Ohnmacht in der Demokratie
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Ohnmacht in der Demokratie

Das gebrochene Versprechen politischer Teilhabe

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Ohnmacht in der Demokratie

Das gebrochene Versprechen politischer Teilhabe

Über dieses Buch

Die Demokratie ist durch ein nur begrenzt eingelöstes allgemeines Gleichheits- und Partizipationsversprechen gekennzeichnet: Viele Menschen fühlen sich politisch handlungsunfähig und haben den Eindruck, kein Gehör zu finden oder nicht repräsentiert zu werden. Am Beispiel der Situation von Geflüchteten in Deutschland zeigt Nikolai Huke die Ursachen und Folgen dieser Schieflage auf. Die Konfrontation mit Macht- und Herrschaftsverhältnissen im privaten Alltag, in Behörden und in der Arbeitswelt, so die These, erfahren Subalterne als Ohnmacht. Politisches Engagement erscheint ihnen infolgedessen wenig erfolgversprechend. Demokratische Partizipation wird dadurch sozial selektiv und die Demokratie grundlegend unterminiert.

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1Einleitung


»Es gibt keine Ohnmacht in der Demokratie. Es gibt keine Ohnmacht! Und ich sage es noch einmal, Deutschland hat die lebendigste Demokratie dieses Kontinents.«
(Ziegler 2017)

»Wir haben unsere Stimme erhoben. […] Wir haben unser demokratisches Recht genutzt, auf die Straße zu gehen und zu demonstrieren. […] Aber es bringt nichts.«
(Tahir K. zit.n. Frisius 2019)
»Der Mensch ist frei, demokratisch über sich selbst zu herrschen«, so lässt sich in Anlehnung an Jean-Jacques Rousseau ein konstitutiver Widerspruch gegenwärtiger Demokratien beschreiben, »doch überall fühlt er sich ohnmächtig«. Demokratie soll allen Bürger*innen eine gleichberechtigte Teilhabe sichern. Jede*r hat eine Stimme – und alle Stimmen zählen gleich viel, so ließe sich das Grundprinzip knapp und etwas verkürzt beschreiben. Politische Entscheidungen können dadurch von jedem Individuum beeinflusst und mitgeprägt werden. Ohnmacht – im Sinne von »Schwäche, Machtlosigkeit, Unmöglichkeit zu handeln« (DUDEN 2021) – ist in diesem Sinne ausgeschlossen: »Es gibt keine Ohnmacht!«. Der demos ist, so die Annahme, eine Ansammlung mündiger und politisch handlungsfähiger Bürger*innen, deren Stimme zählt und die sich aktiv und erfolgreich an politischen Entscheidungsprozessen beteiligen können. Empirisch nehmen viele Menschen ihre eigene Situation jedoch deutlich anders wahr. Selbst dort, wo Menschen sich aktiv politisch engagieren bleibt am Ende vielfach der Eindruck: »Aber es bringt nichts« (vgl. auch Huke 2016). Anspruch und empirische Realität der Demokratie fallen mit Blick auf Ohnmachtserfahrungen sehr deutlich auseinander. »Achselzuckende Resignation« (Nachtwey 2016: 145), »innere Kapitulation« (Biebrich und Kuhl 2004: 58) und »Demokratiedistanz« (Stocker 2014) prägen bei Teilen des demos den Umgang mit politischen Entscheidungsprozessen.
Dieser Rückzug aus der Politik ist eng mit sozialer Ungleichheit verwoben. Insbesondere »untere soziale Schichten«, so zeigt etwa Armin Schäfer, haben zunehmend »geringe Aufstiegshoffnungen und wenden sich resigniert von der Politik ab […]. Die im Wettbewerb Unterlegenen verzichten auf politische Partizipation, weil sie nicht mehr glauben, durch Politik ihre Lage verbessern zu können. An die Stelle des Protests gegen Ungleichheit treten Resignation und politische Apathie« (Schäfer 2008: 38). Das »Gefühl der Exklusion, so könnte man daraus schließen, ist bei vielen kein Ansporn zur aktiven Veränderung des eigenen Status quo, sondern eher ein Grund zur Resignation« (dimap 2017: 28). Die soziale Spreizung der Partizipation hat dabei im Zeitverlauf seit den 1970er Jahren deutlich zugenommen (Schäfer 2013a). Entsprechende Unterschiede in der politischen Beteiligung führen dazu, »dass nicht alle Interessen die gleiche Chance haben, im Entscheidungsprozess berücksichtigt zu werden« (ebd.: 553). In der Folge »verstärkt sich der Einfluss von einkommensstarken Haushalten, während zugleich die Gefahr einer Vernachlässigung der Belange einkommensarmer Haushalte zunimmt« (Volkert 2008: 56). Demokratie verspricht »Gleichheit für alle […], [ist] in Wahrheit jedoch mit wachsender Ungleichheit konfrontiert« (Foroutan 2019: 22). Die Prozessierung der Konflikte auf dem Terrain des Staates wird nicht nur »strategisch« (Jessop 1999) selektiver, sondern auch sozial: Es dominieren nicht nur bestimmte Handlungsroutinen den politischen Umgang mit ungleichen alltäglichen Lebensbedingungen, sondern auch bestimmte Teile des demos – jene, die sich alltäglich aufgrund ihrer gesellschaftlichen Position selbst als anspruchsberechtigt und handlungsfähig erleben. Das Versprechen gleicher demokratischer Teilhabe existiert offensichtlich nur in gebrochener Form, als selektiv eingelöster Anspruch. Es ist in mehrfachem Wortsinne gebrochen: Es ist ›nicht eingelöst worden‹, aber auch bruchstückhaft und bricht sich an gesellschaftlichen Macht- und Herrschaftsverhältnissen.
Ohnmachtserfahrungen und eine damit einhergehende Distanz zu politischen Prozessen sind jedoch nicht allein auf sozioökonomisch marginalisierte Teile des demos beschränkt, sondern auch über diese hinaus gesellschaftlich weit verbreitet. So glauben etwa dem Sachsen-Monitor aus dem Jahr 2017 zufolge nur 20 Prozent der Befragten, dass Regierungen soziale Ungleichheit abbauen. Gleichzeitig halten 94 Prozent das für einen sehr oder eher wichtigen Aspekt von Demokratie (dimap 2017: 20). 72 Prozent der Befragten glauben, dass die Politiker*innen »nur die Stimmen der Wähler [wollen], die Ansichten der Wähler interessieren sie nicht«. Jeweils 68 Prozent stimmen den Aussagen »Wir haben keine echte Demokratie, weil die Wirtschaft und nicht die Parlamente das Sagen« haben; »Leute wie ich haben so oder so keinen Einfluss darauf, was die Regierung tut« und »Wichtige politische Fragen kann ich gut verstehen und einschätzen« voll oder eher zu. Dass die meisten Politiker*innen sich darum kümmern, »was einfache Leute denken« halten hingegen nur 21 Prozent für voll oder eher zutreffend (ebd.: 27). Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, »ob erhebliche Teile der Gesellschaft überhaupt noch politisch repräsentiert werden« (Thaa 2009: 75).
Die Frage, wie und unter welchen Bedingungen sich Exklusion, Ungleichheit und Marginalisierung in Resignation, Apathie, Kapitulation und Demokratiedistanz übersetzen, ist für Demokratie vor diesem Hintergrund eine drängende und existenzielle. Es überrascht daher, dass sie bisher in der demokratietheoretischen Debatte kaum eine systematische Rolle spielt. Zwar bekräftigen quantitative Studien immer wieder die Existenz des Problems politischer Apathie und seine manifesten Ausprägungen. Bei der Debatte um Krisen der Demokratie wird jedoch anschließend der Blick zumeist auf Institutionen der liberalen Demokratie und die Frage ihrer Legitimität gerichtet (Merkel 2015). Die subjektive Dimension, das heißt warum und unter welchen Bedingungen sich Menschen bewusst oder unbewusst gegen eine politische Partizipation in der Demokratie entscheiden, bleibt unbeachtet. Das Problem, so scheint es, ist nicht in erster Linie, dass Demokratie offensichtlich in der Wahrnehmung der Bürger*innen keine gleichberechtigte Teilhabe sichert, sondern dass staatliche Herrschaft nicht mehr auf ausreichend Zustimmung stößt und dadurch instabil wird. In der Tendenz sind die staatlichen Institutionen – und nicht die Subjekte des demos und ihre Ohnmachtserfahrungen – das Zentrum, von dem aus über Probleme der Demokratie nachgedacht wird. In der Folge steht in der Demokratieforschung meist eher die Frage im Mittelpunkt, wie die Legitimität der bestehenden Institutionen gestärkt und wiederhergestellt werden kann – während sie die Frage ausblendet, was die gesellschaftlichen Voraussetzungen dafür wären, nicht nur dem Anspruch nach, sondern auch real eine gleiche Teilhabe aller zu ermöglichen.
Das vorliegende Buch nimmt demgegenüber einen Perspektivwechsel vor. Es stellt alltägliche Erfahrungen von Ohnmacht in den Mittelpunkt, fragt nach deren politischen Konsequenzen und erweitert vor diesem Hintergrund theoretisch den Blickwinkel auf Demokratie. Das Versprechen demokratischer Gleichheit, so zeigt diese Perspektive einer »subjektorientierte[n] Gesellschaftstheorie« (Candeias 2011: 6), bricht sich im Alltag kontinuierlich an gesellschaftlicher Ungleichheit. Resignation, Apathie, Kapitulation und Demokratiedistanz stellen sich als biographischer Effekt iterativ wiederholter Ohnmachtserfahrungen in unterschiedlichen Lebensbereichen her – sei es im privaten Alltag, in Behörden oder in der Arbeitswelt. Ursache der Ohnmachtserfahrungen sind gesellschaftliche Macht- und Herrschaftsverhältnisse entlang vielfältiger »Achsen der Ungleichheit« (Klinger et al. 2007), durch die relevante Teile des alltäglichen Lebens nicht nur dem demokratischen Zugriff weitgehend entzogen, sondern hierarchisch und autoritär geprägt sind (z.B. die Arbeitswelt). Im Alltag machen Menschen – je nach sozialer Position in unterschiedlicher Art und Weise – dadurch immer wieder die Erfahrung, dass ihre Bedürfnisse nicht zählen und dass sie kaum einen oder keinen Einfluss auf die sie umgebenden Verhältnisse haben.
Demokratie ist somit kein Zustand, sondern muss als umkämpfter »gesellschaftliche[r] Prozess der Demokratisierung« (Lessenich 2019: 37) gedacht werden, als »beständiger Kampf um Berechtigung, […] um die Öffnung und Schließung, Ausweitung und Einschränkung sozialer Berechtigungsräume, der auf diversen Schauplätzen stattfindet und sich entlang vielfältiger Konfliktlinien vollzieht« (Lessenich 2019: 37). Ein demokratiepolitisch zentraler Aspekt in diesen Kämpfen sind die Ohnmacht und die Handlungsmöglichkeiten derjenigen, die institutionell (noch) nicht repräsentiert werden – etwa, weil sie, wie Geflüchtete, staatlicherseits nicht als Teil des demos gezählt werden:
»So wurden die bürgerlichen Rechte par excellence, die Selbstbestimmungsrechte über die eigene Person, im Verlauf der Geschichte der Moderne nur langsam und Schritt für Schritt verallgemeinert: Ob nun Meinungs- oder Religions, Versammlungs- oder Vereinigungsfreiheit, die Freiheit zum Vertragsabschluss oder der Berufswahl: Sie alle waren lange Zeit nur bestimmten Bevölkerungsgruppen vorbehalten, wurden zu allen demokratiehistorischen Zeiten immer wieder eingeschränkt.« (Lessenich 2019: 41)
Ohnmachtserfahrungen erschweren es, dass »private soziale Bedürfnisse in kollektive politische Forderungen verwandelt [werden]« (Espinar und Abellán 2012: 147). Menschen, die sich politisch perspektiv- und chancenlos fühlen, so zeigen exemplarisch etwa Menz und Nies (2019), tendieren dazu, ihre Ansprüche präventiv zurückzunehmen. Ein Teil der vielfältigen Bedürfnisse des demos wird dadurch nicht nur politisch nicht repräsentiert, sondern zudem öffentlich weitgehend unsichtbar. Es entstehen »demokratieferne Räume« (Richter und Bösch 2017) und Lebenswelten, die von demokratischen Aushandlungsprozessen weitgehend entkoppelt sind. Zwischen alltäglichen Erfahrungen und Politik tut sich eine Kluft auf, die Demokratie existenziell zu gefährden droht (Deppe 1993: 45). Auf der einen Seite verstärkt sich das Gefühl, die Demokratie habe mit dem eigenen Leben nicht oder nur wenig zu tun. Auf der anderen Seite verlieren staatliche Institutionen an Kontakt zu alltäglichen Lebensrealitäten, werden weniger responsiv (Elsässer 2018) und verhärten sich (Huke 2017). Beide Dynamiken verstärken sich potenziell wechselseitig und wirken als Teufelskreis (Huke und Wigger 2019). Der für eine lebendige Demokratie zentrale Prozess einer kontinuierlichen Erneuerung und »Demokratisierung der Demokratie« (Marchart 2015) gerät ins Stocken oder kommt sogar vollständig zum Erliegen.
Warum, so fragt das Buch vor diesem Hintergrund, erfahren sich Menschen als ohnmächtig und außerstande, politisch Gehör zu finden und Einfluss zu nehmen? Welche gesellschaftlichen Bedingungen rufen Ohnmachtserfahrungen hervor? Was bedeutet es für ein Verständnis von Demokratie, dass ein Teil der Menschen sich politisch ohnmächtig fühlt? Welche Folgen resultieren daraus für ein theoretisches Verständnis von Demokratie? Wie muss Demokratie gedacht werden, wenn mündige und politisch handlungsfähige Bürger*innen nicht a priori vorausgesetzt werden können, sondern erst ein Produkt bestimmter gesellschaftlicher Verhältnisse sind? Wie kann politische Handlungsfähigkeit aller – und damit eine gleichberechtigte demokratische Teilhabe – gesichert und durchgesetzt werden? Gesellschaftliche Macht- und Herrschaftsverhältnisse werden dadurch, in ihren empirischen Konsequenzen für alltägliche Lebensbedingungen, zu einem zentralen Moment der Analyse.
Als empirische Grundlage, um nachzuvollziehen, wie und unter welchen Bedingungen sich Exklusion, Ungleichheit und Marginalisierung in Resignation, Apathie, Kapitulation und Demokratiedistanz übersetzen, dienen qualitative Interviews mit professionellen Beratungsstellen, Behörden, Ehrenamtlichen, Gewerkschaften und politischen Aktivist*innen über den Alltag von Geflüchteten in Deutschland, die im Rahmen des durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) geförderten Projekt »Willkommenskultur und Demokratie in Deutschland« geführt wurden. In ihnen werden vielfältige Modi der alltäglichen Produktion politischer Ohnmacht sichtbar. Die Erfahrungen der Geflüchteten, so eine Grundthese des Buchs, zeigen in verdichteter Form, wie alltägliche Erfahrungen und Lebensbedingungen die Möglichkeiten politischer Partizipation einschränken. Sie machen wie in einem Brennglas sichtbar, auf welche Weise Macht- und Herrschaftsverhältnisse im Alltag politische Handlungsfähigkeit und mit dieser auch Demokratie grundlegend unterminieren sowie achselzuckende Resignation, innere Kapitulation oder Demokratiedistanz begünstigen.
Auch wenn Geflüchtete empirisch im Mittelpunkt dieses Buchs stehen, ist es in erster Linie kein Buch über Geflüchtete. Ziel ist es nicht, die Situation von Geflüchteten in Deutschland und deren Besonderheiten im Vergleich zu anderen Gruppen in der Gesellschaft hervorzuheben. Es geht vielmehr darum, die Geflüchteten als Teil der Gesellschaft in den Blick zu nehmen und danach zu fragen, was die Erfahrungen von Geflüchteten exemplarisch über den Zustand der Demokratie und insbesondere Ohnmachtserfahrungen und Grenzen politischer Handlungsfähigkeit verraten. Wie es eine Interviewpartnerin in einem Dokumentarfilm von Anne Frisius formuliert, sind
»diese Menschen […] von allen Problemen betroffen, die alle deutschen Staatsbürger auch haben und zusätzlich […] kommen noch […] [zahlreiche] Ebenen von Problemen hinzu. Also wenn man etwas tun will für Menschen auf Arbeitssuche, wenn man etwas tun will für Frauen: Das betrifft Geflüchtete alles in gleichem Maße.« (Frisius 2019)
Zwar weist die Situation von Geflüchteten eine Reihe von Besonderheiten auf (z.B. Staatsbürgerschaft, Aufenthaltsstatus), sie enthält jedoch in zugespitzter Form viele der Konflikt- und Problemlagen, die auch – in je unterschiedlicher Intensität und Art und Weise – den Alltag anderer Teile der Bevölkerung charakterisieren: »Mangelnde Anerkennung, fehlende Chancengleichheit und nicht gegebene Teilhabe […] betreffen […] weit mehr Menschen« (Foroutan 2019: 48). Die in den empirischen Kapiteln nachgezeichneten, von Geflüchteten gemachten Erfahrungen, so wird deutlich, erweitern auch das Verständnis für die Situation anderer innerhalb der Demokratie von Ausschluss bedrohter Gruppen – auch wenn sie sich nicht immer vollumfänglich übertragen lassen.
Das Buch ist in vier Abschnitte gegliedert: Der erste Abschnitt rekonstruiert fünf Perspektiven auf Volksherrschaft oder Demokratie: vom autoritären Populismus über staatstragende und liberale Verständnisse von Demokratie bis hin zu deliberativen und radikaldemokratischen Ansätzen. Zentral für die Rekonstruktion ist die Frage, welche Formen der politischen Ungleichheit für die jeweiligen Verständnisse implizit oder explizit konstitutiv sind – und wie diese mit Ohnmachtserfahrungen verbunden sind. Welche Ohnmachtserfahrungen lassen sich aus der jeweiligen Perspektive in der Demokratie beobachten? In welchem Verhältnis stehen sie zu sozialer Ungleichheit entlang gesellschaftlicher Macht- und Herrschaftsverhältnisse? Wie wirken Ohnmachtserfahrungen und welche Dynamiken werden durch sie ausgelöst? Am Beispiel jedes Demokratieverständnisses wird jeweils ein spezifischer Teufelskreis sichtbar, in dem sich Ohnmachtserfahrungen und Krisenprozesse der Demokratie wechselseitig verstärken. Ohnmacht, so zeigt das Kapitel damit übergreifend, ist für Demokratie und politische Gleichheit eine existenzielle Bedrohung.
Der daran anschließende zweite Abschnitt rekonstruiert in einer theoretischen Spurensuche die politischen Effekte von Ohnmacht. Er zeigt, wie gesellschaftliche Macht- und Herrschaftsverhältnisse in alltäglichen Situationen für bestimmte Gruppen in der Bevölkerung systematisch bestimmte Erfahrungen hervorbringen: Kein Gehör zu finden und die eigenen Erfahrungen innerhalb der herrschenden Diskurse nicht ausdrücken zu können; den Dynamiken der Gesellschaft scheinbar machtlos gegenüberzustehen; immer wieder die Erfahrung zu machen, auf eine bestimmte soziale Position innerhalb der Gesellschaft verwiesen zu werden; auf sich selbst zurückgeworfen zu sein und keinen kollektiven politischen Ausdruck für die eigenen Erfahrungen zu finden oder aufgrund fehlender Handlungsressourcen in konkreten Situation ohnmächtig zu sein, woraus auf Dauer eine resignative Grundhaltung entsteht. Situationen sind dabei jedoch nicht durch Macht- und Herrschaftsverhältnisse determiniert, sie weisen stets ein Moment der Spontaneität und Unberechenbarkeit auf, das Spielräume für eigensinniges Handeln lässt. Die innerhalb der Demokratie beobachteten Ohnmachtserfahrungen verweisen damit nicht nur auf institutionelle Probleme der Prozeduralisierung von Volksherrschaft, sondern werfen grundlegende Fragen in Bezug auf die Möglichkeit politischer Gleichheit in einer von Ungleichheit durchzogenen Gesellschaft auf.
Der dritte Abschnitt zeigt am Beispiel der Situation von Geflüchteten in Deutschland daran anschließend empirisch, wie Ohnmachtserfahrungen entstehen und mit welchen politischen Konsequenzen sie verbunden sind. Grundlage sind 64 qualitative problemzentrierte Interviews, die im Rahmen des durch das BMBF geförderten Verbundprojekts »Willkommenskultur und Demokratie in Deutschland« geführt wurden. Das Leben von Geflüchteten, so wird deutlich, ist vielfach ein ausgegrenztes, ungleich behandeltes, abgewertetes, unverstandenes, fremdes, vereinzeltes, überfordertes, perspektivloses, gefährdetes, verunsichertes, abhängiges und ausgelie...

Inhaltsverzeichnis

  1. Cover
  2. Titelseite
  3. Impressum
  4. Inhalt
  5. Danksagung
  6. 1 Einleitung
  7. 2 Das gebrochene Versprechen politischer Teilhabe
  8. 3 Der Ohnmacht der Subalternen auf der Spur
  9. 4 Alltägliche Ohnmacht, alltagsfremde Demokratie
  10. 5 Das Versprechen politischer Teilhabe als unabschließbares Projekt
  11. 6 Literatur