Das eigensinnige Kind
eBook - ePub

Das eigensinnige Kind

Über unterdrückten Widerstand und die Formen ungelebten Lebens – ein gesellschaftspolitischer Essay

  1. 124 Seiten
  2. German
  3. ePUB (handyfreundlich)
  4. Über iOS und Android verfügbar
eBook - ePub

Das eigensinnige Kind

Über unterdrückten Widerstand und die Formen ungelebten Lebens – ein gesellschaftspolitischer Essay

Über dieses Buch

"Das eigensinnige Kind" ist das kürzeste Märchen in der Sammlung der Brüder Grimm und zugleich eines der schrecklichsten. Es handelt vom kurzen Leben eines Kindes, dessen Eigensinn von der alleinerziehenden Mutter bis über den Tod hinaus gebrochen wird. Für den Literaturwissenschaftler und Philosophen Wolfram Ette wird das Märchen zur ersten Station einer essayistischen Besichtigungstour, die sich für die komplexen Verdrängungs- und Unterdrückungsverhältnisse im zeitgenössischen Dreieck von Kind, Familie und Gesellschaft interessiert.Für seine Galerie des Eigensinns greift Ette nicht nur auf Material aus kanonisierten Kinderbüchern, literarischen Klassikern und antiken Texten zurück. Ins Blickfeld geraten auch die vielfältigen Dramen zwischen Eltern und Kindern, die der Alltag zu bieten hat, sowie die dazugehörigen beschädigten Lebensläufe bis hin zum Amokläufer. Er untersucht die unausgesprochenen gesellschaftlichen Konflikte, die sich in diesen Szenen des Eigensinns abgelagert haben, und fragt danach, welche gesellschaftlichen Gewaltverhältnisse sie spiegeln, maskieren, unterstützen.In diesem Neben- und Übereinanderhalten von Familien- und Gesellschaftsstruktur erläutern sich beide gegenseitig und erinnern vor allem an eines: Die Mikroräume des Sozialen sind Keimzellen für Gesellschaft. In welcher wollen wir leben und was bedeutet dies für unser Alltags- und Familienleben?

Häufig gestellte Fragen

Ja, du kannst dein Abo jederzeit über den Tab Abo in deinen Kontoeinstellungen auf der Perlego-Website kündigen. Dein Abo bleibt bis zum Ende deines aktuellen Abrechnungszeitraums aktiv. Erfahre, wie du dein Abo kündigen kannst.
Derzeit stehen all unsere auf mobile Endgeräte reagierenden ePub-Bücher zum Download über die App zur Verfügung. Die meisten unserer PDFs stehen ebenfalls zum Download bereit; wir arbeiten daran, auch die übrigen PDFs zum Download anzubieten, bei denen dies aktuell noch nicht möglich ist. Weitere Informationen hier.
Perlego bietet zwei Pläne an: Elementar and Erweitert
  • Elementar ist ideal für Lernende und Interessierte, die gerne eine Vielzahl von Themen erkunden. Greife auf die Elementar-Bibliothek mit über 800.000 professionellen Titeln und Bestsellern aus den Bereichen Wirtschaft, Persönlichkeitsentwicklung und Geisteswissenschaften zu. Mit unbegrenzter Lesezeit und Standard-Vorlesefunktion.
  • Erweitert: Perfekt für Fortgeschrittene Studenten und Akademiker, die uneingeschränkten Zugriff benötigen. Schalte über 1,4 Mio. Bücher in Hunderten von Fachgebieten frei. Der Erweitert-Plan enthält außerdem fortgeschrittene Funktionen wie Premium Read Aloud und Research Assistant.
Beide Pläne können monatlich, alle 4 Monate oder jährlich abgerechnet werden.
Wir sind ein Online-Abodienst für Lehrbücher, bei dem du für weniger als den Preis eines einzelnen Buches pro Monat Zugang zu einer ganzen Online-Bibliothek erhältst. Mit über 1 Million Büchern zu über 1.000 verschiedenen Themen haben wir bestimmt alles, was du brauchst! Weitere Informationen hier.
Achte auf das Symbol zum Vorlesen in deinem nächsten Buch, um zu sehen, ob du es dir auch anhören kannst. Bei diesem Tool wird dir Text laut vorgelesen, wobei der Text beim Vorlesen auch grafisch hervorgehoben wird. Du kannst das Vorlesen jederzeit anhalten, beschleunigen und verlangsamen. Weitere Informationen hier.
Ja! Du kannst die Perlego-App sowohl auf iOS- als auch auf Android-Geräten verwenden, um jederzeit und überall zu lesen – sogar offline. Perfekt für den Weg zur Arbeit oder wenn du unterwegs bist.
Bitte beachte, dass wir keine Geräte unterstützen können, die mit iOS 13 oder Android 7 oder früheren Versionen laufen. Lerne mehr über die Nutzung der App.
Ja, du hast Zugang zu Das eigensinnige Kind von Wolfram Ette im PDF- und/oder ePub-Format sowie zu anderen beliebten Büchern aus Philosophie & Sozialphilosophie. Aus unserem Katalog stehen dir über 1 Million Bücher zur Verfügung.

Information

Jahr
2019
ISBN drucken
9783963171857
eBook-ISBN:
9783963177064
Kapitel 1: Zur Form und Überlieferung des Märchens
Ein sehr kurzer Text
Dieses Märchen ist wie ein Faustschlag, von einer Brutalität, der ich wenig an die Seite zu stellen wüsste. Zu einem Teil verdankt sich das seiner Kürze. Jedes literarische Genre lebt von einer mittleren Erwartungsdauer; die mag beträchtlich über- oder unterschritten werden, regelt aber dennoch die Wahrnehmung der Rezipienten. In diesem Märchen aber steht nicht bloß kein Wort zu viel, sondern eher stehen etliche zu wenig. Die Geschichte hört auf, ehe sie richtig angefangen hat, die Erwartung, die durch das »Es war einmal« sich aufbaut, sinkt in sich zusammen, ehe sie sich stabilisiert hat. Dazu ist ›Das eigensinnige Kind‹ frei von jeder Ironie, jeder aphoristischen Zuspitzung im Sinn des ›Er ward geboren, nahm ein Weib und starb‹. Es ist kein Kabarett, kein launiger Geburtstagsspruch, keine fröhliche Wissenschaft, sondern furchtbarer Ernst: die Quintessenz eines verlorenen Lebens, von dem es mehr nicht zu sagen gibt.
Die Kürze des Textes reproduziert die Kürze des in ihm geschilderten Lebens. Wie kurz war es? Handelt das Märchen vom Tod eines Penners oder vom Ende eines rebellierenden Jugendlichen? Schildert es die Geschichte eines Schulverweigerers oder erzählt es vom Totschlag eines schreienden Säuglings, angesichts dessen Mutter oder Vater die Nerven verloren? Wie auch immer: Das Leben, von dem hier berichtet wird, ist zu kurz.
Ein zweiter Grund für die verstörende Bündigkeit, mit der dieses kürzeste der Grimm’schen Märchen seine Bahn durchläuft, liegt in seiner kollektiven Verfasstheit. Das hat sich kein Einzelner ausgedacht, um eine Pointe zu landen. Die mündliche Tradierung schied vielmehr alles Unnötige aus und reduzierte den Erfahrungsgehalt auf die kürzestmögliche Form.
Nun haben Jacob und Wilhelm Grimm in den Text der ihnen mündlich mitgeteilten Märchen massiv eingegriffen. Im Einzelfall ist der Weg von der Transkription bis zur Ausgabe letzter Hand außerordentlich weit.1 Vor die historisch-dokumentarischen Interessen, die Reste einer im Volk sich selbst dichtenden Poesie zu bergen, schoben sich nach und nach künstlerische und pädagogische Intentionen2. In gewisser Weise spiegelt der Bearbeitungsprozess, den viele Märchen durchliefen, selbst das Verschwinden der kollektiven Überlieferung, die die Grimms durch ihre Sammeltätigkeit aufhalten wollten.
Dennoch ist diese Schicht in vielen Texten noch deutlich erkennbar. Das Märchen vom eigensinnigen Kind zeigt keine Spuren redaktioneller Eingriffe. Von der ersten Auflage bis zur Ausgabe letzter Hand ist es derselbe Wortlaut. Es ist ausformuliert, aber nicht auserzählt. Für ihn scheint doch zu gelten, dass die Grimms das Endprodukt eines kollektiven Verdichtungsprozesses aufnahmen, in dessen Verlauf alles, was sich in der mündlichen Erzählsituation nicht bewährte, vorab aussortiert worden war.3
Gute und böse Märchen
In der Märchensammlung der Brüder Grimm gibt es nicht wenige ›schlimme‹ Märchen – mehr jedenfalls, als den meisten bewusst sein dürfte.
»Einstmals hat ein Hausvater ein Schwein geschlachtet, das haben seine Kinder gesehen; als sie nun Nachmittag mit einander spielen wollen, hat das eine Kind zum andern gesagt: ›du sollst das Schweinchen und ich der Metzger seyn;‹ hat darauf ein bloß Messer genommen, und es seinem Brüderchen in den Hals gestoßen. Die Mutter, welche oben in der Stube saß und ihr jüngstes Kindlein in einem Zuber badete, hörte das Schreien ihres anderen Kindes, lief alsbald hinunter, und als sie sah, was vorgegangen, zog sie das Messer dem Kind aus dem Hals und stieß es im Zorn, dem andern Kind, welches der Metzger gewesen, ins Herz. Darauf lief sie alsbald nach der Stube und wollte sehen, was ihr Kind in dem Badezuber mache, aber es war unterdessen in dem Bad ertrunken; deßwegen dann die Frau so voller Angst ward, daß sie in Verzweifelung gerieth, sich von ihrem Gesinde nicht wollte trösten lassen, sondern sich selbst erhängte. Der Mann kam vom Felde und als er dies alles gesehen, hat er sich so betrübt, daß er kurz darauf gestorben ist.« (Brüder Grimm, Kinder- und Hausmärchen, Band 1, Berlin 1812, 103. Das Märchen findet sich nur in der ersten Ausgabe.)
Märchen wie dieses hat die sanfte Pädagogik nach 1968 aus unserem Gedächtnis entfernt; in der Furcht, sie könnten die Kinder traumatisieren oder ihnen zum schlechten Vorbild dienen. Doch auch die kanonischen Märchen werden zensiert. Dass die böse Mutter am Ende von ›Sneewittchen‹ in glühende Pantoffeln gesteckt wird und darin tanzen muss, bis sie tot umfällt, weiß kaum ein Kind mehr, und wenn ja, dann nicht aus den bearbeiteten Fassungen, die in den Regalen der Kinderzimmer stehen, nicht aus den Märchentheaterinszenierungen der Kindergärten und der Städtischen Bühnen in der Weihnachtszeit. Dass Hänsel und Gretel am Ende nur zum Vater zurückkehren, weil die Mutter in der Zwischenzeit gestorben ist (was die beunruhigende Frage nach dem Verhältnis von Mutter und Hexe, Verstoßen- und Gegessenwerden, aufwirft), ist zur Angelegenheit der Märchenforscher geworden.4
Die hinter solchen Flurbereinigungen stehende Pädagogik betrachtet die heranwachsenden Kinder im Prinzip als Container, die mit möglichst vielen guten und möglichst wenigen schlimmen Erfahrungen aufzufüllen seien. Sie gedieh auf dem Boden einer sozialstaatlichen Friedensordnung, die die Schrecken der Wirklichkeit ein wenig zurückdrängte und ihre Bearbeitung überflüssig erscheinen ließ. Jetzt, zu einem Zeitpunkt, da diese Ordnung zerfällt, da die Mafia den Sozialstaat ersetzt, neue Kriege heraufziehen und die Zukunft der menschlichen Gattung in Frage steht, erscheint diese Pädagogik anachronistisch. Ballerspiele ersetzen die mit viel gutem Willen desinfizierten Geschichten. Sie sind die wahren, wenn auch nicht legitimen Nachfolger der brutalen, bösen und pessimistischen Märchen aus der Sammlung der Gebrüder Grimm.
Freilich überwiegen in den ›Kinder- und Hausmärchen‹ die Geschichten, die Hoffnung machen. Unter ihnen lassen sich – idealtypisch – zwei Linien unterscheiden. Die erste wird durch die Märchen repräsentiert, die von psychischen Konflikten handeln und in denen – im weitesten Sinne – ein Entwicklungsprozess im Zentrum steht: ›Sneewittchen‹ oder ›Rapunzel‹ etwa gehören zu diesem Typus. In der zweiten Linie haben sich historische Erfahrungen niedergeschlagen. Sie wurzeln häufig in der frühen Neuzeit, reichen aber in Einzelfällen sehr viel weiter zurück. Es geht hier freilich nicht – oder nur höchst selten – um ein Entweder-Oder: beide Linien überkreuzen und überschneiden sich häufig in den einzelnen Märchen.
Jedenfalls werden in beiden Linien die Geschichten der ›Kleinen‹, der Erniedrigten, Umhergetriebenen und Verachteten erzählt – der Däumlinge und Dummlinge, also der schwarzen Schafe der Familie; der aus Lohn und Brot geworfenen, durchs Land irrenden Soldaten, die nichts verstehen außer dem Kriegshandwerk; der von ihrem Grund und Boden getrennten, in eine hochspezialisierte Tätigkeit gezwungenen ehemaligen Bauern –, die aufgrund ihres Urvertrauens in die Welt – aufgrund der Tatsache also, dass sie der Welt vertrauen, ohne sie zu kennen – gegen alle Wahrscheinlichkeit Karriere machen, zu Reichtum kommen, die schöne Königstochter heiraten usf.
Viele der Grimm’schen Märchen reflektieren historisch das Ende der germanischen Familien- und Gemeindeordnung. Der mittelalterliche Feudalismus hatte sie überformt, aber nicht zerstört.5 Die neuzeitlichen Verhältnisse – in Deutschland die Zerstörung der Familien durch den Dreißigjährigen Krieg, dann die Entstehung einer geldvermittelten Marktwirtschaft, deren Absurdität in einigen Märchen wie ›Hans im Glück‹ mit erheiterndem Befremden dargestellt wird – gehen ihr nun ans Leben. Wenn in diesen Märchen die Zurückgesetzten ihr Glück machen, dann artikuliert sich darin ein spezifischer Widerstand gegen diese historischen Zumutungen.
Jedoch scheint der Eigensinn, von dem in unserem Märchen die Rede ist, eines historischen Kontextes nicht zu bedürfen. Das Dorf mit der Mutter, der anonym belassenen Gemeinde und dem strafenden Gott über allem steht außer der Zeit. Eine, wie es scheint, überhistorische Familiensituation wird hier entworfen: Welche, wenn nicht eine psychoanalytische Interpretation, wäre hier am Platz? Zweifellos rückt dieser Aspekt durch den stark verdichteten Charakter des Märchens in den Vordergrund; das historisch Passagere, so die Annahme, wurde in diesem Fall durch den Überlieferungsprozess ausgeschaltet. Dennoch wirkt Geschichte wie ferner Schlachtenlärm in das Gebilde hinein. Wie in vielen anderen Märchen gibt es nur einen Elternteil – der Tod vieler Mütter bei der Geburt oder im Wochenbett, der Tod der Väter im Krieg waren die Gründe für die Beschädigung vieler Familien. Die Selbstverständlichkeit, mit der das hier wie anderswo ohne jede Begründungspflicht festgehalten wird, lässt erkennen, dass es sich um weit verbreitete Erfahrungen gehandelt haben muss.
Wie Kette und Schuss ungleicher Stärke sind das historische und das psychologische Moment in ›Das eigensinnige Kind‹ verwoben. Zu den Märchen, die gut enden, verhält es sich wie eine Hohlform, eine Transzendentalie des gesellschaftlichen Drucks, dem die Menschen ausgesetzt sind und waren. Es ist das tausendfache Schicksal des niedergeschlagenen Eigensinns der Zurückgebliebenen. Dieses Schicksal steht hinter jedem der Märchen, die wir so gerne hören, weil in ihnen den Schwachen einmal Glück und Gelingen beschieden ist. Jeder von den Eltern gering geschätzte Dummling, der die überhebliche Prinzessin zur Frau bekommt, jeder vagabundierende Landsknecht, der zu nie versiegendem Reichtum gelangt, trägt die Last der Vielen, denen es misslang und die von der Geschichte verschluckt wurden. ›Das eigensinnige Kind‹ beschreibt die Regel, die schönen Märchen erzählen von Ausnahmen.
Das Meretlein
1
Gottfried Kellers Geschichte von der kleinen Meret, die er auf den ersten Blick unverbunden mit dem Rest der Handlung in den ›Grünen Heinrich‹ eingeschleust hat, ist eine erste systematische Auserzählung des Märchens vom eigensinnigen Kinde.6 Ohne dass dieses genannt würde, scheint Kellers Text doch bis in die Details aus den Mechanismen und Triebkräften organisiert, die dem Grimm’schen Märchen zugrunde liegen.
Dabei ist die Rahmung eine ganz andere. Zunächst erzählt Heinrich Lee, der Erzähler dieses Romans, von seinem eigenen Eigensinn. Dieser Eigensinn wurde nicht restlos unterdrückt, ihm wurde erlaubt, sich in gewissem Umfang auszuleben. Es wird davon erzählt, dass es Heinrich unmöglich war, ein Tischgebet zu sprechen. Seine Hemmung scheint dabei weniger den Inhalt des christlichen Glaubens als das laute Sprechen, seinen Vollzug in einem aktuell oder potenziell öffentlichen Raum zum Gegenstand zu haben. »Es war Scham vor mir selber; ich konnte mich selbst nicht sprechen hören, und habe es auch nie mehr dazu gebracht, in der tiefsten Einsamkeit und Verborgenheit laut zu beten.« Die Mutter nimmt ihm daraufhin das Essen fort. »Nun sollst du nicht essen, bis du gebetest hast!« Heinrich bleibt bei seiner Weigerung, er kann das Tischgebet nicht sprechen und zieht sich »in große[r] Traurigkeit […], die mit einigem Trotze vermischt war«, zurück. Am Ende gibt die Mutter nach: »[A]ls jedoch die Stunde nahte, wo ich wieder zur Schule gehen sollte, brachte sie mein Essen, indem sie sich die Augen wischte, als ob ein Stäubchen darin wäre, wieder herein und sagte: ›Da kannst du essen, du eigensinniges Kind!‹, worauf ich meinerseits unter einem Ausbruche von Schluchzen und Tränen mich hinsetzte und es mir tapfer schmecken ließ«.
2
Die Geschichte vom kleinen Meretlein, die sich daran anschließt, ist dazu im Kontrast entworfen. Der Erzähler gibt vor, er habe sie der Chronik des Pfarrhauses in seinem Heimatdorf entnommen, wo sich die Geschichte etwa 100 Jahre vor der Zeit, von der er erzählt, zugetragen habe.
Zu dem damaligen Pfarrer sei nämlich ein kleines Mädchen von sieben Jahren geschickt worden, Meret geheißen, das »eine hartnäckige Abneigung gegen Gebet und Gottesdienst jeder Art zeigte, die Gebetbücher zerriß, welche man ihm gab, im Bette den Kopf in die Decke hüllte, wenn man ihm vorbetete, und kläglich zu schreien anfing, wenn man es in die düstere, kalte Kirche brachte, wo es sich vor dem schwarzen Manne auf der Kanzel zu fürchten vorgab«. Der Pfarrer, ein »dumpfer, harter Mann«, der wegen seiner Strenggläubigkeit bekannt war, möge es in seine Obhut nehmen und dafür sorgen, dass dieses Kind sich bessere. Vorher dürfe es nicht zu seinen Eltern zurückkehren. Es ist also derselbe Ausgangspunkt: ein Kind, das nicht in der Lage ist, den öffentlichen Erfordernissen der christlichen Religion zu entsprechen. Ob es gläubig ist oder nicht, lässt sich nicht sagen. Es ist jedenfalls nicht in der Lage, seinen Glauben zu demonstrieren.
Hinter dieser Geschichte steckt aber noch eine andere. Wir erfahren, dass die kleine Meret aus einer ersten, unglücklichen Ehe stammt, nach deren Auflösung sie nun bei der Mutter lebt. Letztere will die Tochter offenkundig loswerden und schickt sie zum Pfarrer. Das Kind erinnert sie an ihren ersten Mann. Von dessen Vater schreibt sie (in dieser Sache gewiss nicht unparteiisch), er sei ein »gottloser Wütherich und schlimmer Cavalier« gewesen, dessen Sünden nun auf die Kleine übergegangen seien. Meret ist ein Vaterkind, das nach der Trennung beim falschen Elternteil geblieben ist.
Darüber hinaus ist das Mädchen schön – verführerisch schön. So lautet die Fama des Dorfes: »Besonders hätte es erwachsene Mannspersonen verführt und es ihnen angetan, wenn es sie nur angeblickt, daß selbe sich sterblich in das kleine Kind verliebt und seinetwegen böse Händel angefangen hätten.« Diese Anziehungskraft fällt dem Erzähler auch beim Betrachten des Bildes auf, das die Mutter beim Pfarrer bestellt hatte, dann aber doch nicht zu sich nach Hause nehmen wollte. »Ein schweres Leiden schien dem ganzen Gesichte etwas Frühreifes und Frauenhaftes zu verleihen und erregte in dem Beschauenden eine unwillkürliche Sehnsucht, das lebendige Kind zu sehen, ihm schmeicheln und es liebkosen zu dürfen.« Auch durch den Bericht des Pfarrers läuft ein libidinöser Unterstrom. So muss er sich gegen die übergriffige Teilnahme des Schulmeisters am Meretlein zur Wehr setzen. »Kam ein großer, starker Schlingel, der junge Müllerhans, und richtete mir Händel an von wegen der Meret, welche er alltäglich schreien und heulen zu hören vorgegeben, und disputirte ich mit demselben, als auch der junge Schulmeister, der Tropf, herankam und drohete, mich zu verklagen, und fiel über die schlimme Creatur her, herzete und küssete sie etc. etc.« Man fragt sich, was das »etcetera« hier meint.7
Vielleicht ist auch dies der Mutter ein Dorn im Auge. Wie in ›Sneewittchen‹ schickt sie das Kind in dem Moment fort, in dem es zur Frau erwacht und eine mögliche erotische Konkurrenz darstellen könnte. Und wie in ...

Inhaltsverzeichnis

  1. Einleitung
  2. Kapitel 1: Zur Form und Überlieferung des Märchens
  3. Kapitel 2: Niederschlagung
  4. Kapitel 3: Subversion
  5. Kapitel 4: Ambivalenz
  6. Kapitel 5: Amok
  7. Zwischenbemerkung: Vormoderne und Nachmoderne
  8. Kapitel 6: Diffusion
  9. Kapitel 7: Narrative der Indifferenz
  10. Endnoten