bin immer bei Dir! Luise.“221
Ein prachtvoller Junge
Der österreichische Kriegsgefangene Josef hatte einige Jahre auf einem Hof gearbeitet, während der Bauer im Krieg war. Nun erfährt Josef von der bevorstehenden Rückkehr des Mannes, der zuhause auf einen zweijährigen Jungen treffen wird. Mit Hilfe des Lagerältesten gelingt es ihm, an eine andere Arbeitsstelle versetzt zu werden. Der von der Front zurückgekehrte Russe bedrängt den Lagerältesten, bis er von ihm den jetzigen Aufenthaltsort von Josef erfährt. Als er dort eintrifft, bleibt Josef nichts anderes übrig, als sich zu erkennen zu geben. Daraufhin wird er von dem Russen umarmt und auf beide Backen geküsst: „Wie soll ich Dir danken für alles, was Du in meiner Wirtschaft getan hast: die Schweine sind dick, die Kühe sind gesund, vier Kälber sind da und, weißt Du, der Junge ist prachtvoll.“222
Dimension der Zahlen
Präzise Zahlen über die Kriegsgefangenen und ihre Todesquote werden sich nicht mehr ermitteln lassen. Aber keiner der 1914 in den Ersten Weltkrieg eintretenden Staaten hatte mit solchen Gefangenenmassen bei dem erwarteten 'kurzen Krieg' gerechnet. Der Deutsche Generalstab ging 1894 davon aus, dass Deutschland bei einem zukünftigen Krieg nicht mehr Gefangene machen würde als 1870/71 gegen Frankreich, also etwa 200.000 bis 300.000. Es sollten 2,5 Millionen werden!223 Das russische, österreich-ungarische und deutsche Kaiserreich waren besonders am Beginn und am Ende des Krieges überfordert, für eine angemessene Ernährung, Bekleidung und Unterkunft zu sorgen. Die Mittelmächte litten unter der englischen 'Hungerblockade', was sich vor allem auch auf die Ernährungslage der Gefangenen aus Russland, Rumänien, Serbien oder Italien auswirkte, die kaum Unterstützung aus ihren Heimatländern erhielten.
Im 'Großen Krieg' blieben über acht Millionen Gefallene auf dem 'Feld der Ehre', etwa die gleiche Zahl an Soldaten verlor ihre Freiheit, die meisten von ihnen an der beweglicheren Ostfront. Russland erlitt mit 3,4 Millionen Gefangenen den größten Verlust, wobei fast drei Fünftel in österreich-ungarischen und zwei Fünftel in deutschen Lagern interniert wurden.224 Von den neun Millionen Mobilisierten des Vielvölkerstaats Österreich-Ungarn gerieten 2,1 Millionen in russische Gefangenschaft. Von ihnen waren etwas weniger als die Hälfte Slawen und jeweils knapp ein Viertel Deutschösterreicher oder Magyaren (Ungarn).225
Von den knapp eine Million Deutschen, die überwiegend an der
Westfront erst gegen Ende des Krieges gefangen wurden, erlitten 168.000 die besonders harte und lange Internierung in Russland. Dort stellten die Soldaten des Habsburger Reiches mit 90 Prozent der Gefangenen den überwältigenden Anteil dar, während die Deutschen mit sieben Prozent und die Türken und wenigen Bulgaren mit drei Prozent beteiligt waren.226
Den Sonderstatus als bevorzugte Offiziere und Offiziersanwärter besaßen 2.082 Reichsdeutsche und sogar 54.146 (!) Soldaten der Donaumonarchie.227
Der Historiker Georg Wurzer wertete die erhaltene Gefangenendatei des Württembergischen Kriegsministeriums aus. Von den in Russland gefangenen 1.827 Soldaten des XIII. Armeekorps gerieten 22 Prozent im Dezember 1914, 62 Prozent während der Brussilow-Offensive in den Monaten Juli bis September 1916 in Gefangenschaft. Jeder Vierte war bei der Gefangennahme verwundet, etwa die Hälfte hatte ein Alter von 20 bis 23 Jahren, ein Viertel von 24 bis 27 Jahren.228
Wie viele Plennys überlebten in Russland? Der Historiker Reinhard Nachtigal hat sich auch mit der Quantifizierungsproblematik beschäftigt. Er geht davon aus, dass sich trotz der Gesamtzahl von 2,4 Millionen Gefangenen weniger als zwei Millionen gleichzeitig dort aufhielten, da alleine bis 1916 etwa 300.000 Seuchentote zu beklagen waren.229 Die von Elsa Brändström genannten 600.000 Toten reduziert er um die Vermissten bzw. Zurückgebliebenen. Denn Tausende von Internationalisten zogen es vor, in Sowjetrussland zu bleiben und die politische Entwicklung in ihren Heimatländern abzuwarten. Andere hatten dort eine Familie oder eine berufliche Existenz gegründet. Gerade Slawen fiel die Integration in den Vielvölkerstaat leicht. Einigen Plennys gelang die Flucht in Nachbarstaaten. Bei geschätzten 400.000 bis 470.000 Toten lag die Gesamtsterbequote aller Gefangenen bei 18 bis 20 Prozent.230 Dass die Sterberate bei den Reichsdeutschen mit etwa 14 Prozent geringer war, verdankten sie dem effektiven Einsatz des SRK bis 1920 und den umfangreichen Lieferungen von Liebesgaben aus Deutschland.
Auch wenn Reinhard Nachtigal die in einer Studie angegebene Sterberate von 5,1 Prozent bei den russischen Kriegsgefangenen als etwas zu tief ansieht, waren die Überlebenschancen in Deutschland trotz der herrschenden Unterversorgung deutlich besser.231 Es wird dadurch erklärbar, dass die Mehrheit der Russen schon ab 1915 nicht mehr in den Lagern lebte, sondern als bereitwillige Arbeitskräfte vor allem in der Landwirtschaft beschäftigt war. 232
Ab Beginn des Krieges dauerte es fast acht Jahre, bis die letzten deutschen, österreich-ungarischen und russischen Gefangenen 1921/22 in die Heimat zurückkehren konnten.
In dem mit noch größerer Brutalität geführten Zweiten Weltkrieg waren die Todesraten der Kriegsgefangenen noch höher. Von den in deutscher Hand befindlichen sowjetischen Kriegsgefangenen starben 3.300.000 Soldaten. Die Mortalitätsrate lag mit 58 Prozent mehr als zehnmal so hoch wie im Ersten Weltkrieg.
Von den 3,2 Millionen deutschen Gefangenen in russischen Lagern starben etwa 1,1 Millionen Soldaten, die Mortalitätsrate lag bei 35 Prozent, also mehr als doppelt so hoch wie im Ersten Weltkrieg.233
Hinter all den abstrakten Zahlen standen Menschenschicksale!