Achtes Kapitel
Das Break mit den beiden Braunen rollte in flottem Tempo Idesfelde zu.
Die Frau Oberförster sass mit leuchtenden Augen wie verklärt und grüsste mit dem Blick jeden Baum und Strauch, der ihr seit vielen, langen Jahren zum Freund geworden war.
Die Freude ist ein grosser Faktor im Rechenexempel nervöser Leiden, und die Beruhigung, eine Zeitlang nicht mehr das grausig viele Geld in der Stadt ausgeben zu müssen, sondern sparen zu können für Tage noch grösserer Ausgaben, machten ihr krankes Herz leicht, wie lange nicht mehr zuvor.
Zu angenehmer Überraschung hatte Pastors Susi sie abgeholt, und als man das Reisegepäck für den nachfolgenden Leiterwagen zum Abholen bereitgestellt hatte, stieg man ein.
Man war noch keine paar Minuten gefahren, als der Kutscher angerufen warb und die Zügel anzog.
„Ja, ja, Herr Förster, es ist noch Platz im Wagen, Sie können gern mitfahren. Heben Sie nur das Kistchen hier herauf, ich kann es unter den Sitz stellen.“
Susi hatte sich lebhaft vorgebeugt. „Ah, Herr Hoeder!“ rief sie und sah plötzlich ganz echauffiert aus. „Kommen Sie aus der Stadt? Wollen Sie mitfahren? Dann schnell einsteigen! Das ist ja grossartig, dass wir Sie abgefasst haben!“
Ein junger Herr in sehr kleidsamer Jagduniform trat grüssend an den Wagen, öffnete den Schlag und bat erst, als er schon eingestiegen war und das Break eilig weiterrollte, ihn den mitfahrenden Damen bekannt zu machen.
Bei dem Klang des Namens Mainau hob er jach den Kopf und starrte erst die Mutter, dann die Tochter wie eine Vision an. Er bemerkte, dass Frau Mainau ganz harmlos und fremd blieb, Nanna aber erst mit grossen Augen, dann, leicht errötend, mit recht abweisendem Ausdruck um das herbe Mündchen, den Kopf zur Seite wandte, als lohne es gar nicht, den Herrn anzusehen.
Langsam setzte sich Lukas nieder, Susi aber fuhr, zu Frau Mainau sprechend, eifrig fort:
„Herr Förster Hoeder, der Nachfolger Ihres geehrten Gatten, liebe Frau Oberförsterin. Wie schön, dass Sie ihn gleich kennenlernen. Nun können Sie ja bald auch Ihr ehemaliges liebes Heim wiedersehen.“
Die kranke Witwe sah den jungen Herrn mit wehmütig freundlichen Augen an, reichte ihm sehr herzlich die Hand und sagte: „So heisst auch die grüne Farbe und das traute alte Forsthaus mich alsogleich willkommen! Möchte Ihnen in demselben das nämliche, reiche Glück erblühen, wie wir es so lange Jahre darin genossen!“
Da erkannte der Förster, dass die Leidende keine Ahnung von dem Brief der Frau Friederike und der Antwort ihrer Tochter hatte, sonst hätte sich ein total anderes Interesse in ihrem Blick gespiegelt.
Er antwortete sehr höflich und wiederholte die Einladung, zu der Susi ihn provoziert hatte, dann blickte er erwartungsvoll auf Nanna.
Sie sah reizend in dem dunklen Hut aus, unter dem das Haar desto goldener hervorleuchtete.
Aber der Ausdruck ihres hübschen Gesichtchens war lediglich die Illustration zu ihrem so schroff und unhöflich abweisenden Brief, und die Hand reichte sie ihm nicht, wie die Mama es getan. — Das war die Bestätigung.
So wandte sich der Förster zu Susi, die ihn voll sichtlichen Entzückens, sehr angeregt und noch übermütiger als sonst, mit Beschlag belegte.
Da schüttelte der junge Jäger energisch etwas von sich ab, was ihm unsichtbar Herz und Geist beklemmen wollte, und war ebenso unverändert lustig und amüsant, wie es sonst sein Wesen war.
Nanna beteiligte sich nicht an der Unterhaltung, wenn die beiden aber ihre drolligen Scherze machten und ihre Neckereien trieben, so dass die Oberförsterin hell auflachen musste, was seit langer Zeit nicht mehr geschehen, dann lächelte auch Nanna, und je länger die launige Unterhaltung währte, desto ungestümer kribbelte es ihr durch alle Nerven, sich an solcher Fröhlichkeit zu beteiligen!
War es doch ihr ureigenstes Wesen, lustig zu sein, und ward ihr die Unnatur, die klagende Rolle einer ihr so fremden Muse zu spielen, schon in letzter Zeit recht sauer! — Aber sie hatte sich in ihre Schwärmerei verrannt und hielt eigensinnig an ihr fest, gleichviel, ob sie sich ihrem ganzen Wesen und Verstehen nach zu dem Weib eines Mannes eignete, dessen idealem Gedankenflug in höhere Sphären der Kunst und Wissenschaft zu folgen.
Wie hübsch war er! — Sie musste es zugeben.
Eigentlich verkörperte er ihr Ideal, seit sie als Försterstochter zum erstenmal den Freischütz gehört und sich als Agathe nach einem Max sehnte, genau solchem, wie er auf der Bühne ihr Herzchen in Flammen setzte. Und nun sass er ihr gegenüber, ganz genau so! — Die prachtvollen dunklen Blitzaugen, voll Humor und Stolz, das flotte Bärtchen und das dunkle Haar ... wie schön so eine grüne Uniform kleidet, sieht sie beinahe zum erstenmal. — Stak wohl noch kein derartig schmucker Mann darin.
Susi ist bis über die Ohren in ihn verliebt, das kann ein Blinder sehen.
Auf ihr Befragen hat Lukas erzählt, dass er in rasender Eile, Geschwindigkeit von 0,5, mit dem ersten Zug nach der Stadt dampfte, um einen Vorrat an Patronen zu holen, da die seinen für die vierzehn Tage, aus denen leicht drei Wochen werden können, „vielleicht“ nicht ausreichen, und ein Weidmann ohne Pulver und Schrot alsogleich als Rebhuhnscheuche aufs Feld gestellt werden kann, — und dann erzählt er so allerhand Schnurren von seinen Dackeln (Hunde, die Nanna so zärtlich liebt), — und schliesslich kommen sie auch auf die festliche Zeit, die nun in dem Schloss anbricht, zu sprechen.
Gestern abend haben sie schon ein wenig getanzt.
Selbstverständlich ist auch von Herrn Bragi die Rede, aber nur so nebenbei.
„Hat er nachher noch vorgespielt?“ fragt Hoeder.
Susi zuckt gleichmütig die Achseln. „Soviel ich weiss, nicht. Wir fuhren ja gleich heim. Ehrlich gestanden habe ich solch einen Vortrag nicht vermisst. Ich gestehe offen ein, dass ich ein musikalisches Ungeheuer bin, und so viel wahres, eminentes Verständnis Fräulein von Heimdall dafür besitzt, so stiefmütterlich bin ich damit bedacht!“
„Sie haben recht!“ nickt Lukas und sieht mit keiner Wimper zu Nanna hinüber. „Wenn man nicht einen tatsächlichen Genuss an der Musik hat, soll man ihr fernbleiben. Ich verstehe auch soviel davon wie der Esel vom Lautenschlagen, und bin sehr dafür, dass wir künftighin eine fidele Ecke im Nebenzimmer oder Garten bilden, wenn es am Flügel allzu klassisch wird!“
„Weiss der Kuckuck,“ lacht Susi forsch, „dass die meisten Stücke solche Trauerkutschen sind! Diese Sentimentalität! Dieses Gewimmere! Das halte ich nicht aus! — Wenn ich den lieben langen Tag wie Edelgard mit Herrn Bragi am Klavier sitzen und über all das schrecklich Unverständliche in Verzückung geraten sollte — ich würde verrückt!“
„Jedes Tierchen hat sein Pläsierchen! Ich bin fürs Fidele! Lachen und amüsieren!“
„Er ist aber ein sehr schöner, interessanter Mann und sieht doch recht gut aus!“ warf die Frau Oberförsterin freundlich ein.
„Und ein grosses Talent, ein Mann, der Zukunft hat!“ setzte Nanna mit recht ungnädigem Blick hinzu.
„Selbstverständlich, beides, obwohl Schönheit doch Geschmackssache ist!“ beharrte Susi. „Wer so völlig in der Musik aufgeht wie Edelgard, bildet sich das Antlitz ihres Ideals meist klassisch, so ernst, schwermütig, beinahe wie Bragi aussieht. — Mir fällt solch ein verkörpertes Moll zu sehr auf die Nerven! Für die Dauer hielt ich lustiges Geschöpf solch einen Anblick gar nicht aus! Wenn ich wählen soll zwischen einem Symphoniekonzert und einem Kientopp, so ziehe ich tatsächlich den letzteren vor — —“
Lukas lacht, dass seine prachtvollen Zähne unter dem dunklen Bärtchen blitzen.
„Aber Fräulein Susi! Ich wusste ja gar nicht, dass Sie taubstumm sind!“
„Taubstumm?“
„Nun ja! Ich nenne die Kinos nur ‚Theater für die Taubstummen‘, denn die fünf gesunden Sinne, die man sonst in die Oper oder das Schauspiel mitnehmen muss, um hören und in Gedanken mitreden zu können, — die sind doch bei dieser grossen naiven Laterna magica nicht nötig!“
Susi lachte schallend auf, Frau Mainau folgte, erschrocken aus ihren Gedanken auffahrend, höflich diesem Beispiel, und Nanna nickte triumphierend: „Ganz recht! Die Musik lässt sich durch keine Mimik ersetzen!“
Aber es ärgerte sie namenlos, dass der angebetete Mann anscheinend so gar keinen Effekt mehr in Idesfelde macht! Hat man etwa hier auch schon von der rasend schlechten Kritik gehört, die er nach seinem Konzert bekommen, das doch anscheinend so grossen Erfolg hatte? — Fräulein Herta hat ja schallend aufgelacht, als sie ihr von dieser entsetzlichen Zeitung erzählte: „Aus dem wird nie etwas, nie,“ hatte sie gehöhnt, „der ist jetzt schon moralisch tot!“
Da war es Nanna schon so wunderlich angst geworden.
Im Grunde genommen hat Susi recht. Was man nicht versteht und ist, das soll man auch nicht scheinen wollen. — Und im Grunde genommen versteht sie ja gar nichts von Musik. — Sie hatte sich damals, als er, der geheimnisvolle Dorfmusikant, alle neugierigen Gemüter erregte, rasend in ihn verliebt, und Edelgard sprach ja so viel von ihm, so wie es bei jungen Mädchen Sitte ist. Man muss ein Ideal haben, namentlich in der Einsamkeit.
Trotzig warf sie den Kopf zurück.
Es ist ja gut, wenn sich nicht alle in ihn verlieben, wenn Edelgard und sie die einzigen bleiben, die einen so exquisiten und vornehmen Geschmack haben!
Aber Susis Worte klingen ihr noch in den Ohren, und Hoeders fein ironischer Blick, der sie gestreift, frisst an ihrer Seele.
Nanna huscht die Treppe des Herrenhauses empor.
Sie hat Valentin aufgestöbert und ihn zum Vertrauten gemacht.
„Bitte, Alterchen, gehen Sie doch mal in das Musikzimmer, wo Fräulein Edelgard und Balder Bragi üben, und melden Sie recht aufgeregt, dass ich soeben überraschend eingetroffen sei!“
„Aufgeregt?“ Der ehemalige Lakei schüttelt den Kopf. „Aber Fräuleinchen, das schickt sich doch nicht für einen herrschaftlichen Diener! Ich werde aber eine gewisse Herzensfreudigkeit — mit aller Reserve — durch meine Stimme klingen lassen! Wo werden Sie eintreten?“
„Ich folge Ihnen auf dem Fusse! Ich muss doch den Knalleffekt sehen, den diese Überraschung macht!“
Valentin ist solch ein unvorschriftsmässiger Verkehr hier im Schloss nicht sympathisch, die ehemaligen Kinder sind doch nun erwachsen und müssten jetzt in ihrem Wesen untereinander etwas formvoller werden! — Aber er tut der Kleinen den Gefallen, streicht noch einmal glättend mit der Hand über den dunklen Tuchrock und tritt in den Musiksalon.
Nanna steht hinter dem Türflügel und schaut, fiebernd vor Spannung, diesem Wiedersehen, von dem niemand etwas ahnt, entgegen.
Der Diener räuspert sich, und Fräulein von Heimdall schaut flüchtig auf.
„Was gibt’s, Valentin?“
Der Alte legt wie in bebender Freude die Hände ineinander.
„Eine grosse Überraschung und Freude, gnädiges Fräulein! Soeben ist Fräulein Nanna Mainau aus der Stadt hier eingetroffen!“
„Ach, das ist ja sehr nett!“ lächelt Edelgard. „Ich komme gleich.“
Der Diener ist entlassen.
Balder hat den Geigenbogen sinken lassen! Gerade an der schönsten Stelle, die zum erstenmal wunderbar geglückt ist! Die Introduktion und Capriccio von Saint-Saëns! — Er hätte sich aus freien Stücken nie an eine derartige Aufgabe herangewagt, aber Edelgard hat eine so seltsame Art, ihn zu begeistern.
„Lassen Sie uns nur einmal versuchen!“ bittet sie. „Wir wollen ja keine Meisterleistung bieten, nur uns an den wundervollen Themen entzücken! Es ist schwer gesetzt — ich gebe es zu, aber warum sollten wir die verhindernden Widerwärtigkeiten — allen Schicksalsmächten zum Verdruss — nicht zwingen? Über die Kindermusik sind wir doch hinaus!“
Und wenn sie dann spielen und es glückt ihm, schaut sie zu ihm auf und lächelt ihm zu.
O dieses Lächeln!
Durch Wasser und Feuer — durch Qual und Tod würde er gehen um dieses wundersame, selige Lächeln!
So hat sie ihn damals angeschaut, als sie ihm die Rose reichte. — Sein Ritterschlag.
Und nun hat er gerade eine der schwierigsten Passagen „im Sturm genommen“, da stört Valentin mit seiner Meldung.
„Wollen Sie gehen, gnädiges Fräulein? Hat es nicht noch einen Augenblick Zeit?“
„Sie möchten gern zu Ende spielen?“
„Wir sind so glänzend im Zug! Solch einen Aufschwung der Begeisterung muss man festhalten!“
Sie spielen weiter.
Fräulein Mainau starrt auf das höchste betroffen das Unfassliche an.
Das hatte sie nicht erwartet! — Also die Musik ist ihm lieber und wichtiger als das Wiedersehen mit ihr!
Sie gräbt die Zähnchen in die Lippen.
Wie lange soll denn das Spiel noch dauern?
Jetzt erst empfindet sie, wie verständnislos sie ihm lauscht.
Susi hat recht. So etwas allzu Klassisches ist auch nicht ihr Geschmack!
Gar keine Melodie.
Sie hört und hört doch nichts.
Und dass man ihr Kommen so völlig gleichgültig abtut, verdriesst sie.
Sollte Mama doch recht haben?
Mütter haben scharfe Augen, und die Oberförsterin hat so eindringlich gebeten: „Ich bitte dich, Herzchen, deute Bragis Besuche nicht falsch! Er hat nicht viel andern Verkehr, und er kommt zu uns, weil es ihm bequem ist und er anscheinend gern von Idesfelde spricht. Du hörst, wie seine ganze Seele ...