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Unerwünscht im Orient
Wie wir im Vertrauen auf Gott um unsere Heimat kämpften
- 192 Seiten
- German
- ePUB (handyfreundlich)
- Über iOS und Android verfügbar
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Über dieses Buch
Eine Familie bleibt ihrem Auftrag treu
10 Tage Zeit bleibt Familie Louven, um ihre geliebte Heimat in der Türkei zu verlassen. Vor über 20 Jahren ist die deutsch-österreichische Familie Gottes Auftrag gefolgt, um ein neues Leben in der fremden Kultur zu beginnen. Als 2018 ein amerikanischer Pastor inhaftiert und 60 Christen des Landes verwiesen werden, spitzt sich die Lage für Familie Louven zu. Doch der Familienvater beschließt zu kämpfen: Im Vertrauen auf Gott setzt er vieles in Bewegung, um im geliebten Lebensumfeld bleiben zu können. Als die Polizei ihn schließlich holen will, muss er fliehen – ungewiss, was die Zukunft bringen wird…
inkl. 16-seitigem Bildteil
Häufig gestellte Fragen
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Information

[ Zum Inhaltsverzeichnis ]
1
AUFBRUCH RÜCKWÄRTS
Bereits 1994 hatten meine Frau Renate und ich ungefähr ein Jahr nach unserer Eheschließung den Entschluss verwirklicht, miteinander in die Türkei zu ziehen. Schon davor hatten wir unabhängig voneinander erste Erfahrungen mit der türkischen Kultur und den Menschen gesammelt. Während Renate als Krankenschwester in Österreich immer wieder einmal mit türkischen Patienten zu tun hatte und letztlich mit einigen von ihnen eine Reise in die Türkei unternahm, machte ich ungefähr zeitgleich bei verschiedenen Sommeraufenthalten in der Türkei überwiegend positive Erfahrungen mit Land und Leuten. Von unseren christlichen Heimatgemeinden in diesem Weg bestätigt, wurden wir von den Freunden in Deutschland und Österreich verabschiedet.
Zwischen 1994 und 1996 waren wir schwerpunktmäßig mit dem Erlernen der Sprache und dem Hineinfinden in die Kultur beschäftigt. Wir konnten uns aber bereits damals gut vorstellen, langfristig im Land zu bleiben und dort eine Arbeit aufzubauen. Mit allerlei ersten Erfahrungen und recht guter Kenntnis der Sprache kehrten wir zunächst für einen verlängerten Aufenthalt nach Europa zurück (unsere Tochter Hanna wurde im April 1997 dort geboren). Nachdem wir in Deutschland in Verbindung mit einer christlichen Reisegesellschaft kamen, konkretisierten sich unsere ersten Pläne und Vorstellungen zunehmend. Im Mai 1998 machten wir uns dann als Familie auf den Weg in den Südwesten der Türkei, wo wir zunächst eine Wohnung bezogen und ich dann wenig später sehr zentral in der Stadt ein Verbindungsbüro für die besagte Reisegesellschaft eröffnete.
War anfangs unsere Aufgabe noch mehr auf unsere Stadt und das Umfeld begrenzt, bauten wir in den nachfolgenden Jahren zwei historische Häuser zu Gästehäusern um und gründeten hierzu eine GmbH im Land selbst. Unsere Gäste konnten Ausflüge zu den umliegenden biblischen Orten (zum Beispiel Ephesus, Laodicea und Hierapolis) machen. Weitere Mitarbeiter kamen aus Europa hinzu und unsere Tätigkeit weitete sich aus. Wir hatten Besucher von überall her und in der Stadt und im Umfeld wurden wir immer bekannter, trug unsere Tätigkeit im Tourismus doch auch zum Wohl der Stadt bei. Der »Glaubenstourismus« (so nannte man unsere Tätigkeit auch übersetzt in der Türkei) führte immer wieder zu Gesprächen mit den Einheimischen über den christlichen Glauben. Darüber freuten wir uns, lag uns das doch sehr auf dem Herzen.
Nachdem Hanna in der Türkei eine recht sorglose Kindheit erlebt und nach der Vorschule auch die ersten Jahre der Grundschule gut absolviert hatte, stellte sich die Frage nach ihrer künftigen schulischen Ausbildung. Es gab noch einige weitere wichtige Faktoren (zum Beispiel unsere familiäre Situation), sodass wir uns schließlich nach ausgiebiger Prüfung und Beratung zu einem damals für uns schwierigen Schritt durchrangen: Wir entschlossen uns 2008, zumindest für eine längere Zeit nach Europa zurückzukehren und Hanna dort ihre Schulbildung beenden zu lassen.
In der Folge lebten wir für ca. sechs Jahre am Niederrhein in Deutschland; daran schloss sich noch ein weiteres Jahr in Renates Heimat Vorarlberg an. Ich selbst arbeitete in der Zeit als Lehrer bzw. holte zunächst noch mein Referendariat nach, das mir nach meinem Lehramtsstudium noch fehlte, da wir damals schon in die Türkei ausgereist waren.
Immer wieder merkten besonders Hanna und ich jedoch, dass wir uns eigentlich nicht vorstellen konnten, unserem vorherigen Lebensumfeld für immer fernzubleiben. Erinnerungen an die Zeit in der Türkei, unsere Freunde dort, das zurückgelassene Umfeld kamen immer wieder in Gedanken hoch. Regelmäßig kehrten wir in die Türkei zurück – zwischendurch in den Ferien und Hanna auch einmal als Austauschschülerin für eine längere Zeit. Während all der Jahre behielten wir unser Haus dort. Zudem wurde unsere Arbeit mit den Gästehäusern von unseren ehemaligen Mitarbeitern weitergeführt, wenn auch in etwas kleinerem Rahmen. Von daher war es für uns durchaus eine Option, wieder in die Türkei und zur alten Arbeit zurückzukehren. Immer wieder führten mich die Gedanken und Gebete zurück zum früheren Umfeld und zur für uns noch nicht abgeschlossenen Arbeit.
»Was machst du eigentlich hier?« Diese Frage kam zum Teil unerwartet und in unterschiedlichen Situationen in mir hoch. Zum Beispiel als ich als Lehrer auf dem Weg in die nächste Schulklasse war, den Schlüssel für den Bio-Fachraum in der Hand haltend. Oder als Zuschauer des Karnevalszuges, der sich durch die Straßen meiner rheinischen Heimatstadt schlängelte. Was machte ich eigentlich hier? Ich dachte dann besonders an unser gerade leer stehendes Haus in der Türkei sowie die geräumige und jetzt ebenfalls ungenutzte Farm am Stadtrand; ich dachte an die verschwindend geringe Zahl von christlichen Arbeitern dort und unsere über Jahre und zum Teil recht mühsam erworbenen Sprach- und Kulturkenntnisse. Auch als wir vom Rheinland in Renates Heimatland Österreich zogen und ich eine tolle Anstellung als Lehrer an einer gerade gegründeten christlichen Schule bekam, verstummte diese Frage in mir nicht: »Was machst du eigentlich hier?«
Nachdem ich sie nicht mehr wegschieben konnte, brachte ich sie auch vor unsere Gemeindeältesten. Eine kurze Auszeit am Bodenseeufer in Meersburg wollte ich dazu nutzen, mehr Klarheit über unseren weiteren Weg zu gewinnen.
Zunächst wollten wir noch einige alte Freunde besuchen, die in der Vergangenheit manche Arbeiten im Hintergrund für uns erledigt hatten. Hatte ich bereits in Deutschland manchmal den Eindruck gehabt, dass Gott mich zu einer weiteren Einsatzzeit in der Türkei ermutigen wollte, wertete ich das Statement eines Mitarbeiters dort als einen sehr deutlichen weiteren Hinweis in diese Richtung: »Ich habe den Eindruck, Gott ruft euch in die Türkei zurück. Mir ist Apostelgeschichte 13 in den Sinn gekommen, wo Paulus und Barnabas zu ihrem Dienst unter den Völkern ausgesandt werden.«
»Das ist das, was ich auch empfinde«, konnte ich damals nur sagen und war ziemlich dankbar, dass Gott uns noch vor unseren Einkehrtagen eine solche Bestätigung gegeben hatte. Auch Renate, die im Blick auf eine weitere Ausreise in die Türkei weniger enthusiastisch war als ich, sah es so. Somit hatten wir eine klare Antwort auf unsere Frage bekommen. Wir verbrachten dann eine unbeschwerte Zeit in unserem kleinen Hotel in Meersburg und lernten neben dem nahen Thermalbad auch einige Christen aus der Schweiz kennen.
Im Anschluss konnten wir uns direkt konkreter an die Vorbereitungen machen. Noch war vieles offen, aber die grundsätzliche Frage nach unserem zukünftigen Einsatzort schien nun geklärt. Der Abschied von der neu gegründeten christlichen Entdecker-Schule in Vorarlberg, manchen türkischen Bekannten im Umfeld und natürlich den Freunden aus der Gemeinde war zwar nicht nur leicht, aber die Qualität neuer Herausforderungen war gewiss …
Nach der Übergabe unseres gemieteten Hauses und der Einlagerung einiger Möbel und Gegenstände bei Freunden machten wir uns im Sommer 2015 auf die Wieder-Ausreise in den Orient. Unsere damals 19-jährige Tochter Hanna würde uns zunächst nicht begleiten, weil sie nach ihrem Schulabschluss einen Einsatz mit einer christlichen Organisation in Südamerika machen würde. Sie würde allerdings noch vor diesem Einsatz für ein paar Wochen zusammen mit einem Team von jungen Leuten zu uns stoßen.
Am Tag unserer Abreise aus Österreich nahmen wir noch an einer letzten Zusammenkunft bei Renates Arbeitsstelle im Betreuten Wohnen teil. Es war schon Nachmittag, als wir uns dann letztlich von dort verabschiedeten und uns mit unserem Renault Kangoo und einigen Bananenschachteln im Laderaum über die Grenze nach Liechtenstein und die Schweiz aufmachten. Der erste Abschnitt unserer Reise führte uns in Richtung Chur und die Schweizer Alpen, durch den Gotthardtunnel hindurch nach Italien. Bei einbrechender Dunkelheit suchten wir uns einen Schlafplatz und wurden bei einem Rastplatz vor der Autobahn nach Mailand fündig. Zunächst breiteten wir unser Luftbett auf einem Grünstreifen aus, zogen später jedoch etwas näher zu den Waschplätzen um. Die Nacht war nicht die allerbeste, wir fanden aber dennoch genug Schlaf, um gestärkt Richtung Ancona und damit unserer zuvor gebuchten Fähre weiterfahren zu können.
Am Hafen angekommen, fanden wir nach dem Check-in noch etwas Zeit zur Orientierung, bevor es in das Innere des großen Fährschiffes ging. Igoumenitsa in Griechenland war wie auch schon bei früheren Fahrten in die Türkei unser Ziel. Die Überfahrt war gut, die Nacht verbrachten wir wie gewohnt unter freiem Himmel auf dem Zwischendeck. Griechenland empfing uns mit einem wolkenlosen, blauen Himmel. Unser kleines Auto erklomm geübt die ersten größeren Steigungen der relativ neuen Autobahn Richtung Thessaloniki. Hinter dem biblischen Beröa und der Metropole Thessaloniki wiesen schon die ersten Hinweisschilder Richtung Türkei.
An der Grenze bei Ipsala angekommen, waren wir bei Weitem nicht die Einzigen, die Richtung Asien wollten. Wie gut, dass wir das Prozedere schon kannten und alle nötigen Papiere inklusive gültigem Versicherungsschein für den asiatischen Teil der Türkei vorweisen konnten. Zügig wurden wir abgefertigt und bereits hinter der Grenze passierten wir wie schon oft zuvor das große Schild »Türkiye’ye hoşgeldiniz« – willkommen in der Türkei!
Dass die Türkei im Wandel war, hatten wir schon bei zwischenzeitlichen Besuchen mitbekommen, und auch die Medien in Europa berichteten mehr oder weniger ausführlich in Wort und Bild darüber. R. T. Erdoğan an der Spitze des Staates und die ebenfalls von ihm geleitete »Ak Parti« (Partei für Gerechtigkeit und Wachstum) führten bereits zu dieser Zeit das Land in eine neue Richtung. Wie sich dies im Lebensalltag der türkischen Bevölkerung auswirkte, würden wohl unsere nächsten Jahre hier vor Ort zeigen. Dass es Auswirkungen hatte, merkten wir allerdings sehr bald an den Beziehungen der Menschen untereinander. Wir hatten nämlich den Eindruck, dass es zwischenmenschlich, verglichen mit unseren früheren Erfahrungen in der Türkei, eine Spur kälter geworden war. Und das lag ganz sicher nicht an den gerade sommerlich heißen Temperaturen und der Mentalität der Menschen um uns herum …
Wie ganz anders war es früher gewesen … Ich erinnere mich da zum Beispiel rückblickend noch gut an einen Abend in der kleinen Stadt Gelibolu unweit der sich für uns jetzt nähernden Meerenge zwischen Europa und Asien. Es muss im Sommer 2010 gewesen sein, also zwei Jahre nach unserer damaligen Rückkehr nach Deutschland. In den Schulferien hatten wir uns als Familie zusammen mit einer jungen Abiturientin auf den Weg in unsere frühere Wahlheimat gemacht. Von türkischen Bekannten eingeladen, verbrachten wir einen Abend in der kleinen Hafenstadt direkt an der Meerenge zwischen Europa und Asien. Schon kurz nach dem Abstellen unseres Autos befanden wir uns mitten im pulsierenden Leben des Ortes. Junge und ältere Menschen bewegten sich durch das orientalisch geprägte Umfeld (obwohl wir uns noch auf dem europäischen Kontinent befanden), saßen in den direkt an die Straßen grenzenden Teegärten, kauften bei den umliegenden Straßenhändlern ein, freuten sich einfach ihres Seins. Immer wieder trafen von der gegenüberliegenden Seite der Meeresenge (also der asiatischen Seite) kleinere oder manchmal auch größere Fährschiffe ein, andere machten sich mit dem Auto von Gelibolu auf den Weg nach Asien.
»Das Leben inhalieren« heißt ein Lied des österreichischen Interpreten Wolfgang Verocai – das passte sehr gut zu den Menschen, die sich da auf den Straßen tummelten. Und ganz allgemein zum Orient: Zeit haben, warme Temperaturen und herzliche menschliche Beziehungen, sich fallen lassen, genießen, einander Freund sein … Warum haben wir eigentlich hier in Europa so vieles von dem »verlernt«? Ich erinnere mich noch an Kindheitstage am Niederrhein, an denen wir im Sommer draußen auf der damals wenig befahrenen Straße vor den Häusern spielten. Die Erwachsenen saßen auf den Treppen und unterhielten sich mit den Nachbarn rechts und links, deren Namen sie noch kannten. Wer hat uns weisgemacht, dass Fernseher und Internet dies ersetzen können? Was inhalieren wir da eigentlich – das Leben? Oder vielleicht etwas ganz anderes?
Doch zurück zu unserer Wiederausreise im Sommer 2015: Nachdem wir die Spitze der Meerenge bei Çanakkale mit der Fähre umfahren hatten, waren wir jetzt wirklich in Asien. Wir hatten Europa zurückgelassen und bewegten uns in Erwartung vieler neuer Ereignisse in Richtung unseres früheren Wirkungsortes im Südwesten des Landes. Zur Rechten lag die Ägäis und einige der antiken und zum Teil biblischen Orte der Türkei: Troja, Assos, Troas … Wir näherten uns nun langsam der großen Metropole Izmir, dem früheren Smyrna, und waren froh um die mittlerweile weiter ausgebaute Umgehungsstraße mit Blick auf die großen Häuserfronten zu beiden Seiten. Schon heimisch kamen uns anschließend die ersten Hinweisschilder Richtung Aydin vor, unserer Nachbarprovinz im Norden. Das antike Ephesus zur Rechten passierend fuhren wir weiter auf der Autobahn, ließen Aydin links liegen und erklommen nun bald die letzte große Steigung zu dem Hochplateau, auf dem auch »unsere« Stadt Muğla liegt.
Das Ankommen war dann ein sehr besonderer Moment: Zwar kannten wir das hier alles schon, aber es markierte doch wieder einen neuen Abschnitt in unserem Leben. Anders als 1998 bei unserer ersten Ausreise hatten wir nun bereits unser eingerichtetes Haus vor Ort, kannten seit vielen Jahren unsere Nachbarn, die Siedlung, das neben unserem Haus gelegene kleine Lebensmittelgeschäft … Und so waren die Menschen dort auch nicht überrascht, uns mit unserem Kangoo um die Ecke biegen zu sehen. Es war mehr wie nach Hause kommen als in eine fremde Kultur einziehen. Nur unsere deutschen Autokennzeichen schienen an ein insgesamt ca. siebenjähriges Intervall der Abwesenheit zu erinnern …
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2
WIEDER VOR ORT
Da waren wir nun erneut in unserer »Mahalle«. Obwohl dieses Wort im Deutschen wahrscheinlich am besten mit »Stadtteil« zu übersetzen wäre, ist es doch weit mehr als ein solcher. Eine Mahalle umfasst nicht nur Wohnblöcke, Straßen und Nachbarn. Sie ist vielleicht besser zu beschreiben als das ganze pulsierende, manchmal fast übersprudelnde Leben innerhalb eines Wohngebiets mit seinen jungen und alten Menschen, kleinen Geschäften, am Wegrand sitzenden Nachbarn, Feiern auf den Höfen und den Straßen. Hier hört man Kinder lachen, Frauen keifen, Männer diskutieren, Nachbarn von Balkon zu Balkon rufen. Hier geschieht Leben. Und in eine solche Mahalle waren wir damals aufgenommen worden und bald von vielen gekannt.
Es gibt einem Menschen eine große Sicherheit, in einem fremden Land nicht nur angekommen, sondern aufgenommen zu sein – einfach dazuzugehören. Diese Zugehörigkeit führt zu, wie wir erfahren haben, Rechten wie Pflichten, ist aber für mich ein unverzichtbarer Bestandteil wirklicher Integration. In einer Zeit, in der in Deutschland und anderen Staaten der europäischen Gemeinschaft zum Teil heftig das Thema Integration diskutiert wird, ist es für mich keine Frage, dass eine solche Zugehörigkeit zur »Mahalle« einen unschätzbaren Wert hat. Und hier sind unbedingt beide Seiten gefragt. Nicht nur aus diesem Grunde sehe ich es als eine sehr schlechte Entwicklung in manchen deutschen Großstädten, dass deutsche Bürger und solche mit Migrationshintergrund, speziell einem türkischen, nicht etwa Seite an Seite, sondern in verschiedenen Wohngegenden getrennt voneinander leben. Solche Entwicklungen werden den zahlreichen Integrationsbemühungen der Bundesregierung sicherlich nicht zuträglich sein, sondern ein starkes Hindernis auf diesem Weg.
Unsere Mahalle bestand aus etlichen Wohnblöcken mit insgesamt 112 Häusern, die innerhalb einer sogenannten »Kooperative« gebaut worden waren. Eine Kooperative ist ein in der Türkei sehr häufig vorkommender Zusammenschluss verschiedener Einwohner einer Stadt. Man tut sich zu einer größeren Gemeinschaft zusammen, um mit vereinten Kräften und Überlegungen daran zu arbeiten, Besitzer einer eigenen Wohnung werden zu können. Die für einen Einheimischen oft hohen Kosten des Wohnungsbaus werden auf diese Weise verringert. Man finanziert gemeinsam einen Architekten, den Bauträger und die Materialien, sodass die Kosten auf mehrere Schultern umgelegt werden können. Da die zukünftigen Wohnungsbesitzer aber meist nur einen gewissen monatlichen Beitrag zahlen können und kaum Rücklagen haben, kann sich das Vorhaben oft sehr in die Länge ziehen. Das ist einer der Gründe, warum man in der Türkei viele noch unvollendete Bauvorhaben an den Straßen und in den Städten sieht. Die Zahlung der monatlich fälligen Beiträge kann schon mal ein Problem darstellen und Anlass zu Meinungsverschiedenheiten geben. Auch in unserer Mahalle hat es nach Aussagen unserer Nachbarn etliche Jahre gedauert, bis die einzelnen Bauten annähernd bezugsfertig waren. Sogar danach ist das Zusammenleben manchmal nicht unproblematisch, wie wir hier und da feststellen mussten.
Gibt es Unstimmigkeiten unter den Nachbarn, so trägt man den Fall zum Ortsvorsteher (»Muhtar«) oder auch bis zum Bürgermeister der Stadt. Dieser ist in Muğla schon ungewöhnlich lange im Amt, ein ehemaliger recht bekannter Arzt. Osman Gürün konnte den negativen Finanzetat in schwarze Zahlen bringen und verstand es auch sonst, Projekte zu einem guten Ergebnis zu führen. Regelmäßig wurde er in den vergangenen Jahren mit Preisen ausgezeichnet und wurde zum besten Bürgermeister der ganzen Provinz gewählt. Mit den Jahren verband uns eine wachsende Freundschaft mit ihm und seiner Frau. Einmal hatte ich eine sogar für türkische Verhältnisse recht ungewöhnliche Begegnung mit ihm …
Eines Tages wollte ich in den Keller gehen, um die Luftpumpe für unsere Fahrräder zu holen. Da erwartete mich gleich am Eingang eine »Überraschung«: ein übler Geruch. Die provisorische Dichtung eines Abflussrohres hatte sich gelöst und Teile des abfließenden Wassers hatten sich in den Keller ergossen. Und nicht nur das: Die unter dem Abfluss lagernden Elektrogeräte waren von dieser ausgetretenen Brühe zum Teil überflutet worden.
Mein eigentliches Ansinnen hatte ich natürlich sofort vergessen, stattdessen begutachtete ich den Schaden. Meine Frau, die derweil im Haus tätig war und Ordnung schaffte, bemerkte nach einer Zeit meine Abwesenheit und fand mich im Keller inmitten der ganzen Schweinerei. Gemeinsam suchten wir nach der besten Lösung. Zunächst wollte ich den Schaden selbst reparieren, doch ich entschied mich letztlich, dem Rat meiner Frau zu folgen und einen Klempner zu rufen.
Während ich unten blieb, ging meine Frau nach oben, um zu telefonieren. Ich rief ihr zu: »Du kannst ihn vom Handy aus anrufen, er heißt Osman und sollte gespeichert sein.«
Meine Frau wählte und ich hörte, wie sie auf Türkisch ins Handy sagte, dass Hans-Jürgen und Renate dran seien. »Du kennst uns ja. Ich gebe das Gespräch jetzt an meinen Mann weiter.«
Da ich noch weiter im Keller mit der Mischung aus übel riechendem, abgestandenem Wasser und darin herumschwimmenden, aufgelösten Kartonteilen beschäftigt war, konnte ich das mir von meiner Frau entgegengehaltene Handy nicht entgegennehmen. So stellte ich mich an ihre Seite und näherte mich mit meinem linken Ohr dem von ihr gehaltenen Gerät. Der Klempner Osman war mir bereits seit Jahren bekannt, wir hatten ihn früher sowohl im eigenen Haus wie auch in unseren Gästehäusern beschäftigt.
»Hallo Osman, na, wie geht’s? Hier ist der deutsche Hans (so bin ich in der Türkei bei vielen bekannt). Wo steckst du, was machst du?«
Die Stimme am anderen Ende kam mir etwas merkwürdig vor, doch ich schrieb es der Entfernung zwischen dem hingehaltenen Handy und meiner weiter als normal entfernten Ohrmuschel zu. Mehr als die Stimme merkwürdig erschien mir aber die Antwort von Osman auf meinen Gruß.
»Ja, danke. Ich bin zurzeit bei Sitzungen in Ankara. Ich rufe Sie später zurück.«
Was machte unser Klempner in Ankara? Und mit welcher Art Sitzung sollte er beschäftigt sein? Nun doch etwas verunsichert, bedankte ich mich und beendete das Gespräch. Nach Betätigung der entsprechenden roten Taste auf dem Handy erschien auf dem Display noch einmal der Name des zuvor gewählten Teilnehmers: Osman Gürün, Bürgermeister unserer Stadt Muğla … Meine geliebte Frau war wohl davon ausgegangen, dass es nur einen Osman in der Telefonliste gab und hatte gleich diesen angerufen. Wäre ein Stuhl bereitgestanden, hätte ich mich ob dieses Fauxpas wohl erst einmal setzen müssen. Zwar hatte ich immer wieder gute Begegnungen mit unserem Bürgermeister gehabt, aber so vertraut wie eben waren wir nun doch nicht miteinander.
Still ging i...
Inhaltsverzeichnis
- Umschlag
- Haupttitel
- Impressum
- Widmung und Zitat
- Inhaltsverzeichnis
- Über den Autor
- »Kaçak« – auf der Flucht …
- Vorwort
- Vorwort von Hans-Georg und Margret Hoprich (DMG Deutschland)
- Teil 1: Aufbrüche
- Teil 2: Ausgewiesen
- Teil 3: Was er will!
- Nachwort
- Begleitwort von Volker Kauder
- Anhang: Zum Thema Religionsfreiheit in der Türkei
- Bericht der »Freedom of Belief« Initiative des Norwegischen Helsinkikomitees 2019
- Aktueller Menschenrechtsbericht protestantischer Kirchen in der Türkei 2020
- Bildteil