Im Namen des Volkes? Erwartungen und Enttäuschungen im Gerichtsverfahren
Wiebke Ramm
Übrig blieb Enttäuschung, auch Wut. Am Ende fühlten sich die Opfer des »Nationalsozialistischen Untergrunds« (NSU) und ihre Familien ein weiteres Mal im Stich gelassen. Das lag nicht daran, welches Urteil der Staatsschutzsenat des Oberlandesgerichts München über Beate Zschäpe fällte. Es lag auch nicht nur daran, welches Urteil der Senat für die Mitangeklagten fand. Es lag vor allem daran, wie der Senat das Urteil verkündete. Welche Worte der Vorsitzende Richter sagte. Und welche Worte er nicht sagte.
Der Senat verurteilte Zschäpe am 11. Juli 2018 als Rechtsterroristin wegen Mittäterschaft an zehn Morden, zwei Bombenanschlägen, 15 Raubüberfällen und weiterer Straftaten zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe. Die Richterinnen und Richter stellten auch die besondere Schwere ihrer Schuld fest. Zwei Mitangeklagte wurden wegen Beihilfe zum Mord in neun Fällen verurteilt, zwei weitere wegen Unterstützung einer terroristischen Vereinigung.
Rund viereinhalb Stunden dauerte die Urteilsverkündung. Der Vorsitzende Richter Manfred Götzl schilderte den Werdegang Zschäpes zur rechtsextremen Terroristin, angefangen im Jahr 1991, als sie Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt kennengelernt hatte. Er umriss 20 Jahre ihres Lebens, eines Lebens, das geprägt war von rassistischem und antisemitischem Hass. Er nannte die Feststellungen des Gerichts zu jedem einzelnen Mord, jedem Bombenanschlag, jedem Raubüberfall. Er sagte auch, wer dem NSU nach Überzeugung des Senats wann wodurch geholfen hatte. Etwa durch Wohnungsvermittlung, durch Ausweisdokumente, durch Waffen- und Sprengstofflieferungen. Das alles sagte der Senatsvorsitzende. Bemerkenswert ist, wie er es sagte und was er nicht sagte.
Der Vorsitzende Richter las das Urteil vom Blatt ab. Er richtete das Wort weder an die Angeklagte und Angeklagten noch an die Nebenklägerinnen und Nebenkläger. Als wären die Familien der Ermordeten, die Opfer der Bombenanschläge, auch die Angeklagten gar nicht im Saal. Götzl verlor kein Wort über das Versagen der Ermittlungsbehörden und des Verfassungsschutzes. Als wäre die unheimliche Nähe des Verfassungsschutzes zum NSU nicht wochen-, eher monatelang Thema im Prozess gewesen. Er sagte nichts zur Qual der Nebenklägerinnen und Nebenkläger. Als hätte es den jahrelangen, zum Teil jahrzehntelangen falschen Verdacht gegen die Opfer nie gegeben.
Er erklärte auch nicht, was ein Strafprozess leisten kann und was nicht. Die Erschütterung der Gesellschaft durch den NSU erwähnte er mit keinem Wort. Als müsste der Anschein unbedingt vermieden werden, der NSU-Prozess wäre etwas anderes als ein ganz gewöhnlicher Strafprozess. Doch war er das? War es bloß ein ganz gewöhnlicher Prozess?
Albtraum vor Gericht
Fünf Jahre und zwei Monate dauerte der NSU-Prozess. An 438 Tagen wurde verhandelt. Auf der Anklagebank saßen fünf Angeklagte mit ihren 14 Verteidigerinnen und Verteidigern. 94 Nebenklägerinnen und Nebenkläger und 59 Nebenklagevertreterinnen und -vertreter nahmen an dem Prozess teil. Es ging um zehn Morde, 39 Mordversuche, 15 Raubüberfalle, zwei Bombenanschläge, eine rechtsterroristische Vereinigung und um einen Tatzeitraum von fast 14 Jahren. Es ging um Beihilfe und Mittäterschaft, um Gründung, Mitgliedschaft und Unterstützung einer mordenden Neonazi-Vereinigung.
Es gab die Beweisaufnahme, Plädoyers, das Urteil. Es gab Beweisanträge, Ablehnungsgesuche, Gutachten, Verfügungen und Beschlüsse, wie es sie auch in anderen Hauptverhandlungen gibt. Selbst Demonstrationen vor dem Gerichtsgebäude sind keine Besonderheit des NSU-Prozesses.
So gesehen war der NSU-Prozess ein ganz gewöhnlicher Prozess. Ein Prozess wie viele andere Mordprozesse, Brandstiftungsprozesse, Bankraubprozesse, Terrorismusprozesse. Wenn auch alles zugleich. Das, was den NSU-Prozess besonders machte, war nicht die Vielzahl der Tatvorwürfe. Es war nicht die Vielzahl der Prozessbeteiligten oder die Dauer der Hauptverhandlung. Das, was diesen Prozess besonders machte, war die Verunsicherung, die der NSU-Komplex in der Gesellschaft ausgelöst hat.
Wenn Neonazis mehr als ein Jahrzehnt lang unentdeckt mordend, raubend und Bomben legend durch Deutschland ziehen können, dann ist das beunruhigend. Wenn nach und nach herauskommt, dass V-Leute gleich mehrerer Verfassungsschutzämter Kontakt, zum Teil engen Kontakt zu ihnen hatten, dann steigert das die Verunsicherung noch. Wenn dann auch noch bekannt wird, dass ein Mitarbeiter des hessischen Verfassungsschutzes während eines Mordes am Tatort war, dann ist kaum verwunderlich, dass nicht nur bei den Familien der Mordopfer das Vertrauen in den Staat massiv gelitten hat.
Der NSU wollte die Gesellschaft erschüttern. Er wollte Angst und Schrecken unter Einwandererfamilien verbreiten. Die bittere Wahrheit ist: Es ist ihm gelungen. Durch Unterstützung der Sicherheitsbehörden und auch der Medien. Nicht die Ermittlungsbehörden, nicht der Verfassungsschutz haben den NSU gestoppt. Erst der Tod von Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos offenbarte den rassistischen Hintergrund der Anschlagsserie. Erst durch den Tod der beiden Terroristen hat die Welt von der Existenz des NSU erfahren.
Fast 14 Jahre lang hatte Beate Zschäpe mit Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt im Untergrund gelebt. Wenige Stunden nach dem Suizid ihrer Lebensgefährten am 4. November 2011 steckte sie ihr letztes Versteck in der Zwickauer Frühlingsstraße in Brand. Sie vollendete ihr gemeinsames Werk, indem sie das Bekennervideo des NSU, den sogenannten Paulchen-Panther-Film, verbreitete. Sie schickte die zynische, menschenverachtende Dokumentation ihrer Morde und Bombenanschläge an ein Dutzend Medien, an jüdische und islamische Einrichtungen. Wenige Tage später stellte sie sich Polizei.
Der Staat hat bei der Aufklärung versagt. Die Journalisten und Journalistinnen waren kaum besser, wie der unsägliche Begriff »Döner-Morde« in beschämender Deutlichkeit offenbart, unter dem bis zur Selbstenttarnung des NSU über die Terrorserie berichtet wurde (siehe den Beitrag von Schultz). Der NSU mordete, die Sicherheitsbehörden machten aus Opfern Täter und die Medien verbreiteten die falschen Verdächtigungen noch.
In welchem Albtraum sich die Familien über Jahre befanden, schilderte Abdul Kerim Şimşek, der Sohn des ersten Mordopfers, vor Gericht. Abdul Kerim Şimşek war 13 Jahre alt, als der NSU seinem Vater, Enver Şimşek, im September 2000 an seinem Blumenstand in Nürnberg mehrfach in den Kopf schoss. Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos fotografierten seinen sterbenden Vater noch. Eines dieser Fotos verwendeten sie für ihren Bekennerfilm.
Vor Gericht berichtete der Sohn, was die elf Jahre Ungewissheit bis zur Selbstenttarnung des NSU für ihn und seine Familie bedeuteten (siehe den Beitrag von Şimşek). Er versuchte, die Fassung zu bewahren, während er sprach. Doch irgendwann konnte er die Tränen nicht mehr zurückhalten.
Enver Şimşek lag zwei Stunden lang hilflos in seinem Blut, bis er gefunden wurde. Er starb zwei Tage später im Krankenhaus. Erst elf Jahre später erfuhr die Familie, dass es Neonazis waren, die Enver Şimşek ermordet haben. Die Polizei hatte die Täter in all den Jahren nicht in der rechten Szene gesucht, sondern in der Familie und ihrem Umfeld.
Über Monate wurden die Familie abgehört. Der Witwe wurde das Foto einer blonden Frau vorgelegt. Die Polizisten behaupteten, es sei die Geliebte ihres Mannes. Es war eine Lüge. Die Ermittler wollten Adile Şimşek aus der Reserve locken, in der Hoffnung, sie würde Wissen offenbaren, das zu den Mördern führte. Doch Adile Şimşek hatte gar kein Wissen, das sie hätte offenbaren können. Nachbarn, Freunde und Verwandte bekamen die Befragungen und Durchsuchungen mit. Der Verdacht der Polizei säte Zweifel im Umfeld der Familie. Abdul Kerim Şimşek erzählte vor Gericht, wie seine Mutter, seine Schwester und er sich immer mehr zurückzogen.
Dann kam der November 2011. Die Welt erfuhr von der Existenz und den Taten des NSU.
Abdul Kerim Şimşek berichtete, wie erleichtert er war, als endlich die Unschuld seines Vaters feststand und klar war, dass Neonazis die Täter sind.
Schweigen und Abstreiten
Beate Zschäpe hat sich geweigert, die Fragen der Opfer, ihrer Familien und ihrer Anwältinnen und Anwälte zu beantworten. Der Sohn von Enver Şimşek stellte ihr trotzdem die Fragen, die ihn am meisten quälen. Weinend rief er ihr zu: »Warum mein Vater? Wie krank ist es, einen Menschen nur aufgrund seiner Herkunft oder Hautfarbe mit acht Schüssen zu töten? Was hat mein Vater Ihnen getan? Können Sie überhaupt verstehen, was es für uns heißt, dass er nur deswegen ermordet wurde, weil er Türke ist? Können Sie verstehen, was es für uns heißt, im Bekennervideo den Vater blutend auf dem Boden zu sehen und zu wissen, dass er dort stundenlang hilflos lag?« (Ramelsberger u. a. 2018, S. 1653).
Für die Opfer von Straftaten, für die Angehörigen von Getöteten ist das Schweigen von Angeklagten oft schwer zu ertragen. Sie wollen, dass die Täter Verantwortung für ihr Handeln übernehmen. Sie wollen, dass sie reden. Und sie leiden darunter, wenn sie keine Antworten bekommen. Immer mehr Verteidigerinnen und Verteidiger lassen ihre Mandanten jedoch auch dann noch schweigen, wenn sie – juristisch gesehen – ihr Schweigen brechen. So war es auch bei Zschäpe.
Zweieinhalb Jahre lang hatte Zschäpe vor Gericht geschwiegen. Erst im dritten Jahr des Prozesses, im Dezember 2015, verlas ihr neuer Verteidiger in ihrem Namen eine Aussage. Zschäpe ließ mitteilen, dass Mundlos und Böhnhardt alle Verbrechen begangen haben, die dem NSU zugeordnet werden. Sie selbst habe mit den Morden und Anschlägen nichts zu tun. Sie sei weder an der Vorbereitung noch an der Durchführung beteiligt gewesen. Von den Morden will sie immer erst hinterher erfahren haben. Sie will jedes Mal furchtbar entsetzt gewesen sein. Nach dem ersten Mord. Nach dem zweiten Mord. Nach dem dritten, vierten, fünften und jedem weiteren Mord. Irgendwann will sie resigniert und sich mehr und mehr dem Alkohol hingegeben haben. Zschäpe stellte sich als schwache, weitgehend unpolitische Frau dar, finanziell und emotional abhängig von den Männern.
Nicht nur den Gerichtspsychiater Henning Saß überzeugte ihre Darstellung nicht. Zschäpe hatte sich geweigert, mit ihm zu sprechen. Sein Gutachten erstellte er anhand der Aktenlage und seiner Beobachtungen im Prozess. Saß kam zu dem Ergebnis, dass Zschäpes Persönlichkeit dissoziale Tendenzen aufweist, sie zu dominantem und manipulativem Verhalten neigt, egozentrisch und wenig empathisch ist. Die von ihr behauptete Schwäche und Abhängigkeit stehe im Widerspruch zu Zeugenschilderungen und seinen eigenen Beobachtungen in der Hauptverhandlung, stellte er fest. Zschäpe sei voll schuldfähig und weiterhin gefährlich.
Zschäpes neues Verteidigerduo reagierte mit einem Gegengutachten. Es engagierte einen Psychiater, von dem sie sich explorieren ließ. Dieser Gutachter schien ihr jedes Wort zu glauben. Er attestierte ihr eine schwere »dependente« Persönlichkeitsstörung, also eine krankhafte Abhängigkeitsstörung, und verminderte Schuldfähigkeit. Zschäpe wurde als Opfer dargestellt.
Für die Überlebenden der Anschläge und die Familien der Getöteten war Zschäpes Einlassung eine Zumutung. Antworten auf ihre Fragen bekamen sie von ihr nicht: Wie und warum sind die Mörder auf ihren Vater, ihren Bruder, ihren Sohn gekommen? Wer hat von den Morden gewusst? Gehörten wirklich nur Zschäpe, Mundlos und Böhnhardt zum NSU?
Die Familien der Ermordeten und die Opfer der Anschläge sind davon überzeugt, dass Mundlos, Böhnhardt und vielleicht auch Zschäpe ihre Opfer nicht allein ausgespäht haben. Manche Tatorte liegen zu abseits, als dass Ortsunkundige sie gekannt haben können, meinen sie. Sie gehen von lokalen Mitwissern aus, die noch heute frei herumlaufen. Und sie werfen den Behörden vor, sich vorschnell festgelegt zu haben, dass der NSU nur aus drei Mitgliedern bestand.
Fünf Jahre nach der Selbstenttarnung des NSU und dreieinhalb Jahre nach Beginn des Prozesses vor dem Oberlandesgericht München wurde Gamze Kubaşık von der Süddeutschen Zeitung gefragt, welche Fragen ihrer Ansicht nach noch dringend geklärt werden müssen. Gamze Kubaşık ist die Tochter von Mehmet Kubaşık, der 2006 in seinem Kiosk in Dortmund ermordet wurde.
Die Antwort seiner Tochter lautete: »Die dringendste Frage für mich ist: Wer war an den Morden noch beteiligt? Wer hat denen geholfen? Ich gehe davon aus, dass viele Mitwisser und Helfer noch frei herumlaufen. Das kann ich schwer ertragen. Auch interessiert mich natürlich, wer alles vom Verfassungsschutz schon vor November 2011 Bescheid wusste und warum niemand von denen die Morde verhindert hat.« (Ramelsberger/Ramm 2016) Sie sagte auch: »Ich wusste, dass der Prozess lange dauern wird, hatte aber große Hoffnungen und habe darauf vertraut, dass die Aufklärungsversprechen, die ich von so vielen Verantwortlichen bekommen hatte, eingehalten werden. In dieser Hoffnung wurde ich nun nach über drei Jahren Prozess enttäuscht.« Ihre Enttäuschung hat mit den Grenzen dessen zu tun, was ein Strafprozess leisten kann.
Das Gericht hat die Aufgabe zu klären: Treffen die Anklagevorwürfe zu? Sind die Angeklagten die Täter? Und wenn sie die Täter sind, wie schwer wiegt ihre Schuld? Die Nebenklägerinnen und Nebenkläger wollen aber viel mehr. Sie wollen umfassende Aufklärung. Und sie verdienen es, dass ein Gericht ihnen erklärt, warum es ihre Erwartungen nicht erfüllen kann.
Emotionen im Gerichtssaal
Die Familien von Getöteten, die Betroffenen von Straftaten gehören zur Prozessrealität wie die Angeklagten, die Verteidigung und die Staats- oder Bundesanwaltschaft. Da sie ihre Emotionen, ihre Trauer und Verzweiflung nicht vor der Saaltür ablegen können, wird ein Gericht zwangsläufig mit ihren Gefühlen konfrontiert.
Dem Senatsvorsitzenden im NSU-Prozess schien der Umgang mit den Emotionen der Nebenklägerinnen und Nebenkläger schwerzufallen. Wenn Götzl ihre aufwallenden Gefühle nicht ignorieren konnte, unterbrach er im besten Fall die Verhandlung für eine kurze Pause, im schlechtesten Fall reagierte er aufbrausend.
Mitte Juli 2013 sagte zum ersten Mal eine Angehörige eines Mordopfers im NSU-Prozess als Zeugin aus. Die Witwe von Habil Kılıç betrat den Gerichtssaal und nahm am Zeugentisch Platz. Ihr Anwalt setzte sich nicht neben sie. Er blieb zwischen all den anderen Nebenklagevertretern sitzen, nicht einmal in Sichtweite seiner Mandantin. Pinar Kılıç wirkte von der Situation überfordert. Der Vorsitzende Richter fragte sie, was ihr Mann für ein Mensch gewesen ist. Pinar Kılıç verstand nicht, was die Frage sollte. Sie wollte vor Gericht nicht über ihren Mann sprechen. Vielleicht lag es daran, was sie zehn Jahre lang durchgemacht hatte.
Habil Kılıç wurde im August 2001 in München in seinem Lebensmittelladen erschossen. Erst zehn Jahre später offenbarten sich die wahren Hintergründe des Mordes. Bis dahin hatten die Ermittler das Opfer zu Unrecht verdächtigt, in Drogengeschäfte verstrickt gewesen zu sein. Die Witwe wurde über die Jahre mehrfa...