Das Gemeindekind
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Das Gemeindekind

  1. 274 Seiten
  2. German
  3. ePUB (handyfreundlich)
  4. Über iOS und Android verfügbar
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Über dieses Buch

Der berühmteste Roman Ebner-Eschenbachs: Der Junge Pavel Holub, dessen Vater gehängt wurde und dessen Mutter im Kerker sitzt, wird von der Dorfgemeinschaft nicht nur als finanzielle Bürde angesehen, da alle auch noch glauben, er habe die schlechten Verhaltensweisen seiner Eltern geerbt. Doch er schafft den sozialen Aufstieg und wird ein angesehenes Gemeindemitglied und widerlegt damit alle Zweifel an seiner Integrität. -

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Information

VI.

Die nächste Woche brachte viel Regentage, und an jedem trüben Morgen packte Pavel seine Schulsachen zusammen und ging zum Gelächter aller, die ihm auf dem Wege dahin begegneten, in die Schule. Dort sass er, der einzige seines Alters, unter lauter Kindern und immer auf dem selben Platze, dem letzten auf der letzten Bank. Anfangs tat der Lehrer, als ob er ihn nicht bemerke; erst nach längerer Zeit begann er wieder, sich mit ihm zu beschäftigen. Einmal, als die Stunde beendet war, die Stube sich geleert hatte, Pavel aber fortzugehen zögerte, fragte ihn der Lehrer:
„Was willst du eigentlich? In deinem Beruf kannst du dich bei mir nicht ausbilden.“
Pavel machte verwunderte Augen, und der Lehrer fuhr fort: „Hast du mir nicht gesagt, dass du ein Dieb werden willst? Nun, Unglücksbub — Unterricht im Stehlen geb ich nicht.“
Dem Pavel schwebte schon die Antwort auf der Zunge: „Darum ist mir’s auch nicht zu tun, versteh’s ohnehin.“ Aber er bezwang sich und sagte nur: „Lesen und schreiben möcht ich lernen.“
„Zur Not kannst du’s ja.“
„Just zur Not kann ich’s nicht.“
„Musst dir halt Müh geben.“
„Geb mir Müh, kann’s doch nicht.“
„Bring dein Buch her.“
Pavel schüttelte den Kopf: „Aus dem Buch kann ich’s schon, aber da —“ er fuhr mit der Hand, die heftig zitterte, zwischen sein Hemd und seine Brust und zog einen zerknitterten Brief hervor, „da hat mir der Bote etwas von der Post gebracht . . .“
„Geschriebenes? Ja so! das ist freilich eine andere Sache, da würde ich wohl selber Mühe haben.“
Sein Scherz reute ihn, als Pavel denselben für Ernst nahm und zum ersten Male im Leben demütig sprach: „Ich möcht den Herrn Lehrer doch bitten, dass er’s probiert.“
Pavel küsste, wenn man so sagen darf, das Blatt mit den Augen und reichte es dem Alten hin, sorgfältig, ängstlich, wie ein Kleinod, das leicht beschädigt werden könnte.
Der Lehrer entfaltete und überflog es: „Ein Brief, Pavel — und weisst du, von wem?“
„Er wird von meiner Schwester Milada sein, aus dem Kloster.“
„Nein, er ist nicht von deiner Schwester aus dem Kloster.“
„Nicht?“ —
„Er ist von deiner Mutter aus dem —“ er stockte, und der Bursche ergänzte mit plötzlich veränderter Miene und rauher Stimme:
„Aus dem Zuchthaus.“
„Willst du ihn hören?“
Pavel hatte den Kopf sinken lassen und antwortete durch ein stummes Nicken.
Der Lehrer las:
„Mein Sohn Pavel!
„Vor drei monat habe ich Meine feder an das papier gesetzt und meiner Tochter Milada einige Parzeilen in das Kloster geschrieben meine Tochter Milada hat sie aber nicht bekommen die Klosterfrauen haben Ihr ihn nicht gegeben sie haben Mir sagen lassen das beste ist wenn sie von der mutter nichts hört so weiss Ich nicht ob Ich recht tu wenn Ich dir schreibe Pavel mein lieber sohn mit der bitte dass du mir antworten sollst ob meine Parzeilen dich und Milada deine liebe schwester in guter gesundheit antreffen was Mich betrifft ich bin gesund und so weit zufrieden in meinem platz.
deine Mutter.
Meine zwei kinder tag und nacht Bete Ich für euch zum Liebengott glaube auch dass meine tochter Milada eine kleine klosterfrau werden wird wenn es die Zeit sein wird und arbeite fleissig hier imhause was mir zurückgelegt wird für meine kinder . . . . .
In sechs Jahren mein lieber sohn Pavel werde ich wieder Nachhaus kommen und bitt euch noch dass ihr manchesmal inguten an die Mutter denkt die ärmste auf der welt.“
Die Lettern des Briefes waren steif und ruhig hingemalt; bei der Nachschrift hatte die Hand gezittert, grosse matte Flecken auf dem Papier verrieten, dass sie unter Tränen geschrieben worden war. Mit Mühe entzifferte der Vorleser die halbverwischten Züge, und ihn ergriff die Fülle des Leids und der Liebe, die sich in dieser armseligen Kundgebung aussprach.
„Pavel“, sagte er, „du musst deiner Mutter sogleich antworten.“
Der Junge hatte sich abgewendet und starrte finster zu Boden. „Was soll ich ihr antworten?“ murmelte er.
„Was dein Herz dir eingibt für die unglückliche Frau.“
Pavel verzog den Mund: „Es geht ihr ja gut.“
„Gut, du dummer Bub? gut im Kerker?“
Der alte Mann geriet in Eifer, er wurde warm und beredt; die schönen und vortrefflichen Dinge, die er sagte, ergriffen ihn selbst, liessen Pavel jedoch kühl. Er hatte auf die Vorstellungen des Lehrers zwei Antworten, die er hartnäckig wiederholte, ob sie passten oder nicht: „Sie sagt ja selbst, dass es ihr gut geht,“ und: „die Schwester schreibt ihr nicht, warum soll ich ihr schreiben?“
„Hast du denn gar kein Gefühl für deine Mutter?“ fragte der Lehrer endlich.
„Nein,“ erwiderte Pavel.
Der Alte schüttelte sich vor Ungeduld. „Ich denk der Zeit, wo du ein Kind warst;“ sprach er, „und brav unter der Obhut deiner braven Mutter, die dich zur Arbeit angehalten hat . . . Glotz du nur! — Brav und rechtschaffen, sag ich. Das war sie; aber leider gar zu geschreckt und immer halb närrisch aus Angst vor dem niederträchtigen . . . Na!“ unterbrach er sich — „jeder Mensch hat Mitleid mit ihr gehabt, sogar den Richtern hat sie Erbarmen eingeflüsst, nur du, ihr Sohn, bist o hne Mitleid gegen sie. Warum denn, warum? Ich frage dich, gib Antwort, sprich!“ Er schob die Brille in die Höhe und näherte die kurzsichtigen Augen dem Gesicht Pavels. In den Zügen des Knaben malte sich ein eiserner Widerstand; aus den düsteren Augen funkelte ein Abglanz jener Entschlossenheit, die, auf eine grosse Sache gestellt, den Märtyrer macht.
Der Alte seufzte, trat zurück und sagte: „Geh, mit dir ist nichts anzufangen.“ Als Pavel schon an der Tür war, rief er ihm aber doch Halt zu: — „Eins nur will ich dir sagen. Es ist dir nicht alles Eins, ich hab es bemerkt, wenn die Leute dich schimpfen; eine Zeit kann kommen, in der du froh wärst, gut zu stehen mit den Leuten, und gerne hören möchtest: In seiner Jugend war der Pavel ein Nichtsnutz, aber jetzt hält er sich ordentlich. Für den Fall merk dir, merk dir, Pavel,“ wiederholte er nachdrücklich, und eine schwache Röte schimmerte durch das fahle Grau seiner Wangen: „Mach dich nicht zu deinem eigenen Verleumder. Das Schlechte, das die andern von dir aussagen, kann bezweifelt, kann vergessen werden, du kannst es niederleben. Das Schlechte, ja sogar das Widersinnige, und Dumme, das du von dir selbst aussagst, das putzt sich nicht hinweg, das haftet an dir, wie deine eigene Haut — das überlebt dich noch!“
Er erhob die Hände über den Kopf, huschte so planlos und unbeholfen im Zimmer umher wie ein aus dem Schlafe gescheuchter Nachtfalter und wimmerte und stöhnte: „Vergiss meinetwegen alles, was ich dir gesagt habe; aber den Rat vergiss du nicht, den geb ich dir aus meiner eigenen Erfahrung!“
Pavel betrachtete den Schullehrer nachdenklich, der alte Herr tat ihm leid und kam ihm zugleich unendlich töricht vor. Worüber kränkte er sich? Konnte es darüber sein, dass die Leute ihn einen Hexenmeister nannten? . . .
Das wäre auch der Mühe wert!
Für sein Leben gern hätte er sich erkundigt, wusste aber nicht, wie die Frage stellen. Er nahm so lange keine Notiz von des Lehrers entlassenden Winken, bis dieser ihn heftig anliess: „Was willst du noch?“ dann gab er zur Antwort:
„Wissen, was den Herrn Lehrer kränkt.“
Habrecht bog sich zurück, tat einen tiefen Atemzug und schloss die Augen. „Später, Pavel, später, jetzt würdest du mich nicht verstehen.“
Da platzte Pavel Hervor: „Das wegen der Hexerei?“
Ein unwillkürlicher Aufschrei: „Ja, ja!“ und der Lehrer packte ihn an den Schultern und schob ihn zur Tür hinaus.
Also richtig! der Alte grämte sich über den Verdacht, in dem er im Dorfe stand. — Unbegreiflich kindisch erschien das dem Pavel; sein Gönner wurde von Stunde an ein Schwächling in seinen Augen, und er schlug dessen eindringlichste Warnung in den Wind. Ja, sie reizte ihn sogar, ihr zuwider zu handeln. Die Leute sollen ihn nur für schlechter halten, als er ist, er will’s — nach Lob und Liebe geizen die Feiglinge; sich sagen zu dürfen: Ich bin besser, als irgend einer weiss, — das ist die herbe, die rechte Wonne für ein starkes Herz.
Den Brief der Mutter bemühte sich Pavel nachzubuchstabieren, und jetzt, da er seinen Inhalt kannte, gelang es ihm so ziemlich. Vinska überraschte ihn bei der Beschäftigung, wollte wissen, was er las, und als er ihr eine Auskunft darüber verweigerte, suchte sie ihm das Blatt zu entreissen.
„Was?“ zürnte sie, da er ihr wehrte, „du willst mir verbieten, dass ich mit dem Peter gehe, hast aber Geheimnisse vor mir? kriegst Briefe und versteckst sie?“ Ihre hübschen Brauen zogen sich zusammen, um den Mund zuckte ein unbezwingliches Lächeln. „Meinst denn, dass ich nicht eifersüchtig bin?“
Sie scherzte, sie verhöhnte ihn, er wusste es und — war beseligt, dass sie so mit ihm scherzte. „Ja, just — eifersüchtig! Du wirst just eifersüchtig sein,“ brummte er, und ein Himmel tat sich vor ihm auf bei dem Gedanken, wie es denn wäre, wenn aus dem Spiel, das sie jetzt mit ihm trieb, einmal ernst werden sollte. Einmal! in der weiten, unabsehbaren Zukunft, die noch vor ihm lag, und der er, wenn auch kein anderes, doch ein festes Vertrauen auf die eigene Kraft entgegentrug.
Die Vinska hatte eine Hand auf die schlanke Hüfte gestemmt und streckte die andere nach ihm aus: „Von wem ist der Brief, Pavlicek?“ fragte sie schmeichelnd und schelmisch, „der Brief, den du an deinem Herzchen versteckst?“
„Von meiner Mutter,“ antwortete er rasch und wendete sich ab.
Vinska tat einen Ausruf des Erstaunens: „Wenn’s wahr ist! Ich hätt nicht geglaubt, dass die im Zuchthaus Briefe schreiben dürfen. Was könnten sie auch schreiben? — gute Lehren vielleicht, wie man’s anstellen soll, um zu ihnen zu gelangen ins freie Quartier.“
Pavel nagte gequält an den Lippen.
„Wirf den Brief weg,“ fuhr Vinska fort, „und sag niemandem, dass du ihn gekriegt hast; es soll nicht heissen, dass zu uns Briefe kommen aus dem Zuchthaus. Die Leute sagen uns ohnehin genug Übles nach.“
„Noch immer weniger, als ihr verdient!“ rief Pavel heftig aus, und Vinska errötete und sagte verwirrt und sanft:
„Ich hab dein Bestes im Sinn; ich hab gestern den ganzen Tag für dich genäht; ich hab dir ein ganz neues Hemd gemacht.“
„Ein Hemd — so?“
„Aber glaub mir, mit der Mutter sollst du nichts zu tun haben; glaub mir, sie hat den Galgen mehr verdient, als dein Vater, und er hat gewiss recht gehabt, wie er immer ausgesagt hat vor Gericht: das Weib hat mich verführt . . . Er hat nichts von sich gewusst, er war ja immer besoffen; aber sie — o, sie hat’s hinter den Ohren gehabt! . . . und es war halt wie im Paradies mit dem Adam und der Eva.“
Sie sah ihn lauernd von der Seite an und begegnete in seinen Zügen dem Ausdruck einer grossen Überraschung.
„War denn der Adam besoffen?“ fragte er mit ehrlicher Wissbegier.
Vinska fasste ihn an beiden Ohren, rüttelte ihn und lachte: „O wie dumm! nicht vom Adam, von deinem Vater ist die Rede, und dass deine Mutter ihn verleitet hat, den Geistlichen umzubringen.“
„Schweig!“ rief Pavel, „du lügst.“
„Ich lüg nicht, ich sag, was ich glaube und was andere glauben.“
„Wer, wer glaubt das?“
Sie antwortete ausweichend, aber er packte ihre Arme mit seinen starken Händen, zog sie an sich und wiederholte: „Wer sagt das, wer glaubt das?“ bis sie geänstigt und gefoltert hervorstiess:
„Der Arnost.“
„Mir soll er’s sagen, mir; ich schlag ihm die Zähn’ ein und schmeiss ihn in den Bach.“
„Dir wird er’s nicht sagen, vor dir fürchtet er sich — lass mich los, ich fürcht mich auch; lass mich los, guter Pavel.“
„Aha, fürchtst dich, fürcht dich nur!“ sprach er triumphierend — und entwaffnet. Zum Spass rang er noch ein wenig mit ihr und gab sie plötzlich frei. Reicher Lohn wurde ihm für seine Grossmut zu teil: die Vinska sah ihn zärtlich an und lehnte einen Augenblick ihren Kopf an seine Schulter. Ein Freudenschauer durchrieselte ihn, aber er rührte sich nicht und bemühte sich gleichgültig zu scheinen.
„Pavel,“ begann Vinska nach einer Weile, „ich hätt eine Bitte, eine ganz kleine. Willst sie mir erfüllen? — es ist leicht.“
Sein Gesicht verdüsterte sich: „Das sagst du immer, ich weiss schon. Was möchtest denn wieder?“
„Der alte Schlosspfau hat noch ein paar schöne Federn,“ sagte sie, „rupf sie ihm aus und schenk sie mir.“
Sie bat in so kindlichem Ton, ihre Miene war so unschuldig, und er völlig bezaubert. Er liess sich’s nicht merken, brummte etwas Unverständliches und schob sie sachte mit dem Ellbogen weg. Dann nahm er die Peitsche vom Herd und ging zur Schwemme, die Pferde zusammenzuholen, mit denen er auf der Hutweide übernachten sollte.
Die Hutweide lag in einer Niederung vor dem Dorfe, nicht weit vom Kirchhof, der ein längliches Viereck bildete und sich, von einer hohen, weissgetünchten Mauer umgeben, ins Feld hineinstreckte. Es war eine Nacht, so lau wie im Sommer, in unbestrittenem Glanz leuchtete der Mond, und die von seinem Licht übergossene Wiese glich einem ruhigen Wasserspiegel. Still weideten die Pferde. Pavel hatte sich in seiner Wächterhütte ausgestreckt, die Arme auf den Boden, das Gesicht auf die Hände gestemmt und beobachtete seine Schutzbefohlenen. Die Fuchsstute des Bürgermeisters, die weissmähnige, war früher sein Liebling gewesen; seitdem er, aber den Sohn des Bürgermeisters hasste, hasste er auch seine Fuchsstute. Sie kam, auf alte Freundschaft bauend, zutraulich daher, beschnupperte ihn und blies ihn an mit ihrem warmen Atem. Ein Fluch, ein derber Faustschlag auf die Nase war der Dank, den ihre Liebkosung ihr eintrug. Sie wich zurück, mehr verwundert als erschrocken, und Pavel drohte ihr nach. Er hätte alles von der Welt wegtilgen mögen, was mit seinem Nebenbuhler im Zusammenhang stand. Das Versprechen der Vinska flösste ihm kein Vertrauen ein, es war viel zu rasch gegeben worden, viel zu sehr in der Weise, in der man ein ungestümes Kind beschwichtigt.
Sie will kein Geschrei, kein Aufsehen, sie tut ja seit einiger Zeit so ehrbar, hat ihr früheres übermütiges Wesen, ihre Gleichgültigkeit gegen die Meinung der Leute abgelegt. Die Angst und Hast, mit der sie ausgerufen hatte: „Es soll nicht heissen, dass zu uns Briefe kommen aus dem Zuchthaus,“ klang dem Pavel noch im Ohr. Er meinte, das Blatt an seiner Brust brenne; er griff danach und zerknüllte es in der geballten Faust. Was brauchte sie ihm aber auch zu schreiben, die Mutter? hatte sie noch nicht Schande genug über ihn gebracht? Sie stand zwischen ihm und allen andern Menschen. Zwischen ihn und die Vinska, die so viel bei ihm galt, sollte sie ihm nicht treten . . . In seinem tiefsten Innern glaubte, ja wusste er: seine Mutter hat das nicht getan, dessen man sie beschuldigt, und dennoch trieb ihn ein dunkler Instinkt, sich selbst zu überreden, es kann wohl sein . . . Und aus dem schwankenden Zweifel wuchs ein fester Entschluss hervor: „Ich will nichts mehr mit ihr zu tun haben.“ Ihren Brief zerriss er in Fetzen. Auf dem letzten, den er in der Hand behielt, waren noch die Worte zu lesen: ,Deine Mutter die ärmste auf der Welt . . .‘ „Das bist du,“ musste er doch etwas wehmütig berührt zugestehen, „das bist du von jeher gewesen . . .“ Ihre grosse Gestalt tauchte vor ihm auf in ihrem Ernst, in ihrer Schweigsamkeit. Abends erliegend unter der Last der Arbeit, der Not, der Misshandlung, am Morgen wieder rastlos am Werke. Er sah sich als Kind an ihrer Seite, von ihrem Beispiel angeeifert, schon fast so still und so vertraut mit der Mühsal wie sie. Er erinnerte sich mancher derben Zurechtweisung, die er durch seine Mutter erfahren, und keiner einzigen Äusserung ihrer Zärtlichkeit . . . vieler jedoch ihrer stummen Fürsorge, ganz besonders der alltäglich vorgenommenen ungleichen Teilung des Brotes. Ein grosses Stück für jedes Kind, ein kleines für sie selbst . . .
Pavel begann die Fetzen des Briefes zusammenzulesen, legte sie aufeinander und betrachtete das Päckchen, ungewiss, was er damit anfang...

Inhaltsverzeichnis

  1. Titel
  2. Kolophon
  3. I.
  4. II.
  5. III.
  6. IV.
  7. V.
  8. VI.
  9. VII.
  10. VIII.
  11. IX.
  12. X.
  13. XI.
  14. XII.
  15. XIII.
  16. XIV.
  17. XV.
  18. XVI.
  19. XVII.
  20. XVIII.
  21. XIX.
  22. Über Das Gemeindekind