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Von den Anfängen des Denkens

Tilman Allert

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Von den Anfängen des Denkens

Tilman Allert

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Über dieses Buch

»Wer nicht hören will, muss fühlen« – so lautet das Motto schwarzerPädagogik. Was als zynische Handlungsanweisung gedachtwar, kann aber auch anders verstanden werden. Denn erst das Fühlen undGreifen mit den Händen eröffnet Menschen den eigenen Zugang zur Welt.Bereits in den ersten Lebensmonaten dient die Hand dazu, die unmittelbareUmgebung zu erkunden. Sie bewegt sich auf das Wahrgenommene zu, umes zu spüren, festzuhalten oder zu formen. Die sensomotorische Eroberungsetzt den individuellen Erkenntnisprozess in Gang.Wie erfährt die Hand die Berührung mit dem Anderen, mit den Eisblumenam Fenster, den Murmeln aus Ton, den Flügeln eines Schmetterlings, derpapiernen Haut der Schlange oder einem brummenden Maikäfer? Wie suchtsie Halt beim Klettern, was schmeichelt ihr, wovor schreckt sie zurück?Tilman Allert zeichnet in seinen einfühlsamen Miniaturen frühe Eindrückedes tastenden Ausgreifens in die Welt nach.

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Information

Gespensterjagd

Mutterseelenallein

Das Gefühl, nicht bei sich zu Hause zu sein, umschreibt das melancholische Lebensgefühl einer ganzen Epoche. So eindringlich das Bild, so unvorstellbar war es, je von der tatsächlichen Erfahrung des Fremdseins überwältigt zu werden und sich selbst zu verlieren. Der Klang der Schritte, die Gerüche, die Abmessung der Zimmer waren wohlvertraut, mit Hilfe der Hände fand man sich tastend sogar im Dunkeln zurecht. Ein »Allein zu Haus« gab es nicht. Noch die Unterhaltungen bei Tisch, Komplimente und Schmeicheleien, die sich unter das entspannte Geplätscher mischten, ließen erst im Nachhinein stutzig werden. Die Katze war noch nicht ganz aus dem Sack gelassen, nur mit einem Apropos nahm das Gespräch eine Richtung, die das Unausweichliche klar vor Augen stellte: Gewiss ein Leichtes, allein zu Haus zu bleiben, alt genug sei man doch schließlich schon. Mit diesem scheinbar harmlos dahingeworfenen Satz, der als Ritterschlag daherkam, wurde einem ebenso geschickt wie dreist die Gelegenheit aus der Hand geschlagen, Ansprüche anmelden, Gegenleistungen einfordern zu können.
Nicht nur, dass in weite Ferne rückte, die Eltern im ungewohnten Kostüm der Bittsteller zu erleben. Ihre Argumentation ließ die Aussicht, ihnen con grandezza ihren Wunsch zu erfüllen, auf eine kleinlaute Zustimmung zusammenschrumpfen. Aber es geschah noch mehr. Das Herz zog sich zusammen. Bereits während der Gespräche davor, aber besonders natürlich am Abend, im Zuge der Sicherung des Hauses, warf die bevorstehende Bewährungsprobe ihre Schatten voraus. Bangigkeit machte sich breit, eine Bedrängnis, gegen die der Verstand, spätestens nachdem die Eltern die Tür hinter sich abgeschlossen hatten, machtlos schien.
Im gewohnten Tempo liefen die Verrichtungen vor dem Zubettgehen ab, durchaus beschwingt, geradezu im Selbstgefühl von jemandem, der die Verantwortung für das Ganze wie selbstverständlich übernimmt. Endlich so lange schmökern, wie es das elterliche Diktat der abendlichen Liturgie niemals zugelassen hätte, die Aussicht auf ein Lesefest versah die Routine mit etwas Glanz. Lauter Favoriten, die Abenteuer von Captain Conny, Kosmos-Bände, der Bericht von Anderssons Polarexpedition, lagen im Bett gestapelt, aus Vorfreude, begonnene Lektüren zu vertiefen und Zwiegespräche fortzusetzen. Jedes Buch eine Einladung, ausführlich und selbständig, nach dem Ermessen seines Lesers statt flüchtig unter dem Druck eines Ultimatums.
Dass alles Vertraute fremd wurde, die schleichende Verkehrung der Welt, ließ sich hingegen nicht auf halten. Mit jeder Seite rückten die Geschichten in weite Ferne. Beim Lesen wurden sie schwerer, als wollte sich ihr kostbarer Inhalt dagegen wehren, für Ablenkung missbraucht zu werden. Immer wieder fuhren die Gedanken die Zimmer des Hauses ab. In unheimliche Winkel hatten sie sich verwandelt, Schlupf löcher für Eindringlinge, einzig dafür gemacht, dem Alleingelassenen aufzulauern. Die Angst, der keine Gestalt zu geben war, wuchs sich zu einer den Leib durchdringenden Kraft aus. Binnen kurzem wurde aus dem Ort glückseligen Schmökerns, der zum Schönsten gehörte, was die ersten Jahre zu verschenken hatten, ein Abgrund der Verlorenheit.
Das Wohnen sei der Grundzug des Seins, so heißt es bei einem Philosophen, es belebe das Gehäuse, in das man hineingestellt ist. Hat jemand je das Alleinsein bedacht, im Dunkel der Nacht, in einem Land des Gruselns? Ein gespanntes Horchen auf den eigenen Körper zog alle Aufmerksamkeit auf sich, ein resonanzloses Rumoren, das selbst die Müdigkeit in ein dumpfes Wachsein verwandelte. Nicht einmal zum Weinen war einem zumute. Ausgestreckt im Bett liegend, geriet man ins Taumeln, die Bücher lagen um einen herum. Da die Nacht alle Wahrnehmung entstellt und zugleich verschärft, zeigten die Sinne sich alarmiert, mit wildem Herzklopfen reagierte der Körper auf den Ausnahmezustand. An der Wand, dort, wo die Fingerschatten ihren Auf tritt hatten, tanzten irrlichternd Fratzen auf, bizarre Silhouetten, die die Einsprüche der Vernunft nicht gelten ließen. Fragen, die man Stunden vorher als wirr abgewiesen hätte, tauchten auf: Ob Gespenster wohl eher durch die Tür kämen oder durchs Fenster, das, wie gewohnt, einen Spalt weit offen stand und wie eine Einladung wirkte. Die Kellertür war abgeschlossen, zweimal sogar, aber was hieß das schon, wenn die Geräusche der hereinbrechenden Nacht ihre Tonart änderten, und dies unüberhörbar, nachdem die Angst das Kommando übernommen hatte. Je stiller es im Dunkel unter der Decke um sie wurde, hörten die Ohren um so feiner und verstärkten die geringste Regung zu einem bedrohlichen Rascheln.
Das Alleinsein verrückte die Perspektiven, das Zimmer wurde zu einem unheimlichen Gegenüber. Die Dinge waren fremd geworden, und die Erfahrung ihrer Unbelebtheit vergrößerte nur noch den trostlosen Zustand mangelnder Geborgenheit. Beten – hatte es nicht oft geholfen – hätte vereitelt, sich der Situation mutig gewachsen zu zeigen. Musste nicht, wer am Versprechen des Gebets zu zweifeln gewagt hatte, fürchten, statt getröstet bestraft zu werden? Stellte sich womöglich der Abend, die Verantwortung für das Haus, als Prüfung heraus, bei der Gott sich von seiner unbarmherzigen Seite zeigen würde? Der Wunsch, mit dem Schließen der Augen alle Unruhe hinter sich zu lassen, ging nicht in Erfüllung.
Nach einer Ewigkeit dämmernden Wachseins drang von fern rhythmisches Klackern ans Ohr, begleitet von einem Gemurmel, das sich, je näher es kam, in Wortfetzen oder ein Räuspern auf löste. Hellwach und durch sein Näherkommen alarmiert, lauschte man angestrengt in die Stille vor der Haustür. Und dann, endlich der Moment, als das beklemmende Warten dem Ende nah schien, ein Augenblick hielt alle Möglichkeiten – den schrecklichen Irrtum ebenso wie die erlösende Gewissheit – gefangen, bis die Geräusche ins Haus vordrangen. Der Lichtstreifen unter der Tür jagte schließlich den Zweifel davon. Dunkle Stimmen, die sich im leichten Crescendo näherten, drangen zur Kissenburg vor. Dann öffnete sich leise die Tür.
Die Augen zugekniffen, genoss man das Jubelgefühl, das den Körper erfasste, in vollen Zügen. Der Kuss, den der Erschöpfte auf seiner Wange spürte, ließ ihn den flirrend festlichen Duft der Feier ahnen, von der die Eltern heimgekehrt waren. Aller Kummer war vertrieben. Unter der kühlenden Hand, die sich auf die Stirn legte, zeigte sich die Welt wiederhergestellt. Tiefes Glück durchflutete den Träumenden, der, die Haare noch ganz zerzaust und nass unter den Anfechtungen der Nacht, beinah ein anderer geworden war.

Zeus zu Besuch

Manche Dinge drängten sich auf, als wollten sie die Neugier überfallen. Mit ungeheurer Wucht brachen sie ins Leben ein. Tolldreist trieb es die Natur, wenn sie sich mit einer Meute schwarzdunkler Wolken über den Dächern zusammenballte und Sintfluten niederprasseln ließ, die Menschen ins Haus scheuchte, jedes Spielen unterbrach. Vor nichts machte das Gewitter halt, noch überall spürte man das Rütteln, von dessen lärmender Gegenwart man sich eine Weile abzulenken vermochte. Wenn der Boden bebt, gerät das leibliche Vermögen, sich zu orientieren, an seine Grenzen. Ein Entkommen war unmöglich. Aussichtslos, die Hände vors Gesicht halten, um Zuflucht zu suchen. Das Zerhacken der Atmosphäre, mit feinsten Splittern, die der Donner wahllos in die Gegend schleuderte, bremste alles Tun.
Verkrochen im Haus, im pochenden Zustand des Wartens, peitschte die Angst die aufgebrachte Phantasie in ein Gemisch aus Hoffen und Wünschen: verschont zu bleiben und zugleich den Krach zu steigern. Die Hände, die, um Wirkungen zu prüfen, abwechselnd die Ohren und die Augen zuhielten, gaben in der erfahrenen Machtlosigkeit der Idee nach, sich nützlich zu machen. Vorsichtig stellten sich die Finger in den Dienst der Vorhersage, die Sekunden zu zählen – eins, zwei, drei, vier, fünf–, als wären zum schaurigen Disput unter den Blitzen und ihren krachenden Antipoden irdische Ringrichter vorgesehen, Sieger und Verlierer zu verkünden. Dankbar für die Ablenkung halfen sie mit, die Gnadenfrist zu ermitteln, zwischen dem nahen Nichtgeheuren oder dem Verschontbleiben. Das Ergebnis hefteten die Augen hoffnungsvoll und mit dem Wunsch, dem Unheil Einhalt zu gebieten, an die graue Wand am Himmel.
Der Kampf zwischen David und Goliath, der im Inneren des Hauses in der Geschäftigkeit seiner Bewohner ein hektisches Echo fand, trug dazu bei, dem Kitzel, den das Gewitter auf die Sinne auszulösen vermochte, etwas abzugewinnen. Im Spiel der Einbildungskraft wähnte man sich auf der sicheren Seite und folgte dem Geschehen mit der Phantasie, einem zornigen Palaver beizuwohnen, so wie man gespannt hinter der Tür lauscht, um vom Streit der Eltern etwas aufzuschnappen, und fürchtet, beim Spionieren entdeckt zu werden. Worte der Erwachsenen, Erklärungen, die das Bedrohliche des chaotischen Spektakels ins Schulbuchwissen, in ein Verständnis von Ursache und Wirkung verscheuchen sollten, hörte man sich zuflüstern. Der Blitz werde vom Dach des Hauses in die Erde abgeleitet, im schneidenden Knistern entlade sich eine gewaltige Energie – Strom, mit dem sich eine ganze Stadt versorgen lasse. Beim Fahrradfahren könne man nicht getroffen werden, niemals dürfe man unter einem Baum Schutz suchen. Mahnungen, Beschwichtigungen, Sätze einer dünnen Zuversicht, in den Pausen des Lärms gemurmelt, ließen drohende Fragen, die in das Getose drängten, unbeantwortet. Wie entsteht der Zorn, wer schleudert ihn, von wo kommt er, und wen trifft er? Und was geschieht, wenn er einschlägt? Von Athene, die weiß, wessen Waffen die Blitze sind, hatte man nicht gehört.
Die Grübeleien verschwanden mit den ersten Sonnenstrahlen. Die Wolken waren, nachdem sie sich ausgeschüttet hatten, weitergezogen. Mit allen Instrumenten, dem Tosen des Sturms, dem prasselnden Regen, versammelte sich die lärmende Truppe zum nächsten Auf tritt. Wie geläutert schien die Umgebung. So überwältigend seine Gewalt war, das Gewitter kam und zog weiter, wie der Tag, der auf die Nacht folgt. Sein Verschwinden wie ein Sieg. Das Spielen zu vertreiben, war ihm nicht gelungen. Die Welt war heil geblieben, so lautete die Botschaft, die das Getöse hinterlassen hatte. Dessen Nachhut aus Wolken und vereinzelten Donnerschlägen, die ein paar flackernden Blitzen hinterherfuchtelten, konnte einem nichts mehr anhaben, leere Drohungen im Ausklang. Der überstandene Schrecken ließ eine absurde Heiterkeit entstehen, die sich zu der Idee steigerte, das Getöse wieder herbeizuwünschen. Die Erfahrung, davongekommen zu sein, hatte Kräfte wachsen lassen, der ungeheuren Wucht der Naturgewalten gewachsen zu sein, sie als geräuschvolles Spektakel geradezu auszukosten.
Die Minuten danach, als der Himmel sich in seinem schönsten Blau zeigte, waren durchdrungen von einer namenlosen Freude ohne Herkunft. In die Atmosphäre einer wundersam festlichen Klarheit meldete sich der Dank fürs Erhaltensein, für die Konstanz der Dinge und die Ruhe der Welt. Erleichtert verließ man die Deckung des Hauses, trat vor die Tür, um zurückzuerobern, was einem...

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