1 Mitarbeitersicherheit ist Patientensicherheit!
Reinhard Strametz, Hannah Rösner
1.1 Das Second Victim Phänomen
1.1.1 Patientensicherheit ist Mitarbeitersicherheit
Sichere Patientenversorgung und Minimierung vermeidbarer Schäden sind Kernbestandteile der moralischen Grundwerte Behandelnder und erfordern hohen Anspruch an das eigene Handeln. Dennoch kommt es immer wieder zu unbeabsichtigten, vermeidbaren Fehlern, teilweise mit gravierenden Auswirkungen auf Patienten. Maßnahmen zur Gewährleistung der Patientensicherheit schützen jedoch nicht nur Patienten und deren Angehörige, sondern auch alle am und mit dem Patienten Arbeitenden in einer Gesundheitseinrichtung.
Das Personal einer Gesundheitseinrichtung muss zur Behandlung von Patienten unweigerlich Risiken eingehen und ein vermeidbarer Fehler kann erhebliche Folgen für alle Beteiligten haben: Kommt ein Patient bei einer Versorgung zu Schaden, spricht man von einem sogenannten ersten Opfer, also first victim der Behandlung. Darüber hinaus kann sich ein Schaden auch auf beteiligte Behandelnde und Organisationen negativ auswirken (
Abb. 1.1).
Abb. 1.1: Ebenen der Traumatisierung bei vermeidbaren Patientenschäden und unvorhergesehenen Zwischenfällen (© Prof. Dr. Reinhard Strametz, Hochschule RheinMain, mit freundlicher Genehmigung)
1.1.2 The Second Victim – Das zweite Opfer
Im Kontext der psychischen Belastung von Personal bei Fehlern in der Patientenversorgung führte Wu in einer Publikation im British Medical Journal im Jahr 2000 den Begriff des »Second Victims«, also des zweiten Opfers, ein (Wu 2000). Dieser bezeichnet in der mittlerweile erweiterten Definition übersetzt nach Scott und Kollegen (2009) »eine medizinische Fachperson, die durch einen unvorhergesehenen Zwischenfall am Patienten, einen medizinischen Fehler und/oder eine Verletzung des Patienten selbst zum Opfer wird, da sie durch dieses Ereignis traumatisiert wird«.
Dass eine Patientenschädigung gravierende Auswirkungen auf die Gesundheit und sogar das Leben von Behandelnden hat, zeigt exemplarisch der folgende Fall von Kim Hiatt, der leider keinen Einzelfall darstellt:
Beispiel
Kim Hiatt war Krankenschwester im Seattle Childrens Hospital und blickte auf eine tadellose 27-jährige Berufslaufbahn und eine hohe Reputation zurück, als ihr im September 2010 folgender Fehler unterlief: Bei der Behandlung eines intensivpflichtigen achtmonatigen Säuglings mit angeborenem Herzfehler verabreichte sie diesem aufgrund eines Rechenfehlers (mutmaßlich bedingt durch eine Ablenkung) statt 140 mg Calcium 1,4 g dieser Substanz, also die zehnfache Dosis. Sie meldete den Fehler noch am selben Tag gewissenhaft in das elektronische Meldesystem, bedauerte den Vorfall außerordentlich und versprach, künftig noch vorsichtiger in Zukunft zu sein. Das Kind starb jedoch 5 Tage nach diesem Fehler. Ob die Überdosierung mit Calcium in diesem kritischen Gesundheitszustand ursächlich für den Tod des Patienten war, bleibt fraglich. Ihr wurde jedoch nach einer Freistellung gekündigt und die zuständigen Aufsichtsbehörden verhängten eine Geldstrafe verbunden mit einer vierjährigen Auflage, bei künftigen pflegerischen Tätigkeiten jedwede Medikamentengabe nur noch unter Supervision durchzuführen. Dies verhinderte trotz ihrer Bemühungen um ein neues Beschäftigungsverhältnis ihre weitere Berufstätigkeit. Die Belastung durch ihren Fehler verbunden mit der darauffolgenden Bestrafung und die wiederum daraus verstärkte Isolation führten letztlich dazu, dass sich Kim Hiatt sieben Monate nach ihrem Fehler das Leben nahm. (übersetzt nach Grissinger 2014 und Saavedra 2015 aus Strametz 2019)
1.1.3 Einfluss von Fehlern auf das Wohlbefinden und die Arbeitsfähigkeit medizinischer Angehöriger
Neben diesem Fall mit katastrophalem Ausgang ist die Belastung von medizinischem Personal durch selbst begangene Fehler weit verbreitet. Während Seys und Kollegen (2012) in einer systematischen Übersichtsarbeit Inzidenzen von 10,3–43,3 % für Belastungssituationen in Form des Second Victim Phänomens bei medizinischem Personal fanden, gehen von Laue und Kollegen (2012) sogar davon aus, dass früher oder später jeder am Patienten dauerhaft Tätige unabhängig von seiner Berufsgruppe im Laufe seines Berufslebens mindestens einen solchen Fall erleben wird. Dafür spricht, dass in einer Befragung von West und Kollegen (2006) an 184 internistischen Weiterbildungsassistenten: Insgesamt gaben 14,3 % der Befragten eine Second Victim Traumatisierung in den letzten 3 Monaten an. Innerhalb des gesamten Studienzeitraums von 3 Jahren stieg die Inzidenz auf 34 % aller Antwortenden an. Die mit Instrumenten zur Messung der Lebensqualität und des Burnout-Risikos erhobenen Daten zeigen eine statistisch signifikante Risikozunahme für Burnout, Depression, Depersonalisierung, emotionale Erschöpfung und eine Zunahme an selbst wahrgenommenen Fehlern (West u. a. 2006). Auch in einer Befragung unter Anästhesisten von Gazoni und Kollegen (2012) gaben 84 % der antwortenden Ärzte an, einen unerwarteten Todesfall oder schweren Fehler erlebt zu haben.
Um sowohl die Patientensicherheit als auch die Mitarbeitersicherheit zu verbessern, bedarf es einer psychosozialen Unterstützung von Behandelnden und eines umfassenden Verständnisses des Second Victim Phänomens.
Im Rahmen des Projektes Second Victims im Deutschsprachigen Raum (SeViD) werden seit 2019 erstmals landesweit auch in Deutschland Inzidenz und Auswirkungen der Second Victim Traumatisierung unter Behandelnden untersucht (Strametz 2020). Im Rahmen der SeViD-I-Studie wurden über 550 Ärztinnen und Ärzte in Weiterbildung befragt, die Mitglied der Deutschen Gesellschaft für Innere Medizin (DGIM) sind. Es zeigte sich eine hohe, aber mit den internationalen Studien vergleichbare Gesamtprävalenz von über 50 %, obgleich das Second Victim Phänomen unter den Befragten weitgehend unbekannt war (Strametz u. a. 2021). 35 % der Befragten erlebten eine Second Victim Traumatisierung sogar innerhalb der letzten 12 Monate (
Abb. 1.2).
Ein besonders prägendes Schlüsselereignis zur Traumatisierung stellt hierbei ein unerwarteter Todesfall oder der Suizid eines Patienten dar. Bis zu 12 % der Antwortenden gaben an, sich bislang noch nicht vollständig von dem traumatisierenden Ereignis erholt zu haben oder länger als ein Jahr zur Erholung benötigt zu haben. Eine Interimanalyse der aktuell durchgeführten SeViD-II Studie an Pflegefachpersonen zeigt vergleichbare Werte für die Gesamtprävalenz und die Symptomlast unter den Befragten.
Abb. 1.2.: Gesamtprävalenz und Jahresinzidenz von Second Victim Traumatisierungen im Rahmen der SeViD-I Studie (übersetzt nach Strametz u. a. 2021)
Neben der individuellen Belastung der klinisch tätigen Person geben Vincent und Amalberti (2016) auch zu bedenken, dass eine Person, die als Second Victim traumatisiert ist, aufgrund reduzierter Aufmerksamkeit durch die Vereinnahmung des Ereignisses oder durch eine defensiv-ängstliche Haltung künftige Patienten schlechter behandeln könnte (defensive Medizin) und somit zum Risiko für künftige Patienten wird. Dafür spricht die Untersuchung von Waterman und Kollegen (2007), die an 2909 Ärztinnen und Ärzten in den USA und Kanada durchgeführt wurde: So gaben über 60 % der Befragten, denen ein schwerwiegender Fehler unterlaufen ist, eine gesteigerte Angst vor zukünftigen Fehlern an, häufig in Kombination mit den Verlust in das Vertrauen an die eigene Kompetenz und einer verminderten Zufriedenheit im Beruf. Die Angst vor Reputationsschädigung gaben selbst bei schwerwiegenden Fehlern hingegen weniger als 20 % der Befragten an.
Bemerkenswert an dieser Untersuchung ist neben der Bestätigung der hohen Inzidenz von Second Victims unter medizinischem Fachpersonal einerseits die Erkenntnis, dass die Angst vor Reputationsverlust vergleichsweise gering ausgeprägt ist, jedoch das Selbstvertrauen bei zwei Dritteln aller Befragten mit schwerem Fehler leidet. Andererseits bemerkenswert ist, dass die Symptome etwas weniger häufig, aber dennoch in relevantem Ausmaß bei Beinahe-Schäden (near misses) ohne weitere Folgen für den Patienten auftreten. Es ist daher für Führungskräfte, Risikomanager, aber auch jeden einzelnen Mitarbeiter wichtig, den Ablauf eines solchen Ereignisses und auch die Unterstützungsmöglichkeiten in einem solchen Fall zu kennen, um bei Bedarf darauf zurückgreifen oder entsprechende Unterstützung anbieten zu können. Es muss insbesondere anerkannt werden, dass nicht die Schwere des Patientenschadens eine Second Victim Traumatisierung auslösen kann, sondern auch kritische Ereignisse ohne Folgen, die daher auch möglicherweise dem Behandlungsteam verborgen bleiben.
1.1.4 Ablauf der Verarbeitung eines schwerwiegenden Ereignisses bei medizinischem Personal
Scott und Kollegen (2009) untersuchten mittels strukturierter Interviews mit 31 Second Victims verschiedener Berufsgruppen und unterschiedlicher Berufserfahrung den Ablauf einer solchen Traumatisierung bis hin zur Erholung davon. Sie kamen zu der Erkenntnis, dass unabhängig von Berufsgruppen oder Anzahl der Berufsjahre, die in Tabelle 1 dargestellten 6 Stadien durchlaufen werden. Die Stadien 1 bis 3 können individuell und ggf. parallel durchlaufen werden. Je nach Ausprägung der Traumatisierung und organisationaler Unterstützung wird im Stadium 6 ein Weg von drei möglichen Wegen eingeschlagen (
Tab. 1.1).
Tab. 1.1: Sechs Stadien des Ablaufs einer Traumatisierung als Second Victim (übersetzt nach Scott u. a. 2009 aus Strametz 2019)
StadiumCharakteristikaFragen des Second VictimsEmpfehlung für Organisationen
1.1.5 Mögliche Auswirkungen einer Second Victim Traumatisierung auf die Betroffenen
Zwar gibt es keine repräsentativen Zahlen zur Rate des medizinischen Fachpersonals, das nach einem schweren Zwischenfall den Arbeitsplatz verlässt, allerdings ist aus Untersuchungen wie der von Gazoni und Kollegen (2012) erkennbar, das mit 19 % ein relevanter Anteil der dort befragten Anästhesisten angab, sich bis zum jetzigen Zeitpunkt nicht vollständig von ihrem »Schlüsselfall« erholt zu haben und somit nach der Definition von Scott und Kollegen (2009) zu den »Überlebenden« zu gehören. Ebenso konnten Burlison und Kollegen (2016) einen klaren Zusammenhang zwischen der Second Victim Problematik und einem erhöhten Risiko für Ausscheiden aus klinischer Tätigkeit und Absentismus darlegen.
Sowohl das »Überleben« der Situation als auch das Verlassen des Arbeitsplatzes können mit einer Reihe dysfunktionaler Verarbeitungsmechanismen assoziiert sein, wie beispielsweise Alkohol- und Medikamentenabusus, Absicherungsverhalten, Angst, Isolierung und Depression bis hin zu einer posttraumatischen Belastungsstörung. Dies alles kann wie im oben geschilderten Fall schlimmstenfalls bis zum Suizid des Second Victims führen (Rassin u. a. 2005, Schlesinger 2013, van Gerven u. a. 2016).
Eine aktuelle systematische Übersichtsarbeit von Busch und Kollegen (2020) thematisiert mögliche Symptome von Second Victims auf der Basis von 18 relevanten Studien: Mehr als zwei Drittel der befragten Second Victims berichteten von beunruhigenden Erinnerungen, Angstgefühlen und Sorgen, Zorn sich selber gegenüber sowie Bedauern und Reue über das Geschehene. Mit einer Gesamtprävalenz von über 50 % werden Symptome wie Verzweiflung, An...