
- 113 Seiten
- German
- ePUB (handyfreundlich)
- Über iOS und Android verfügbar
eBook - ePub
Arme Leute
Über dieses Buch
Ein wunderbares Debüt über Liebe, Armut, Not und die Menschlichkeit. Dostojewski erzählt in Briefform die Geschichte der beiden Liebenden Makar Dewuschkin und Warwara Dobrosiolowa. Obwohl der gutherzige Makar und die junge Warwara im selben Armenviertel von St. Petersburg wohnen, tauschen sie lediglich Briefe aus. Um seine geliebte Warwara zu unterstützen, verschuldet sich Makar immer mehr und auch Warwara erfährt einen Schicksalsschlag nach dem anderen. Dann bietet ihr ausgerechnet ein reicher Gutsbesitzer, der sie zuvor entehrt hat, einen Ausweg aus der Armut an. Wird sich Warwara für ein Leben in Reichtum entscheiden oder ist die Liebe zu Makar der einzige Schatz, den sie im Leben benötigt?-
Häufig gestellte Fragen
Ja, du kannst dein Abo jederzeit über den Tab Abo in deinen Kontoeinstellungen auf der Perlego-Website kündigen. Dein Abo bleibt bis zum Ende deines aktuellen Abrechnungszeitraums aktiv. Erfahre, wie du dein Abo kündigen kannst.
Derzeit stehen all unsere auf mobile Endgeräte reagierenden ePub-Bücher zum Download über die App zur Verfügung. Die meisten unserer PDFs stehen ebenfalls zum Download bereit; wir arbeiten daran, auch die übrigen PDFs zum Download anzubieten, bei denen dies aktuell noch nicht möglich ist. Weitere Informationen hier.
Perlego bietet zwei Pläne an: Elementar and Erweitert
- Elementar ist ideal für Lernende und Interessierte, die gerne eine Vielzahl von Themen erkunden. Greife auf die Elementar-Bibliothek mit über 800.000 professionellen Titeln und Bestsellern aus den Bereichen Wirtschaft, Persönlichkeitsentwicklung und Geisteswissenschaften zu. Mit unbegrenzter Lesezeit und Standard-Vorlesefunktion.
- Erweitert: Perfekt für Fortgeschrittene Studenten und Akademiker, die uneingeschränkten Zugriff benötigen. Schalte über 1,4 Mio. Bücher in Hunderten von Fachgebieten frei. Der Erweitert-Plan enthält außerdem fortgeschrittene Funktionen wie Premium Read Aloud und Research Assistant.
Wir sind ein Online-Abodienst für Lehrbücher, bei dem du für weniger als den Preis eines einzelnen Buches pro Monat Zugang zu einer ganzen Online-Bibliothek erhältst. Mit über 1 Million Büchern zu über 1.000 verschiedenen Themen haben wir bestimmt alles, was du brauchst! Weitere Informationen hier.
Achte auf das Symbol zum Vorlesen in deinem nächsten Buch, um zu sehen, ob du es dir auch anhören kannst. Bei diesem Tool wird dir Text laut vorgelesen, wobei der Text beim Vorlesen auch grafisch hervorgehoben wird. Du kannst das Vorlesen jederzeit anhalten, beschleunigen und verlangsamen. Weitere Informationen hier.
Ja! Du kannst die Perlego-App sowohl auf iOS- als auch auf Android-Geräten verwenden, um jederzeit und überall zu lesen – sogar offline. Perfekt für den Weg zur Arbeit oder wenn du unterwegs bist.
Bitte beachte, dass wir keine Geräte unterstützen können, die mit iOS 13 oder Android 7 oder früheren Versionen laufen. Lerne mehr über die Nutzung der App.
Bitte beachte, dass wir keine Geräte unterstützen können, die mit iOS 13 oder Android 7 oder früheren Versionen laufen. Lerne mehr über die Nutzung der App.
Ja, du hast Zugang zu Arme Leute von Fjodor M Dostojewski, Hermann Röhl im PDF- und/oder ePub-Format sowie zu anderen beliebten Büchern aus Literatur & Altertumswissenschaften. Aus unserem Katalog stehen dir über 1 Million Bücher zur Verfügung.
Information
Thema
LiteraturII
Anfangs, solange wir, das heißt meine Mutter und ich, uns in unserer neuen Wohnung noch nicht eingelebt hatten, fühlten wir uns beide etwas ängstlich und fremd bei Anna Fjodorowna. Diese wohnte in einem eigenen Hause in der sechsten Linie. Das ganze Haus enthielt nur fünf ordentliche Zimmer. In dreien davon wohnte Anna Fjodorowna mit meiner Kusine Sascha, einer vater- und mutterlosen Waise, die bei ihr aufwuchs. Dann wohnten in einem andern Zimmer wir, und endlich das fünfte, neben dem unsrigen gelegene Zimmer hatte ein armer Student namens Pokrowski inne, der es von Anna Fjodorowna gemietet hatte. Diese lebte sehr gut, üppiger, als man von vornherein hätte erwarten können; aber ihre Einnahmen waren rätselhaft, ebenso wie ihre Beschäftigung. Sie hatte immer viel zu tun und war immer stark in Anspruch genommen; mehrere Male täglich fuhr und ging sie aus; aber was sie eigentlich tat, und worin ihre Geschäfte bestanden, das konnte ich absolut nicht erraten. Sie hatte eine ausgedehnte, buntscheckige Bekanntschaft. Fortwährend bekam sie Besuch von Gott weiß was für Leuten, immer in Geschäften und nur auf einen Augenblick. Meine Mutter führte mich immer in unser Zimmer, sobald die Türklingel ertönte. Anna Fjodorowna war deswegen auf meine Mutter sehr böse und sagte fortwährend, wir seien gar zu stolz, stolzer, als es sich für uns schicke; ja, und wenn wir noch einen Grund hätten stolz zu sein. Ganze Stunden lang konnte sie solche Reden führen. Ich verstand damals diese Vorwürfe des Stolzes nicht, ebenso wie ich auch jetzt erst verstanden habe oder wenigstens ahne, warum meiner Mutter der Entschluß, bei Anna Fjodorowna zu wohnen, so schwer geworden war. Anna Fjodorowna war ein böses Weib; sie peinigte uns unaufhörlich. Warum sie uns eigentlich zu sich eingeladen hatte, das ist mir bis auf den heutigen Tag ein Geheimnis. Anfänglich war sie gegen uns ziemlich freundlich; aber dann zeigte sie in vollem Umfange ihren wirklichen Charakter, da sie sah, daß wir vollständig hilflos waren und nirgends anderswohin gehen konnten. In der Folgezeit wurde sie gegen mich sehr freundlich und verstieg sich sogar zu plumpen Schmeicheleien; aber in der ersten Zeit hatte ich ebenso wie meine Mutter viel zu leiden. Alle Augenblicke machte sie uns Vorwürfe; sie redete immer nur von ihren Wohltaten. Fremden Leuten stellte sie uns als ihre armen, hilflosen Verwandten vor, eine Witwe und Waise, denen sie aus Barmherzigkeit und christlicher Liebe ein Obdach gewähre. Bei Tische verfolgte sie jeden Bissen, den wir aßen, mit den Augen, und wenn wir nicht aßen, so war es auch wieder nicht recht, und sie erging sich in häßlichen Redensarten: wir seien mäklerisch; wir möchten vorliebnehmen; was sie habe, gebe sie gern; ob wir denn selbst Besseres hätten. Auf meinen Vater schimpfte sie fortwährend; sie sagte, er habe etwas Besseres sein wollen als andere Leute, aber es sei ihm arg mißlungen; er habe seine Frau und seine Tochter an den Bettelstab gebracht, und wenn sich nicht eine wohltätige Verwandte, eine mitleidige christliche Seele gefunden hätte, dann müßten die beiden vielleicht auf der Straße Hungers sterben. Was redete sie nicht alles zusammen! Ihr zuzuhören war noch widerwärtiger als kränkend. Meine Mutter weinte alle Augenblicke; mit ihrer Gesundheit wurde es von einem Tage zum andern schlechter; sie schwand sichtbar dahin; aber dabei arbeiteten wir beide vom frühen Morgen bis in die Nacht hinein, indem wir auf Bestellung stickten. Allerdings mißfiel dies Anna Fjodorowna sehr; sie sagte fortwährend, sie habe kein Modegeschäft in ihrem Hause. Aber wir mußten uns doch kleiden; wir mußten doch für unvorhergesehene Ausgaben etwas zurücklegen; wir mußten unbedingt ein bißchen eigenes Geld besitzen. Wir sparten für alle Fälle, in der Hoffnung, es werde uns mit der Zeit möglich sein, anderswohin zu ziehen. Aber meine Mutter ruinierte durch die Arbeit den letzten Rest ihrer Gesundheit: sie wurde mit jedem Tage schwächer. Die Krankheit nagte offenbar wie ein Wurm an ihrem Leben und brachte sie dem Grabe näher. Ich sah alles, fühlte alles und litt darunter; alles das vollzog sich vor meinen Augen!
Ein Tag verging nach dem andern, und jeder war dem vorhergehenden ähnlich. Wir lebten so still, als ob wir gar nicht in einer Stadt wären. Anna Fjodorowna beruhigte sich allmählich, in dem Maße wie sie sich selbst ihrer unumschränkten Gewalt über uns bewußt wurde. Übrigens fiel es niemals einem von uns ein, ihr zu widersprechen. In unserem Zimmer waren wir von dem ihrigen durch den Flur getrennt; neben uns wohnte, wie schon erwähnt, Pokrowski. Er unterrichtete Sascha im Französischen und Deutschen, in der Geschichte und Geographie, »in allen Wissenschaften«, wie Anna Fjodorowna sagte, und erhielt dafür von ihr Wohnung und Beköstigung. Sascha besaß eine sehr gute Auffassungsgabe, war aber mutwillig und unartig; sie war damals ungefähr dreizehn Jahre alt. Anna Fjodorowna sprach sich meiner Mutter gegenüber dahin aus, es würde ganz gut sein, wenn ich an dem Unterricht teilnähme, da ich in der Pension den Kursus nicht beendet hätte. Meine Mutter stimmte ihr freudig zu, und ich wurde ein ganzes Jahr lang von Pokrowski mit Sascha zusammen unterrichtet.
Pokrowski war ein armer, sehr armer junger Mensch; seine Gesundheit erlaubte ihm nicht, regelrecht zu studieren, und er wurde bei uns nur so gewohnheitsmäßig Student genannt. Er lebte bescheiden, still und friedlich, so daß er von unserem Zimmer aus kaum je zu hören war. Sein Äußeres war recht sonderbar: er ging so ungeschickt, verbeugte sich so ungeschickt und redete so wunderlich, daß ich ihn am Anfang nicht ansehen konnte ohne zu lachen. Sascha spielte ihm fortwährend Possen, besonders wenn er uns Stunde gab. Er aber war obendrein auch noch reizbar, ärgerte sich unaufhörlich, kam von jeder Kleinigkeit außer sich, schrie uns an, beklagte sich über uns und ging oft, ohne die Stunde zu Ende zu geben, zornig weg nach seinem Zimmer. Dort aber saß er oft tagelang bei den Büchern. Er besaß viele Bücher, und zwar lauter teure, seltene. Er gab noch an einigen anderen Stellen Unterricht und erhielt dafür ein mäßiges Honorar; sowie er aber etwas Geld hatte, ging er sogleich hin und kaufte sich Bücher.
Mit der Zeit lernte ich ihn besser und näher kennen. Er war der gutherzigste, achtungswerteste, beste Mensch von allen, die ich bis dahin kennengelernt hatte. Meine Mutter schätzte ihn sehr hoch. Später wurde er mein bester Freund, selbstverständlich nach meiner Mutter.
Anfangs nahm ich, obwohl ich schon ein so großes Mädchen war, an Saschas Streichen teil, und wir zerbrachen uns manchmal stundenlang die Köpfe darüber, wie wir ihn reizen und dahin bringen könnten, die Geduld zu verlieren. Er machte einen furchtbar komischen Eindruck, wenn er sich ärgerte, und wir amüsierten uns darüber gewaltig. (Ich schäme mich noch bei der Erinnerung daran.) Einmal hatten wir ihn durch irgendwelche Unart bis zu Tränen gereizt, und ich hörte deutlich, wie er vor sich hin flüsterte: »Diese bösen Kinder!« Ich wurde sofort ganz betroffen; ich schämte mich und empfand Schmerz, und er tat mir leid. Ich erinnere mich, daß ich bis über die Ohren rot wurde und ihn beinah mit Tränen in den Augen bat, sich zu beruhigen und sich nicht durch unsere dummen Streiche beleidigt zu fühlen; aber er klappte das Buch zu, gab die Stunde nicht bis zu Ende und ging auf sein Zimmer. Den ganzen Tag quälte mich die Reue. Der Gedanke, daß wir Kinder ihn durch unsere Grausamkeit zum Weinen gebracht hatten, war mir unerträglich. Also darauf hatten wir es angelegt gehabt, daß er weinen sollte! Also das hatten wir gewollt; also es war uns gelungen, ihn dahin zu bringen, daß er den letzten Rest von Geduld verlor; also wir hatten den armen, unglücklichen Menschen mit Gewalt gezwungen, sich seines traurigen Schicksals von neuem bewußt zu werden! Ich konnte vor Ärger, vor Betrübnis und vor Reue die ganze Nacht nicht schlafen. Man sagt, die Reue erleichtere das Herz – das Gegenteil ist richtig. Ich weiß nicht, wie es zuging, daß sich in meinen Kummer auch ein gewisses Ehrgefühl mischte. Ich wollte, daß er mich nicht für ein Kind halten möchte. Ich war damals schon fünfzehn Jahre alt.
Von diesem Tage an mühte ich meine Denkkraft damit ab, tausend Pläne zu entwerfen, wie ich wohl Pokrowski dazu veranlassen könnte, seine Meinung über mich zu ändern. Aber ich war oft schüchtern und zaghaft; in der Wirklichkeit konnte ich mich zu keinem energischen Schritte entschließen und beschränkte mich lediglich auf Träumereien (und was waren das für wunderliche Träumereien!). Ich hörte nur auf, mit Sascha mutwillige Streiche zu verüben, und er hörte auf, sich über uns zu ärgern. Aber für mein Ehrgefühl war das zu wenig.
Jetzt will ich ein paar Worte über den seltsamsten, merkwürdigsten, bemitleidenswertesten Menschen sagen, der mir jemals im Leben begegnet ist. Ich rede jetzt, gerade an dieser Stelle meiner Aufzeichnungen, von ihm, weil ich ihn bis zu dieser Epoche fast gar nicht beachtet hatte, jetzt aber alles, was Pokrowski betraf, mir auf einmal interessant wurde.
Bei uns im Hause erschien manchmal ein schlecht und unsauber gekleideter, kleiner, grauhaariger, unbeholfener, ungeschickter alter Mann, kurz, ein unglaublich sonderbares Individuum. Beim ersten Blick auf ihn konnte man glauben, daß er sich über irgend etwas schäme, sich seiner selbst schäme. Infolgedessen krümmte er sich ganz zusammen und schnitt eigentümliche Gesichter; seine Manieren und Gebärden waren von der Art, daß man beinah glauben konnte, er habe nicht seinen Verstand. Wenn er zu uns kam, stellte er sich gewöhnlich auf dem Flur vor die Glastür und wagte nicht, in die Wohnung hereinzukommen. Ging dann einer von uns zufällig vorbei (ich oder Sascha oder ein Dienstbote, den er sich geneigt wußte), so begann er sogleich zu gestikulieren, winkte ihn zu sich, machte allerlei Zeichen, und erst wenn man ihm zunickte und ihn rief (das verabredete Zeichen, daß kein Fremder in der Wohnung sei und er, wenn er wolle, hereinkommen könne), erst dann öffnete der Alte die Tür, lächelte erfreut, rieb sich die Hände vor Vergnügen und ging auf den Fußspitzen geradewegs nach Pokrowskis Zimmer. Er war sein Vater.
Später erfuhr ich Genaueres über die Lebensgeschichte dieses armen alten Mannes. Er war einmal irgendwo Beamter gewesen, hatte aber nicht die geringsten Fähigkeiten besessen und daher nur eine ganz niedrige, unbedeutende Stellung innegehabt. Als seine erste Frau, die Mutter des Studenten Pokrowski, gestorben war, hatte er sich beikommen lassen zum zweitenmal zu heiraten, und zwar eine Kleinbürgerin. Die zweite Frau rief im Hause eine vollständige Umwälzung hervor; sie ließ niemanden ruhig leben, sondern führte über alle ein scharfes Regiment. Der Student Pokrowski war damals noch ein Kind von etwa zehn Jahren. Die Stiefmutter haßte ihn. Aber das Schicksal wollte dem kleinen Pokrowski wohl. Der Gutsbesitzer Bykow, der den Beamten Pokrowski kannte und früher einmal sein Wohltäter gewesen war, nahm den Knaben unter seinen Schutz und brachte ihn in eine Elementarschule. Er interessierte sich für ihn deswegen, weil er seine verstorbene Mutter gekannt hatte, die noch als Mädchen von Anna Fjodorowna Wohltaten empfangen hatte und von ihr an den Beamten Pokrowski verheiratet worden war. Herr Bykow, ein Freund und naher Bekannter von Anna Fjodorowna, hatte, von Großmut getrieben, der Braut eine Mitgift von fünftausend Rubeln gegeben. Wo dieses Geld geblieben war, wußte man nicht. So erzählte mir das alles Anna Fjodorowna; der Student Pokrowski selbst sprach niemals gern von seinen Familienverhältnissen. Es hieß, seine Mutter sei sehr schön gewesen, und es kommt mir sonderbar vor, daß sie eine so schlechte Partie gemacht und einen so unbedeutenden Menschen geheiratet hat. Sie starb früh, etwa vier Jahre nach ihrer Verheiratung.
Aus der Elementarschule ging der junge Pokrowski auf das Gymnasium über und dann auf die Universität. Herr Bykow, der sehr oft nach Petersburg kam, blieb auch weiter sein Gönner. Wegen seiner schwachen Gesundheit konnte Pokrowski sein Studium auf der Universität nicht fortsetzen. Herr Bykow machte ihn mit Anna Fjodorowna bekannt, empfahl ihn ihr selbst, und auf diese Weise wurde der junge Pokrowski zu freier Station aufgenommen mit der Verpflichtung, Sascha in allen erforderlichen Gegenständen zu unterrichten.
Der alte Pokrowski aber ergab sich aus Kummer über die harte Behandlung von seiten seiner Frau dem schlimmsten Laster und war fast immer betrunken. Seine Frau schlug ihn, ließ ihn nur in der Küche wohnen und brachte es dahin, daß er sich schließlich an die Schläge und die schlechte Behandlung gewöhnte und sich nicht beklagte. Er war noch gar nicht so alt, war aber infolge seiner üblen Neigungen geistig schwach geworden. Das einzige Anzeichen edler menschlicher Empfindung war seine grenzenlose Liebe zu seinem Sohne. Es hieß, daß der junge Pokrowski seiner verstorbenen Mutter ähnlich sei wie ein Ei dem andern. Ob die Erinnerung an die frühere gute Frau in dem Herzen des heruntergekommenen alten Mannes eine so innige Liebe zu ihm erzeugte? Der Alte mochte überhaupt von nichts anderem mehr sprechen als von seinem Sohne und besuchte ihn regelmäßig zweimal in der Woche. Noch häufiger zu kommen wagte er nicht, weil der junge Pokrowski diese väterlichen Besuche nicht leiden konnte. Von allen seinen Fehlern war unstreitig der größte und schlimmste der Mangel an Achtung vor seinem Vater. Übrigens war auch der Alte manchmal das unerträglichste Wesen, das man sich nur denken kann. Erstens war er furchtbar neugierig; zweitens störte er durch seine ganz unnützen, unverständigen Gespräche und Fragen den Sohn alle Augenblicke beim Studieren, und endlich erschien er mitunter in betrunkenem Zustande. Der Sohn gewöhnte dem Vater die Trunksucht, die Neugier und die stete Schwatzhaftigkeit mit der Zeit einigermaßen ab und brachte es schließlich dahin, daß dieser in allen Stücken auf ihn wie auf ein Orakel hörte und ohne seine Erlaubnis nicht den Mund aufzumachen wagte.
Der arme Alte konnte seinen Petinka gar nicht genug bewundern, sich gar nicht genug über ihn freuen. Wenn er ihn besuchte, machte er fast immer ein schüchternes, ängstliches Gesicht, wahrscheinlich weil er sich nicht sicher war, wie ihn der Sohn aufnehmen werde; gewöhnlich konnte er sich lange nicht entschließen, in dessen Zimmer hineinzugehen, und wenn ich zufällig da war, so fragte er mich manchmal zwanzig Minuten lang aus, wie es seinem Petinka gehe, ob er gesund sei, in welcher Stimmung er sich befinde, ob er sich mit etwas Wichtigem beschäftige, was er eigentlich treibe: ob er etwas schreibe oder irgendwelche Überlegungen anstelle. Und wenn ich ihn dann hinreichend ermutigt und beruhigt hatte, so entschloß sich der alte Mann schließlich dazu, hineinzugehen, öffnete ganz, ganz leise, ganz, ganz behutsam die Tür, schob zuerst nur den Kopf hinein, und wenn er sah, daß der Sohn nicht ärgerlich wurde und ihm zunickte, so trat er sachte ins Zimmer hinein, zog seinen Mantel aus, nahm seinen Hut ab (dieser Hut war stets verbeult und hatte Löcher; auch war die Krempe teilweise losgerissen) und hängte beides an einen Haken; all das tat er ganz leise, unhörbar. Dann setzte er sich irgendwo vorsichtig auf einen Stuhl, verwandte kein Auge von seinem Sohne und verfolgte alle Bewegungen desselben, um seine Stimmung zu erraten. War der Sohn nicht gutgelaunt und bemerkte der Alte das, so stand er sofort wieder auf und erklärte: »Ich bin bloß so hergekommen, lieber Petinka, bloß auf ein Augenblickchen. Siehst du, ich habe einen weiten Weg gemacht, und da kam ich hier vorbei und trat ein, um mich zu erholen.« Und dann nahm er ohne ein weiteres Wort demütig seinen Mantel und seinen Hut, machte wieder ganz leise die Tür auf und ging weg, wobei er sich zu einem Lächeln zwang, um das aufquellende Leid im Herzen niederzuhalten und es seinem Sohne nicht zu zeigen.
Aber andernfalls, wenn der Sohn den Vater gut aufnahm, dann wußte sich der Alte vor Freude gar nicht zu lassen. Sein Gesicht strahlte nur so vor Vergnügen, und diese Empfindung kam auch in all seinen Gesten und Bewegungen zum Ausdruck. Wenn der Sohn zu ihm sprach, erhob sich der Alte immer ein wenig von seinem Stuhl, antwortete leise und untertänig, fast ehrfurchtsvoll, und gab sich immer Mühe, die gewähltesten, das heißt die lächerlichsten Ausdrücke zu gebrauchen. Aber die Gabe des Wortes war ihm nicht verliehen: er war immer verwirrt und verlegen, so daß er nicht wußte, wo er seine Hände und sich selbst lassen sollte, und flüsterte dann noch eine ganze Weile Wiederholungen der Antwort vor sich hin, wie wenn er das Gesagte nachträglich verbessern wollte. Wenn es ihm aber einmal gelungen war, gut zu antworten, dann suchte er unwillkürlich sein Äußeres zu verschönern, zog sich die Weste, die Krawatte und den Frack zurecht und verlieh seinem Gesichte einen besonders würdevollen Ausdruck. Mitunter aber wurde er so mutig und ging in seiner Kühnheit so weit, daß er leise von seinem Stuhl aufstand, an das Bücherregal herantrat, irgendein Buch herausnahm und sogar darin zu lesen anfing, ohne Rücksicht auf den Inhalt. Alles dies tat er mit geheucheltem Gleichmut, als dürfe er immer so mit den Büchern seines Sohnes schalten und walten, und als sei dessen Freundlichkeit gegen ihn nichts Ungewöhnliches. Aber ich hatte einmal Gelegenheit zu sehen, wie der Ärmste erschrak, als Petinka ihn ersuchte, die Bücher nicht zu berühren. Er wurde verlegen, stellte in der Hast das Buch mit dem Kopfe nach unten wieder hinein, wollte dann den Fehler verbessern, drehte es um und stellte es mit dem Schnitt nach außen; er lächelte, errötete und wußte nicht, wie er sein Vergehen wiedergutmachen sollte. Der Sohn entwöhnte durch seine Ratschläge den Alten allmählich von seinen üblen Neigungen, und wenn er ihn dreimal hintereinander in nüchternem Zustande gesehen hatte, so gab er ihm beim nächsten Besuche zum Abschiede einen Viertelrubel, einen halben Rubel oder auch noch mehr. Manchmal kaufte er ihm ein Paar Stiefel, eine Krawatte oder eine Weste. Der Alte war dann in seinem neuen Kleidungsstücke so stolz wie ein Hahn. Manchmal kam er auch zu uns mit heran. Er brachte mir und Sascha Pfefferkuchenhähne und Äpfel mit und redete mit uns fortwährend von seinem Petinka. Er bat uns, aufmerksam zuzuhören und fleißig zu lernen, und sagte, Petinka sei ein guter Sohn, ein musterhafter Sohn und obendrein ein gelehrter Sohn. Dabei blinzelte er uns mitunter mit dem linken Auge in einer so komischen Weise an und schnitt eine so amüsante Grimasse, daß wir uns nicht beherrschen konnten und herzlich über ihn lachten. Mama hatte ihn sehr gern. Aber der Alte haßte Anna Fjodorowna, obwohl er ihr gegenüber keinen Ton sagte und die größte Demut zeigte.
Ich hörte bald wieder auf, mich von Pokrowski unterrichten zu lassen. Er hielt mich wie früher für ein Kind, für ein unartiges Mädchen und stellte mich mit Sascha auf dieselbe Stufe. Das war mir sehr kränkend, da ich mir doch die größte Mühe gegeben hatte, mein früheres Benehmen wiedergutzumachen. Aber er beachtete mich gar nicht. Das kränkte mich immer mehr. Ich sprach fast nie außerhalb des Unterrichts mit Pokrowski; ich bekam es nicht fertig. Ich wurde rot und verlegen und weinte dann vor Ärger in irgendeinem Winkel.
Ich weiß nicht, wie das geendet hätte, wenn nicht ein sonderbares Begebnis zu einer Annäherung zwischen uns geführt hätte. Eines Abends, als meine Mutter bei Anna Fjodorowna saß, ging ich leise in Pokrowskis Zimmer. Ich wußte, daß er nicht zu Hause war, und kann wirklich nicht sagen, wie ich auf den Einfall kam, zu ihm zu gehen. Bis dahin hatte ich noch nie einen Blick in sein Zimmer hineingeworfen, obgleich wir schon länger als ein Jahr nebeneinander gewohnt hatten. Das Herz klopfte mir so stark, daß es mir vorkam, als wolle es mir aus der Brust herausspringen. Ich blickte mit einer besonderen Art von Neugier um mich. Pokrowskis Zimmer war sehr ärmlich möbliert, und es herrschte darin wenig Ordnung. Auf dem Tische und den Stühlen lagen Papiere. Überall Bücher und Papiere! Es überkam mich ein sonderbarer Gedanke, und zugleich bemächtigte sich meiner ein unangenehmes Gefühl des Ärgers. Es schien mir, daß meine Freundschaft, mein liebendes Herz für ihn wenig Wert hätten. Er war gelehrt; ich aber war dumm und wußte nichts und hatte nichts gelesen, kein einziges Buch. Voll Neid blickte ich auf die langen Regale, die beinah unter der Last der Bücher brachen. Ein Gefühl des Ärgers und des Kummers, eine Art Wut befiel mich. Es ergriff mich das Verlangen, alle seine Bücher zu lesen, alle ohne Ausnahme, und zwar so schnell wie möglich, und ich beschloß, dies sofort zur Ausführung zu bringen. Ich weiß nicht, vielleicht dachte ich, wen...
Inhaltsverzeichnis
- Titel
- Kolophon
- Other
- Chapter
- I
- II
- ÜberArme Leute