1 Was ist der Unterschied
zwischen Wissenschaft
und Glaube?
Evolutionäre Erkenntnis
In der heutigen Zeit der Fake News und Verschwörungserzählungen ist es zentral, den Unterschied zwischen Wissenschaft und Glaube zu diskutieren. Diese beiden Gegensätze stehen schon seit der Antike in einem Spannungsfeld.
Neue Erkenntnisse in der Wissenschaft erschüttern regelmäßig die herrschenden Weltbilder und stellen das Selbstverständnis der Menschen infrage. Der Psychologe Sigmund Freud sprach in diesem Zusammenhang von drei zentralen Kränkungen der Menschheit. Die erste war die Feststellung von Nikolaus Kopernikus, dass die Erde nicht das Zentrum des Weltalls ist. Die zweite erfolgte durch die Evolutionstheorie von Charles Darwin, welche nichts Geringeres sagt, als dass der Mensch nicht die Krone der Schöpfung ist, sondern von den Tieren abstammt. Die dritte Kränkung besteht in Freuds psychoanalytischer Erkenntnis, dass der Mensch keinen vollen freien Willen besitzt, sondern stark vom Unbewussten getrieben ist.
Auch die Relativitätstheorie und die Quantenphysik führten zu großen Neuorientierungen in den Wissenschaften. Der Forschungsprozess ist ein evolutionärer Vorgang: Anhand von Theorien entstehen Modelle der Welt, die durch neue Erkenntnisse erweitert und immer wieder grundlegend verändert werden. Zum Beispiel war man sich in der Antike einig, dass die Erde die Form einer Scheibe habe. Später ging die Wissenschaft davon aus, dass die Erde zwar eine Kugel sei, aber trotzdem das Zentrum der Welt bilde. Der nächste Schritt war die Feststellung, dass die Erde um die Sonne kreist. In der Wissenschaft bestehen immer Lücken, die nach neuen Erkenntnissen verlangen. Weil wir die Welt nicht von außen, sondern von innen her beobachten, können wir nie objektiv urteilen. Die Erkenntnisse der Quantenphysik weisen sogar darauf hin, dass womöglich gar keine objektive Realität existiert.
Da die Wissenschaft nie die ganze Welt restlos erklären kann, springt an manchen Orten der Glaube ein. Die Grenzziehung zwischen Wissenschaft und Glaube ist ein zentraler Diskussionspunkt in der Wissenschaftstheorie, die einen Teilbereich der Philosophie bildet. Die Theorien des Philosophen Karl Popper und des Mathematikers Thomas Bayes sind diesbezüglich von großer Bedeutung. Diese möchte ich nun genauer betrachten.
Karl Popper entwickelte in seinen Werken den Falsifikationismus.1 Dieser schlägt vor, dass wissenschaftliche Erkenntnisse zwar durch Tests überprüfbar sein sollen, aber trotzdem nie zu 100 Prozent bewiesen werden können. Theorien müssen immer die Möglichkeit bieten, durch neue Experimente widerlegbar zu sein. Das Gravitationsgesetz von Isaac Newton ist hierfür ein gutes Beispiel: Es erklärt mit dem Begriff der Schwerkraft, warum Gegenstände, die man loslässt, immer auf die Erde fallen. Falls es jedoch eines Tages eine Versuchsanordnung gäbe, in welcher ein freies Objekt ohne äußere Einflüsse in der Luft schweben würde, wäre Newton widerlegt. Ein anderes Beispiel ist die Evolutionstheorie: Bis jetzt stimmen alle Fossilienfunde mit den wissenschaftlichen Erklärungen überein. Falls jedoch eines Tages menschliche Überreste und Dinosaurierknochen in derselben Gesteinsschicht entdeckt würden, dann wäre die Erkenntnis, dass die Dinosaurier lange vor uns gelebt hatten, widerlegt.
Verschiedene Wissenschaftsphilosophen, beispielsweise Thomas Kuhn, diskutierten die Theorien Poppers kritisch und änderten oder erweiterten sie entsprechend.2 Kuhn sieht die Forschung immer im Rahmen eines temporär gültigen Paradigmas, welches sich jedoch langfristig durch wissenschaftliche Revolutionen verändern kann.
Ein weiteres wichtiges Merkmal wissenschaftlicher Arbeit ist die Berücksichtigung der wahrscheinlichkeitstheoretischen Erkenntnisse von Thomas Bayes.3 Er beschäftigte sich mit der Ermittlung von Wahrscheinlichkeiten, wenn ein bestimmtes Vorwissen bereits vorhanden ist. Bayes’ Kernaussage ist: Die Wahrscheinlichkeit einer Aussage A erhöht sich unter der Bedingung, dass eine zweite Aussage B als bekannt und wahr eingestuft werden kann. Folgendes Beispiel verdeutlicht die dahinterstehende Überlegung: „Tom ist ein scheuer Student. Studiert er Mathematik oder Wirtschaft?“ Die meisten Menschen tippen auf Mathematik, weil Wirtschaftsstudierende in der Regel geselliger sind als mathematisch begabte Menschen. Aber mit wissenschaftlichen Methoden müsste man berücksichtigen, dass zehnmal mehr Menschen Wirtschaft studieren als Mathematik. Die Wahrscheinlichkeit, dass Tom Wirtschaft studiert, ist unter dem Strich größer!
Früher wandten Wissenschaftler gerne die Methode der Induktion an. Auf der Basis einer Beobachtung von Einzelfällen erfolgte der Schluss auf ein allgemeingültiges Gesetz. Die Induktion ist heute jedoch sehr umstritten; der Philosoph David Hume war einer ihrer ersten Kritiker. Ich möchte die Problematik anhand eines einfachen Beispiels verdeutlichen: Ein Truthahn erhält am ersten Tag seines Lebens Futter von einem Bauern, am folgenden Tag bekommt er wieder seine Nahrung. Dies könnte ein induktiver Beweis dafür sein, dass der Truthahn jeden Tag gefüttert wird. Aber eines Tages erscheint der Bauer nicht mit dem vollen Fressnapf, sondern mit dem Messer, um ihn zu schlachten.
Wissenschaft hinterfragt sich stetig selbst. Fehler dürfen gemacht werden. Wissenschaftler tragen verschiedene Aussagen und Theorien zusammen, diskutieren sie und verknüpfen sie zu Modellen. Erkenntnisse basieren immer auf verschiedenen Pfeilern, sie werden evolutionär und mit viel Neugier laufend erweitert und verändert. Dieser Vorgang verläuft kollaborativ und mündet in einem globalen Konsens unter Forschern. Im Gegensatz dazu stellt ein Glaube alleinstehende Behauptungen auf, welche nicht widerlegbar sind und zeitlos gültig sein sollen. Es gibt viele verschiedene Glaubenssysteme, die sich gegenseitig widersprechen, wie zum Beispiel Religionen.
Auch wenn die Wissenschaftstheorie keine eindeutige Grenze ziehen kann, so ist es trotzdem meistens möglich, den Unterschied zwischen wissenschaftlichen Fakten und glaubensbasierten Meinungen zu sehen. George Orwell zeigt diesen Unterschied in seiner Dystopie „1984“ sehr anschaulich auf: Obwohl 2 + 2 = 4 ein wissenschaftlicher Fakt ist, kann Big Brother die Menschen dazu bringen, an 2 + 2 = 5 zu glauben. Ich kann weitere Beispiele präsentieren: Astronomie und Chemie sind Wissenschaften, während Astrologie und Alchemie auf Glauben basieren. Die Aussage, dass es sich bei CO2 um ein Treibhausgas handelt, ist ein Fakt. Die Forderung, Abgaben auf den CO2-Ausstoß zu erheben, ist hingegen eine Meinung.
Plausibilität von Studien und Statistiken
In Studien werden Statistiken häufig an den eigenen Nutzen angepasst. Der englische Premierminister Winston Churchill sagte einst, dass er nur der Statistik vertraue, die er selbst gefälscht habe. Manchmal bekämpft die privatwirtschaftliche PR-Maschinerie Wissenschaft mit „Wissenschaft“: Einzelne Wissenschaftler erhalten Geld dafür, dass sie unabhängige Wissenschaftler diffamieren, welche wirtschaftsfeindliche Publikationen veröffentlichen. Ein gutes Beispiel hierfür sind bezahlte Stellungnahmen zum Thema „globale Erwärmung“: Leugner des menschengemachten Klimawandels „kaufen“ sich einzelne Wissenschaftler, die die gesamte Forschung mit großen Schlagzeilen in Frage stellen (siehe Kap. 44). Auch Coca-Cola ging auf diese Weise vor, als es darum ging, Veröffentlichungen über die Schädlichkeit des Zuckers ins Lächerliche zu ziehen.4 Die Tabakindustrie wiederum gab jahrelang eigene Studien in Auftrag, die die Unschädlichkeit des Rauchens beweisen sollen.5
In verschiedensten Publikationen dienen Statistiken zur Untermauerung der eigenen Ideologie. Der Autor Hans Rosling, der sich angeblich nur auf Fakten bezieht, liefert unfreiwillig selbst ein gutes Beispiel dafür. Als zentrales Element für seine optimistische Interpretation der Weltsituation verwendet er in seinem Buch „Factfulness“ und auf der Plattform gapminder.org eine grafische Darstellung der globalen Einkommensverteilung: Auf der Y-Achse wird die Zahl der Menschen dargestellt, auf der X-Achse das tägliche Einkommen. Ich habe seine Vorgehensweise etwas näher unter die Lupe genommen: Rosling verwendet auf der X-Achse eine logarithmische Skala, sodass eine Glockenkurve entsteht (siehe Abbildung 1 links).6 Jeder Schritt nach rechts auf der X-Achse bedeutet eine Multiplikation um den Faktor 5. Anhand dieser Darstellung folgert er, dass die meisten Menschen im Mittelmaß leben und nur wenige Menschen in Armut oder Reichtum. Er betrachtet dieses Diagramm als Beweis für seine These, dass es keine Kluft zwischen Arm und Reich gäbe und somit die heute vorherrschende neoliberale Politik für die ganze Welt nur von Vorteil sei.
ABBILDUNG 1 Globale Einkommensverteilung. Links mit einer logarithmischen Skala auf der X-Achse, rechts mit einer linearen Skala.
Verwendet man jedoch auf der X-Achse eine lineare Skala, so sieht die Kurve ganz anders aus (siehe Abbildung 1 rechts).7 Hier bedeutet jeder Schritt eine Addition um 100. Die zweite Darstellung zeigt deutlich, dass sich die meisten Menschen in Armut befinden, während nur wenige im Mittelmaß und sehr wenige im Reichtum leben. Diese Kurve lässt einen großen Unterschied zwischen Arm und Reich erkennen: Sie entspricht der Tatsache, dass 90 Prozent der Menschen wenig verdienen, während die reichsten 10 Prozent mittlere bis sehr große Einkommen erwirtschaften (siehe Kap. 46). Dieses Beispiel demonstriert, wie derselbe Datensatz mit verschiedenen Darstellungen völlig unterschiedlich interpretiert werden kann.
Die niederländische Datenkorrespondentin Sanne Blauw bietet mit dem Buch „The Number Bias“ eine gute Einführung in das Reich der Zahlen. Sie zeigt, dass mit Hilfe von Statistiken Korrelationen, also Zusammenhänge, erkannt werden können, deren Interpretation jedoch schwierig ist. Während des Ersten Weltkriegs führten Wissenschaftler im Rahmen einer Studie IQ-Tests (Intelligenzquotient) bei amerikanischen Soldaten durch. Das Ergebnis der Tests lag im Durchschnitt bei Afroamerikanern tiefer als bei Weißen. Die Intelligenz korrelierte mit der Hautfarbe. Dies muss kritisch betrachtet werden. Unter anderem stellen sich folgende Fragen: Haben alle Teilnehmer dieselben Bedingungen erhalten? In welche Kategorie wurden Mischlinge eingeteilt? Die Kausalität, also der Grund für diese Korrelation, ist noch viel schwieriger zu erklären.8 Rassisten sahen in ...