1 Soziale Integration und Inklusion im Elementarbereich
Verena, vier Jahre alt, ist ein Mädchen mit cerebraler Bewegungsstörung. Sie sitzt meist in einer speziellen Sitzschale. Sie trägt noch Windeln. Ihr Situationsverständnis ist unklar; sie kann nicht sprechen; ihre Befindlichkeit drückt sie durch Weinen, Quengeln, Lächeln und Lachen aus. Innerhalb der Gruppe ist sie von Anfang an akzeptiert. Einige Kinder fragen immer wieder, ob sie einmal laufen oder sprechen kann, andere thematisieren nie ihre Behinderung. Schon bald gehen einige Kinder mehr auf Verena zu; allerdings wird sie von den meisten Kindern kaum in gemeinsame Spiele einbezogen; sie brauchen dazu die Unterstützung der Erzieherin.
Christoph ist ein fünf Jahre alter Junge mit Down-Syndrom. Er hat bereits einen großen Wortschatz, ist witzig und schlagfertig, spielt gern Puzzle und Memory. In seiner motorischen Entwicklung ist er hinter Kindern seines Alters zurück. Christoph zieht sich im Verlauf eines Kindergartentages zeitweise zurück, döst oder spielt alleine. Er kann seine Bedürfnisse deutlich äußern und durchsetzen. Bei den anderen Kindern der Gruppe ist er beliebt. Wurde er früher meist von anderen Kindern zu einem Spiel aufgefordert oder darin einbezogen, initiiert er inzwischen auch selbst Tischspiele oder Rollenspiele. Dabei sucht er sich sowohl behinderte wie auch nicht behinderte Kinder aus Spielpartner aus.
Paul ist drei Jahre alt und hat eine schwere Hörbehinderung. Seit Beginn des zweiten Lebensjahres trägt er ein Cochlea-Implantat. Er versteht einfache Sätze, wenn sie klar artikuliert sind und die Umgebungsgeräusche ihn nicht zu sehr ablenken. Seine eigenen Äußerungen gleichen etwa einem zweijährigen Kind, sind aber für die anderen Kinder der Gruppe und die Erzieherin oft schwer verständlich. Paul beschäftigt sich neugierig mit vielen Spielsachen in der Gruppe, sucht aber von sich aus nur selten den Kontakt zu anderen Kindern. Manchmal wird er von ihnen zum Mitspielen aufgefordert. Besonders bei kleinen Rollenspielen kommt es aber oft zu Problemen, weil er nicht immer versteht, was die anderen sagen, und deshalb seine Rolle nicht ihrer Erwartung gemäß ausfüllen kann.
Jens ist von Geburt an blind. Er ist vier Jahre alt und seit einem Jahr in der Gruppe. Die Eingewöhnung hat sich recht schwierig gestaltet. Er hatte große Mühe, sich in der fremden Umgebung zurecht zu finden. Mittlerweile kennt er sich aber im Gruppenraum gut aus und bewegt sich sicher fort. Eine besondere Vorliebe hat er für Steckspiele und Formenkisten, mit denen er sich mit Ausdauer und großem Geschick beschäftigt. Die anderen Kinder der Gruppe sprechen ihn häufig an und versuchen, ihm Dinge zu erklären, die er nicht sehen kann. Ein Spiel miteinander gelingt aber selten; am ehesten bei musikalischen Aktivitäten, denn Jens kennt viele Lieder auswendig und hat ein gutes Rhythmusgefühl, so dass er sich mit Klanginstrumenten beteiligen kann.
1.1 Integrationsbegriffe und ihre Relevanz für die Praxis
Die Kinder, die in diesen Beispielen vorgestellt wurden, besuchen integrative Kindergärten. Das ist bis heute nicht für alle Kinder mit Behinderungen Normalität. Die Versorgung mit integrativen Betreuungsplätzen ist regional sehr unterschiedlich. Jedoch sind alle Bundesländer der BRD bemüht, ihre Angebote der integrativen Erziehung, Bildung und Betreuung von Kindern mit und ohne Behinderung auszubauen. Das Ziel ist, dass alle Eltern, die das wünschen, ihre Kinder mit besonderen Bedürfnissen in der KiTa des Wohnquartiers anmelden können. Als integrative KiTas sind Bildungs- und Erziehungseinrichtungen zu bezeichnen, die Kinder mit besonderen Bedürfnissen in integrativen Gruppen aufnehmen, durch multiprofessionelle Teams unterstützen und damit die selbstbestimmte soziale Teilhabe aller Kinder im Sinne integrativer Bildung ermöglichen (Heimlich & Behr, 2006).
Mit Kindern mit besonderen Bedürfnissen sind dabei nicht nur – wie in diesen Beispielen – behinderte Kinder gemeint, d. h. Kinder mit Sehschädigungen, Hörbehinderungen, Spracherwerbsstörungen, körperlichen Einschränkungen, Lern- und geistiger Behinderung sowie Kinder mit autistischen Verhaltensmerkmalen, die insgesamt drei bis vier Prozent aller Kinder ausmachen. Sie stehen in diesem Band im Mittelpunkt. Es gibt aber darüber hinaus eine – zahlenmäßig wesentlich größere – Gruppe von Kindern mit leichteren Entwicklungsrückständen, Teilleistungsstörungen und Verhaltensauffälligkeiten sowie Kinder mit außergewöhnlichen Belastungen im familiären und sozialen Umfeld (z. B. psychische Erkrankung eines Elternteils, chronische Konflikte zwischen Eltern, Alkohol- und Drogenabhängigkeit der Eltern, soziale Benachteiligung durch Armutslagen). Ihre Früherkennung, Bildung und Förderung stellt KiTas ebenfalls vor besondere Anforderungen. Sie werden in diesem Band aber nichtbehandelt.
1.1.1 Unterschiedliche Formen sozialer Integration
Geht man von der Praxis aus, so finden sich unter dem Begriff der sozialen Integration behinderter Kinder im Kindergarten heutzutage sehr unterschiedliche Formen von gemeinsamer Erziehung behinderter und nicht behinderter Kinder.
• Es gibt behinderte Kinder, die den allgemeinen Kindergarten besuchen, ohne dass sie dort spezielle Förderung erhalten oder die Erzieherinnen1 durch sonderpädagogische oder therapeutische Fachkräfte unterstützt werden.
• Unter dem Titel »Einzelintegrationsmaßnahme« werden andere Kinder in den allgemeinen Kindergarten aufgenommen und erhalten dort zusätzliche Förderangebote durch eine Fachkraft. Eine Beratung durch eine Frühförderstelle oder Reduzierung der Gruppenstärke ist vorgesehen, sodass die Erzieherinnen ihren spezifischen Bedürfnissen gerecht werden können.
• In »integrativen Gruppen« (in Regel- oder Sonderkindergärten) findet ein zusätzliches Betreuungsangebot und Beratung statt, die Gruppenstärke ist auf maximal 12–18 Kinder reduziert, darunter höchstens fünf Kinder mit zusätzlichem Förderbedarf.
• Bei der sogenannten »umgekehrten Integration« werden Kinder ohne zusätzlichen Förderbedarf in einen bereits bestehenden Sonderkindergarten oder eine Schulvorbereitende Einrichtung (SVE) aufgenommen, die an eine Förderschule angegliedert ist.
• Bei der »kooperativen Integration« (oder »additiven Form«) schließlich bilden Kinder mit besonderem Förderbedarf eine separate Gruppe, die aber unter dem Dach eines allgemeinen Kindergartens angesiedelt ist.
Jede dieser verschiedenen Formen stellt eine Alternative dar zur Aufnahme eines behinderten Kindes in einen Sonderkindergarten oder eine Schulvorbereitende Einrichtung als selbstständige, von den allgemeinen Kindergärten separierte Einrichtung.
Hilfen für Kinder mit Behinderungen waren lange Zeit mit einer sozialen Ausgrenzung verknüpft. Regeleinrichtungen, wie Kindergärten und Grundschulen, fühlten sich den Problemen zeitlich und inhaltlich nicht gewachsen. Man war der Ansicht, Kinder mit diesen besonderen Bedürfnissen seien in Sondereinrichtungen besser aufgehoben. So entstand über Jahrzehnte hinweg ein zum Teil sehr ausdifferenziertes System von Sonderschulen und Sonderkindergärten. Dieses ausgebaute (und teure) Sonderschulwesen ist teilweise historisch zu verstehen als Versuch der »Wiedergutmachung« nach der mörderischen Euthanasiepolitik der Nationalsozialisten.
In den letzten Jahren hat sich jedoch in der Sichtweise, wie Kindern mit besonderen Bedürfnissen am besten geholfen werden kann, ein tiefgreifender Wandel vollzogen. Ausgehend vor allem von den USA und den skandinavischen Ländern verbreitete sich auch in Deutschland die Idee einer »integrativen Pädagogik« nach dem Prinzip der Normalisierung und sozialen Inklusion. Sie geht davon aus, dass Hilfen die betroffenen Kinder nicht mehr als unbedingt notwendig in ihren normalen Lebensvollzügen einschränken dürfen und alle Kinder an allen Aktivitäten und Angeboten für Kinder, die sich »normal« entwickeln, teilhaben sollen. Diese Entwicklung wurde vor allem von Eltern behinderter Kinder vorangetrieben, die nur in der Aufnahme ihrer Kinder in integrativen Einrichtungen einen Schutz vor sozialer Ausgrenzung sahen. Das vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend herausgegebene Handbuch zu Perspektiven der Weiterentwicklung des Systems der Tageseinrichtungen für Kinder in Deutschland (BMFSFJ, 2008) trägt dieser Entwicklung Rechnung.
Im Konzept einer integrativen Erziehung und Bildung wird die Unterschiedlichkeit aller Kinder als Ausgangslage anerkannt, ebenso wie innere Differenzierungen in heterogenen Gruppen durch Individualisierung der Bildungsziele und pädagogische Hilfen vorgesehen sind. Ein solches Konzept der uneingeschränkten Teilhabe wird in der Fachdiskussion als »Inklusion« – sozusagen als optimierte, erweiterte Integration – bezeichnet (Feuser, 1999; Hinz, 2002; Sander, 2004). Eine so verstandene Förderung aller Kinder fordert Träger, Organisationen und Erzieher dazu heraus, pädagogische Lösungen zu entwickeln, die geeignet sind, ausnahmslos alle Kinder einer Kindergruppe – deren spezifisches Merkmal es ist, in vielfältigster Weise verschieden zu sein – in gleichermaßen guter Qualität zu betreuen, zu erziehen und zu bilden.
1.1.2 »Integration« und »Inklusion« im internationalen Verständnis
Die Neuorientierung bei der Erziehung, Bildung und Betreuung von Kindern mit Behinderungen fand ihren Niederschlag in verschiedenen internationalen Deklarationen und Vereinbarungen. Dabei sind die Begriffe »Integration« und »Inklusion« allerdings terminologisch nicht eindeutig definiert (Bürli, 2009). In der UN-Behindertenrechtskonvention, der Bundestag und Bundesrat im Dezember 2008 zugestimmt haben, wird z. B. im englischen Original von »Inklusion« gesprochen, in der amtlichen Übersetzung jedoch von »Integration«. Dabei sind nicht nur Kinder mit zusätzlichem sonderpädagogischem Förderbedarf gemeint, sondern auch Kinder mit Migrationshintergrund oder mit schwierigen Familiensituationen, die besonderer Unterstützung bedürfen. In Artikel 24 der Konvention wird dann allerdings für den Bereich der Bildung festgelegt, dass keine Behörde ein Kind unter Hinweis auf eine Behinderung vom Bildungssystem ausschließen darf und angemessene Vorkehrungen für die Bedürfnisse des Einzelnen getroffen werden müssen, darunter wirksame, individuell angepasste Unterstützungsmaßnahmen in einem Umfeld, das die bestmögliche schulische und soziale Entwicklung gestattet. Von Seiten der Behindertenverbände und der Bundesarbeitsgemeinschaft »Gemeinsam leben – gemeinsam lernen« wird aus dieser Formulierung in einer sogenannten »Schattenübersetzung« der Deklaration deshalb die Forderung abgeleitet, dass alle Kinder in allgemeinen Kindergärten und Schulen in heterogenen Lerngruppen der Vielfalt der Begabung entsprechend gefördert und unterrichtet werden müssen.
Auch die Organisation der Vereinten Nationen für Erziehung, Wissenschaft und Kultur (UNESCO) hat auf dem Weltkongress über »Bildung bei besonderem Förderbedarf – Zugang und Qualität« in Salamanca 1994 in diesem Zusammenhang richtungweisende Aussagen gemacht. Danach sind alle Kinder ohne Rücksicht auf ihre physischen, intellektuellen, sozialen, emotionalen, religiösen, ethnischen, sprachlichen Voraussetzungen in die allgemeine Schule aufzunehmen, es sei denn, es gebe schwerwiegende Gründe für eine andere Entscheidung. Integrativer Unterricht hat den unterschiedlichen Lern- und Förderbedürfnissen der Kinder zu entsprechen, sich den verschiedenen Lernstilen und Lerngeschwindigkeiten anzupassen, allen eine qualitativ gute Bildung zu garantieren, und dies durch geeignete Curricula, organisatorische Arrangements, Unterrichtsstrategien, Inanspruchnahme von Ressourcen und ein Kontinuum von Stütz- und Förderangeboten sicher zu stellen. Die Versetzung in eine Sonderschule soll nur bei einer kleinen Minderheit geschehen, bei denen klar erwiesen ist, dass sie nicht in geeigneter Weise im Regelschulbereich gefördert werden können.
1.1.3 Reformentwicklung in Deutschland
Ungeachtet internationaler Trends und Vorgaben sind integrative Konzepte innerhalb Deutschlands bisher immer noch sehr unterschiedlich entwickelt. Die Integrationsquote ist weitaus niedriger als in einigen vergleichbaren Ländern. Der Anteil der Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf an der Gesamtzahl der Schüler variiert in den einzelnen Bundesländern zwischen 5,3 % und 8,3 %.2 Den größten Anteil daran haben Schüler mit dem Förderschwerpunkt Lernen (38,8 %), gefolgt von Schülern mit dem Förderschwerpunkt geistige Entwicklung (16,0 %) und emotionale und soziale Entwicklung (15,2 %). Von allen Schülern mit sonderpädagogischem Förderbedarf besuchten im Schuljahr 2015/16 39,3 % eine allgemeine Schule.3 Der Anteil der inklusiv beschulten Kinder mit den Förderschwerpunkten Lernen, Sprache, Hören, Sehen und Körperliche und motorische sowie emotionale und soziale Entwicklung liegt dabei zwischen 30 % und 50 %. Von den Schülern mit dem Förderschwerpunkt geistige Entwicklung werden nur 7,9 % inklusiv unterrichtet.
Inklusion von Kindern mit Behinderungen ist zu einem zentralen Thema der bildungspolitischen Debatte geworden. An vielen Orten werden mit großem pädagogischen Engagement Konzepte realisiert, die der Vision einer inklusiven Schule, die kein Kind abweist, sondern sich den Bedürfnissen der einzelnen Schüler nach individueller Förderung anpasst, nahekommen. Es fehlt jedoch an einer ausreichenden personellen und finanziellen Ausstattung der Schulen durch die Schulverwaltung und Bildungsministerien sowie einer fachlichen Aus- und Fortbildung der Lehrkräfte, um eine flächendeckende Weiterentwicklung zu einem vollständig inklusiven Sc...