Wie wir uns Wirklich auf den Menschen fokussieren können
Leitung: Michael Brinkmeier, Eckhard Nagel
Teilnehmer*innen am Konsilium:
Erika Baum
Michael Brinkmeier
Markus Müschenich
Thorsten Schäfer
Andreas Storm
Raymond Voltz*
*siehe Mitglieder des Expertengremiums am Ende des Buches.
1. Fallvorstellung:
Herzinsuffizienz – wenn der Patient ohne ausreichende Unterstützung sich selbst überlassen wird
Habe Mut, dich deines eigenen Wissens und des Wissens deiner behandelnden Ärzt*innen und medizinischen Betreuer so zu bedienen, dass du autonom und selbstbewusst entscheiden kannst, welche Art von Behandlung du für dich bevorzugst. So könnte der abgewandelte Kant’sche Imperativ übertragen auf das Gesundheitssystem lauten. Worum dreht sich die ganze, zuletzt jährlich 411 Milliarden Euro teure Einrichtung unseres durchaus auch weitgehend gut funktionierenden Gesundheitssystems mit seinen fast sechs Millionen Beschäftigten letztlich? Um die Behandlung und weitere Gesunderhaltung des Menschen, der Patient*in. Das ist Kernelement und Auftrag an eine Institution der Daseinsfürsorge: Gesundheit zu fördern, Menschen zu heilen und Menschen zu befähigen und zu ermutigen, nach einer Erkrankung ihr bisheriges Leben weiterführen zu können.
Das heißt, dass unser mittlerweile hochkomplexes Gesundheitssystem um eben dieses Kernanliegen herum gebaut wurde und daraus seine Existenzberechtigung erfährt: Hier helfen Menschen mit professioneller Kompetenz anderen Menschen in Notlagen, seien sie physischer oder psychischer Art, seien sie durch Unfälle, schwere Erkrankungen, mehr oder weniger gravierende Beschwerden jeglicher Art verursacht.
Es braucht eine Neue Menschlichkeit
Es ist indes ein anderes Verständnis von Menschlichkeit, das im Medizinbereich an oberster Stelle stehen sollte. Ein anderes als zum Beispiel das des Kunden in einer Bäckerei oder in der Autowerkstatt, der zwar auch nicht kaltherzig abgefertigt werden möchte – aber er hat jederzeit die freie Wahl des Anbieterwechsels. Menschen hingegen, die medizinische Behandlung suchen, sind verletzlich, hilfsbedürftig, oft unwissend, welche Entscheidungen sie für sich selbst treffen könnten und sollten. Sie sind also zuallererst auf die menschliche Zuwendung ihres ersten Ansprechpartners – meistens Ärzt*in – angewiesen. Die Neue Menschlichkeit innerhalb eines inzwischen überkomplexen Gesundheitssystems, in dessen Dschungel von parzellierten Zuständigkeiten sich ein uninformierter Laie nur noch verlaufen kann, bedarf dringend einer Rundumerneuerung, die die Patient*in, also den Menschen, wieder in den Fokus rückt. Das Gesundheitssystem als gegenüber den gesellschaftlichen Entwicklungen weithin resistentes und geschlossenes System bedarf einer Transformation, wie sie die Wirtschaft mit ihren Industrieunternehmen seit einigen Jahrzehnten schon längst in Angriff genommen hat. Heute steht »Industrie 4.0« auf der Agenda, aber unser Gesundheitssystem bewegt sich immer noch auf dem Level 1.0.
Mensch jenseits von Effizienz
Schon vor mehr als 30 Jahren haben Wirtschaftsunternehmen erkannt, dass der Mensch nicht nur mehr als Rädchen in einer auf Effizienz getrimmten Produktionsmaschinerie betrachtet werden darf, sondern dass »der Mensch in den Mittelpunkt« der ganzen Veranstaltung Wirtschaft gerückt gehört. Als eigenständiger, zunehmend besser gebildeter und autonomer Gestalter seines (Berufs-)Lebens mit all seinen Bedürfnissen. Einer, der sich mit alten Befehls- und Gehorsamsregeln und klaglos hingenommenen Abhängigkeitsverhältnissen nicht mehr abzufinden bereit ist.
Im Gesundheitswesen dreht sich zwar ebenfalls nach wie vor alles um »den Menschen« und seine Befindlichkeiten, Erkrankungen und sonstigen Bedürfnisse. Sowohl von den Hauptbetroffenen her betrachtet, den Patient*innen, als auch von den unzähligen medizinischen Fachleuten her gesehen, die das Funktionieren dieses Systems mit ihrer Expertise und ihrem Sachverstand gewährleisten. Aber auch das sind Menschen, die sich im Umgang miteinander und in ihrer Verantwortung für ihre Patient*innen arbeitsfreundlichere, zugewandtere – menschlichere – Formen der Zusammenarbeit wünschen.
Aber bleiben wir zunächst bei der Patient*in, um die sich letztlich die ganzen Anstrengungen und Milliardenkosten drehen. Was mit ihr im Einzelnen passiert, steht nicht in seinem eigenen Ermessen. Die Patient*in ist bis heute ein kleines Rädchen im Getriebe eines undurchsichtig geratenen Medizinbetriebs, in welchem jede Chance, dieses für sie so elementar wichtige Räderwerk zu verstehen, bei jedem Versorgungsschritt eher minimiert denn vergrößert wird.
Jetzt aber heißt es: Wir wollen als Erstes »den Menschen wieder in den Mittelpunkt« rücken, die Patient*in in einer neuen Form »empowern«, also ihr die Sicherheit geben, dass sie nicht ein schlichtes Rädchen ist, sondern das informierte und selbstbestimmte Subjekt der Versorgung. Umso leichter fällt ihr dann die Entscheidung, welche Schritte in den vorgeschlagenen Therapieempfehlungen er oder sie mitgehen möchte und welche nicht. Kurz, die Patient*innen sind nicht Kunde wie in der Bäckerei oder in der Autowerkstatt, aber durchaus eine Art König. Allerdings nur, wenn dieser bisher unmündige Patient professionell begleitet wird und Wahlmöglichkeiten aufgezeigt bekommt, für die es eine hervorragende – wenn auch bisher nur inselhaft verankerte – Einrichtung gibt: ein Lotsensystem.
2. Sprechstunde: Anamnese
Nicht nur für Markus Müschenich ist der Begriff Neue Menschlichkeit der Dreh- und Angelpunkt, um den herum angeordnet das Gesamtsystem erst richtig gut funktionieren und seine Stärken ausspielen kann. Zum Wohle aller Patient*innen und der in diesem System Arbeitenden. »Menschlichkeit kommt in der Wertschätzung und im Ernstnehmen des Patienten zum Vorschein – und in dem Versprechen, das Bestmögliche für ihn zu tun. Im Gesundheitswesen hat Menschlichkeit viele Facetten. Sie zeigt sich in einer Arztpraxis, die dem Patienten schnell einen Termin gibt, wenn er ihn dringend braucht. Sie zeigt sich in einem freundlichen Telefonat mit einer Medizinischen Fachangestellten. Sie zeigt sich, wenn jemand da ist, der einem ängstlichen oder einem sterbenden Patienten die Hand hält. Kurz: Menschlichkeit ist die Antwort auf das Bedürfnis eines Patienten, die auch seine Sorgen und Ängste in den Blick nimmt. Das würde ich mir auch als Patient selbst wünschen: wertgeschätzt und ernst genommen zu werden.«
Ehrlichkeit, Wertschätzung und Hilfsbereitschaft – diese drei Begriffe zeichnen einen menschlichen Umgang im Gesundheitswesen aus. Vielfach geht in unserem Gesundheitswesen aber ein Stück Menschlichkeit verloren: etwa, wenn vom Kunden die Rede ist oder es keine langfristige Beziehung zwischen Ärzt*in und Patient*in mehr gibt und damit die Kontinuität in der Versorgung nicht mehr gewährleistet ist.
Müschenich und seine Mitstreiter für ein gesundes Gesundheitssystem halten nicht allzu viel davon, jeweils den auch im System dominanten Faktor Ökonomie zum Alleinschuldigen für dessen Fehlfunktionen anzuklagen. Ökonomie versus gute Medizin – das ist oftmals nur ein konstruierter Widerspruch. Aus ihrer Sicht steckt vielmehr zuvörderst ein bestimmtes Mindset-Thema dahinter. »Wenn ich meinen Profit maximieren will und glaube, dafür Patienten schlecht behandeln zu müssen, kann ich das mit tagesgleichen Pflegesätzen genauso tun wie mit Diagnosis Related Groups. Man kann teure Medikamente schlecht einsetzen und mit teuren Skalpellen unsauber arbeiten. Ich glaube, dass es eher die Haltung dahinter ist, die unser Gesundheitswesen unmenschlich macht. Vielfach wird Patienten vermittelt, dass sie dankbar sein sollen für unser gutes Gesundheitswesen. Daraus ergibt sich dann leicht der Fehlschluss, dass ein Patient ein paar Stunden warten kann oder sich nicht über Unfreundlichkeit beschweren darf. Man findet aber überall schwarze und weiße Schafe.«
Miteinander reden – auch über Status- und Sektorengrenzen hinaus
Ein weiterer Faktor steht dem zentralen Anspruch der Menschlichkeit nicht selten im Wege: Wenn die Wertschätzung und damit auch die Kommunikation der Kolleg*innen untereinander nicht funktioniert, bleibt die Menschlichkeit ebenfalls auf der Strecke. Ideal wäre, wenn jeder sich als Puzzlestein verstehen kann, der für ein Gesamtbild der Menschlichkeit gebraucht wird. Dann geht es nicht mehr um die Frage, wer wichtiger ist. Ein guter Operateur kann zwar unmittelbar Leben retten, aber wenn die Putzfrau nicht gründlich arbeitet und sich Krankenhauskeime ausbreiten können, hilft das am Ende auch niemandem. Mangelnde Kommunikation und Koordination sowie die Abgrenzung einzelner Sektoren erfahren Patient*innen immer wieder. Das führt dazu, dass sie nicht immer die beste passende Therapie erhalten. Zum Beispiel bei der Abwägung, ob eine stationäre oder eine ambulante Versorgung im Einzelfall die bessere Lösung ist. Jeder hat seine eigene Schublade im Kopf und denkt bis an die Grenze seines Gebietes. Die Patient*innen sind in diesem System allein und müssen sich zurechtfinden. Man bräuchte an vielen Stellen einen Lotsen, der die Menschen durch das System führt.
3. Sprechstunde: Therapien, Prognosen
Als sozusagen Erste-Hilfe-Maßnahme würde Müschenich Patient-Reported-Outcome-Systeme einführen. »Mit ihnen können wir die Qualität messen über das, was der Patient selbst sagt, und nicht über das, was technisch ablesbar ist oder was der Operateur angibt.« Dazu zählen zum Beispiel körperliche und psychische Symptome und Beschwerden oder die soziale Wiedereinbindung. Diese Kriterien für die Patientenbefragung haben in den letzten Jahren in der medizinischen Forschung an Relevanz gewonnen und werden jetzt häufiger in Studien, aber zum Beispiel auch im Rahmen von klinischer Diagnostik eingesetzt. Das würde zu mehr Patientenfokussierung im System führen.
Ein zukunftsträchtiges Beispiel für diese Fokussierung im Zusammenklang mit einem Lotsensystem bietet die Deutsche Schlaganfall-Hilfe. Dieser besondere Fall einer schweren Gesundheitsstörung markiert eine komplexe Lebenslage, nicht nur rein körperlich betrachtet. Michael Brinkmeier kommt aus einem ländlichen Bereich Westfalens, wo die dörfliche Tradition einer Vielzahl von Kümmerern bestand, die ein wachsames Auge auf ihre Mitbürgerinnen und Mitbürger hatten: Polizist*innen, Ärzt*innen, Pfarrer, Wirte, Lehrer*innen oder die Gemeindeschwester. Alle diese Kümmerer waren nahe bei den Menschen, sie halfen und unterstützten – ganz nach der Devise: Mitmenschlichkeit zuerst. Leider hat sich innerhalb einer Generation diese Struktur in der Fläche verflüchtigt und kommt nur noch im Vorabendprogramm vor: Im echten Leben gibt es kaum noch professionelle Vertrauenspersonen des Alltags, nur noch 0800-Nummern und Pflegestützpunkte irgendwo in der entfernten Stadt. Das Nachsehen h...