Menschen unter Zwang
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Menschen unter Zwang

  1. 297 Seiten
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Menschen unter Zwang

Über dieses Buch

Die uralte Friederike Längnick hütet die ihr aus ihrem Grund und Boden zugeflossenen Millionen als höchstes Gut. Trotz aller Besitzmacht als reiche Schlossherrin kann sie den Verfall ihrer Familie nicht aufhalten. Sohn, Enkel, ja selbst die junge, heißgeliebte Urenkelin Lore, deren Leben sie mit Klugheit zu formen gedachte, entreißt ihr ein unerbittliches Schicksal. Ihr verhärtetes Herz bricht erst beim Verlust des Geldes in der Inflation. Menschen unter Zwang – das sind wir alle. Eine fesselnde Handlung in einer in Verwirrung geratenen Epoche.-

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Information

XIX

Schwach war der Hilferuf einer Menschenstimme verklungen. Wind, der sich allabendlich aufmacht, in Wipfeln und Büschen spielt, dass sie rauschend sich neigen, hatte ihn nicht weit getragen auf seinen Schwingen, niemand hatte ihn gehört. Aber der Schrei, der bald darauf folgte, der brach sich Bahn durch Wipfel und Büsche, fuhr in den Hof hinein, stiess gegen die Fenster des Schlosses.
Doris Mittler, die im Esszimmer am Abendbrottisch wartete, fuhr zusammen. Der Gnädigen hatte man ihr Essen heraufgebracht, sie selber war ganz allein. Sie wartete ungeduldig schon lange: warum kamen Lore und Britta denn heute nicht zur Zeit? Herr Till war auch noch nicht da. Der Schrei hatte sie erschreckt, die Teetasse klirrte in ihrer Hand: klang das nicht schauerlich? Sie beugte sich zum Fenster hinaus: drüben auf dem Hof war schon Feierabend. Aber es standen noch welche herum, hatten die’s auch gehört? Sie winkte und rief ihnen.
Alle hatten den Schrei gehört. Das war nicht der Schrei des Hütejungen gewesen, mit dem er allabendlich das weidende Jungvieh zusammentrieb. Einige wollten zweimal den gleichen Schrei gehört haben. Wer schrie denn so? Vom Park kam es her. Aus der Richtung des grossen Teiches. Schrie jemand dort?!
Das Fräulein war unruhig: „Wo ist der Inspektor?“ Einer sollte gleich laufen, ihn zu ihr rufen.
Da kam er auch schon. Eben erst war er vom Feld heimgekommen, verstaubt und verschmutzt. Das Haar hing ihm noch wirr, gefeuchtet vom Schweiss; er hatte sich gerade reinigen wollen, den Kopf in die Waschschüssel tauchen, da hatte auch er den Schrei gehört. Er war blass trotz allen Gebräuntseins: der Schrei, oh, was für ein Schrei!
„Die Beiden sind zum Weiher gegangen —. Lore, wo ist Lore?“ fuhr die Mittler ihn an. Er konnte es ja nicht wissen, aber ihre plötzliche Herzensangst liess sie so fragen. „Mein Gott, dieser Schrei — laufen Sie, laufen Sie — Lore, Britta!“ Und die Mittler raffte ihr langes Kleid, so konnte sie schneller laufen, und rannte, allen voran, in den Park hinein: „Lore! Britta!“
Keine Antwort.
Sie rasten dem Weiher zu.
Ein Kahn, kieloben, nah ans Ufer getrieben. Und da ein Ruder. Langsam schwamm es daher; dort das andere. Sonst gar kein Zeichen. Alles einsam und still. — — —
Ein Unglück war geschehen, ein furchtbares Unglück. Schloss und Dorf Güldenaue, die kleine Stadt, der ganze Landkreis waren voll davon. Und darüber hinaus noch andere Städte und Dörfer; Menschen, viele Menschen nahmen Anteil daran. Ein junges, schönes und liebes Mädchen, die Erbin von Millionen! Und dann so elend ums Leben gekommen! Der Unglücksfall war kaum zu erklären. Sie hatte sich vielleicht aus dem Kahn gebeugt, hatte das Übergewicht bekommen. Ach, dieses unglückselige Teichrosenpflücken, es hatte schon manches Opfer gekostet. Aber auf dem Teich im Park von Güldenaue wuchsen ja nicht weisse lockende Wasserrosen, die gedeihen nur im Sumpfigen. Sein Wasser war rein und frei, viel zu klar, zu fliessend. Wie war das Unglück möglich gewesen?
„Britta konnte doch schwimmen, gut schwimmen, warum hat Britta sie nicht gerettet?!“ Doris Mittler rang verzweifelt die Hände. „Warum hat sie Lore nicht gerettet — warum nicht?!“
Tom Till zuckte die Achseln: „Sie hat es ja versucht. Sie ist selber dabei ums Leben gekommen. Britta hielt Lore ja noch fest umschlungen. Man hat ihre Arme nur mit Gewalt von dem anderen Körper lösen können. Ich habe beide zusammen heraufgebracht. Und da wollen Sie Britta noch Vorwürfe machen?“ Er sagte es finster, seine Augen sahen die Mittler an, plötzlich ganz dunkel und drohend.
„Nein, das will ich gewiss nicht! Aber wäre sie doch niemals zu uns ins Haus gekommen — ach, ich habe es immer geahnt! Ich glaube, ich hab’s auch zu Ihnen einmal gesagt, eine andere Gefährtin für Lore wäre mir lieber. Britta hat uns Unglück gebracht!“
Und das sagten manche. Besonders die Stütze, die Rotenbücher. Sie hatte Britta, ‚die Zigeunerin‘, wie sie sie nannte, nie leiden können. Es war ganz gegenseitig gewesen, Britta hatte gesagt: unverschämt dreiste Person. Nun stand sie auf dem Hof herum und hetzte die Leute auf. Was, die glaubten noch, die Zigeunerin hätte Fräulein Lorchen retten wollen? Keine Spur. Neidisch war sie auf Fräulein Lorchen, weil die schöner war und reich und Herrn Till heiraten würde, wie die alte Gnädige es bestimmt hatte. Sie war eben selber versessen auf ihren Stiefvater gewesen. Man sollte es kaum für möglich halten, aber zu dem schlich sie sich nachts. „Pfui, so ’n junges Ding noch!“ Sie spuckte eine ganze Ladung Gift aus. Dieses unreife Ding und schon so raffiniert! Die hatte den armen Menschen von richtigen Frauen zurückgehalten. Wer weiss, ob sie, Berta Rotenbücher, jetzt nicht schon Frau Inspektorin wäre, wenn das verwünschte Ding sich nicht an ihn gehangen hätte wie eine Klette.
Niemand wusste Näheres, die Rotenbücher fand gläubige Ohren. Damals, als sie dahintergekommen war, war es noch so früh am Morgen gewesen, dass alles noch schlief auf dem Hof wie im Schloss. Sie aber war wach geworden, weil der Hahn so laut krähte. Sie hatte sich heruntergeschlichen, dem verwünschten Vieh den Hals umzudrehen, da waren die beiden vom Inspektorhaus her gekommen mit einer Leiter. Er setzte die an, und die Zigeunerin kletterte daran herauf und kroch wie eine Katze in ihr Schlafzimmerfenster. Sie kam von ihm! War so was erhört? Man wäre beinahe selber noch in Verdacht gekommen, die Gnädige, die ja schlecht schlief, hatte was von Leiteransetzen gehört. Nun aber würde sie, Berta Rotenbücher, auch alles aufdecken, wenn es ihr passte, und wenn er etwa nicht wieder nett werden sollte gegen sie. Und noch mehr, noch viel mehr würde sie sagen können, wenn sie nur wollte. Wer weiss, ob man nicht noch die Polizei herbekam, Untersuchungsrichter und noch andere Herren, kluge Leute, die sich nicht so dumm machen liessen wie andere hier. Eine Untersuchung musste angestellt werden, alle verhört. Die Zigeunerin hatte Fräulein Lorchen aus dem Nachen gestossen, all ihr Freundschaftsgetue war Heuchelei. Sie hatte das getan aus Neid und aus Eifersucht! Dass sie selber dabei ertrinken musste, das war die Strafe Gottes!
Tom Till hörte Geschwätz. Er wollte nicht hören und hörte doch; er horchte beunruhigt und begierig danach. Vom ersten Tag an flog etwas herum auf dem Hof, flog durch Ställe und Scheunen, wisperte, raunte. Er hätte es gern abgefangen, erstickt, aber er konnte das nicht; es war körperlos, liess sich nicht mit den Händen ergreifen. Aber da war es, da war es, stand in den Ecken, ging durch die Leutehäuser, sass mit beim Essen, ging mit zum Schlafen, auch mit zur Arbeit, Männer und Weiber trugen es heimlich mit sich herum.
Tom Till blickte misstrauisch in die Gesichter: stand dort zu lesen, was sie dachten und glaubten? Die braunen gegerbten Gesichter, hart geworden von Sonne und Wind, zeigten nichts; undurchdringlich die Mienen, stumpf die Blicke — aber, halt, offenbarten sie es nicht doch?! Er sah es ganz deutlich: sie beargwöhnten ihn. Ja, von jeher schon: wer war dieser fremde Mensch, der ihnen zum Inspektor gesetzt war? Er war nicht von hier, niemand kannte seine Vergangenheit, sie hatten ihn nie gemocht. Er war wohl dem Schlosse verwandt, die längst verstorbene Frau von Herrn Längnick war die Schwester seiner Frau gewesen, aber diese Frau war ja nun auch tot, zwei Jahre schon — an was, an was war die eigentlich gestorben? Sie war verschwunden. Unauffindbar. Das zeugte erneuten Argwohn.
Tom Till fühlte sich nicht mehr sicher hier. Der Boden schien ihm zu schwanken, war unsicher wie das Deck eines Schiffes, das wilde See überspült. Er mühte sich vergebens, wieder die Ruhe zu gewinnen, die gleiche eiserne Ruhe und beherrschte Haltung, die er anfänglich noch hatte zeigen können. Er war zu der alten Frau hinaufgegangen, einer musste es ihr ja mitteilen. Die Mittler getraute sich’s nicht: wenn die Greisin nun vor Schrecken der Schlag rührte? Sie hatte die alte Frau Längnick niemals geliebt — geizig, kalt, herrschsüchtig —, aber nun überströmte heisses Mitgefühl sie. Und sie hatte den Mut nicht, der Urgrossmutter von dem Unglück zu sagen. Sie blieb vor der Türe in Tränen stehen und wartete auf Tom Tills Ruf: ‚Sie stirbt!‘
Als Tom Till bei der Greisin eintrat, lag die im Bett, ihr ‚Herein‘ klang schwach und hilflos, man hörte es kaum. Aber er wäre auch eingetreten ohne ‚herein‘. Einmal musste es ja gesagt sein; und je eher, je bester, dann hatte man’s hinter sich. Noch war ein Gefühl, alles andere beherrschend, in ihm: das übermenschlich starke, grausame Gefühl der Genugtuung. Sie hatte gebüsst. Er trug sein Herz wie Eis in der Brust: sie würde ihn nicht mehr verachten. Aber sie würde nun auch nicht lächeln mehr. Und das packte ihn plötzlich, packte auch das Eis in seiner Brust an — es schmolz. Er würde sie nie mehr daherkommen sehen, nie mehr, den Kranz von rotblühendem Klee auf dem Kopf!
Was war geschehen?! Wie konnte so etwas geschehen?! Fürchterlich, fürchterlich! Er beherrschte kaum mehr sein Zittern: dass so etwas sterben musste, Lieblichkeit, Unschuld, Jugend! Wahnsinn, Wahnsinn! Wahnsinn vor Gott, vor den Menschen Verbrechen. Was sagte er nun der alten beraubten Frau?! Jetzt erst ward er sich des eigenen Entsetzens bewusst. Wie sollte er es mit Worten schonsam umhüllen, was er Entsetzliches vor sich gesehen hatte in nackter Wahrheit am Weiher? Er kniff die flackernden Augen zu: oh, nicht sehen, nicht sehen! Er hielt nicht mehr an sich, er stiess heraus: „Lore!“
„Ja, wo ist Lore? Ist sie da?“ Die Urgrossmutter richtete sich ein wenig auf, sie hatte gedämmert; ihre Blicke durchforschten das vom Abend verdunkelte Zimmer. „Ich glaubte doch, ihre Stimme zu hören. Komm herein, Lorchen, komm!“
Das war zu viel, das ertrug er nicht länger. Mit einem Stöhnen fiel er am Bett auf die Knie: „Lore kann — Lore ist — sie kann nicht kommen — gnädige Frau, oh, gnädige Frau, nie mehr!“ Er schrie das laut. Er fasste die welken Hände: erkalteten sie nicht in den seinen? Nein, die seinen waren noch viel, viel kälter. Er presste die Hände der Greisin, er wollte die küssen.
Sie entzog sie ihm: „Lassen Sie das!“ Sich mit einem gewaltsamen Ruck emporraffend, sass sie aufgerichtet im Bett: „Ich will es hören. Sagen Sie’s rasch — rasch! Ich muss es wissen, will alles wissen — Lore ist tot?!“
Er nickte nur stumm bejahend. Grauen kam ihn an vor dieser Uralten. Kam deren Stimme nicht bereits aus dem Jenseits, wo Schuld und Sühne gewogen werden von einem gerechten Richter? Seine Stimme erstickte, sein Atem war fort, sein Mut war zerschlagen; er brachte kein Wort heraus.
„Wie kam es?“ fragte sie nach Minuten, die sich ihm lang hingedehnt hatten zu Ewigkeiten.
Er rang nach Luft, er stöhnte, stotterte, stockte wieder. So schwer hatte er es sich nicht gedacht, es ihr zu sagen. War er denn nicht Herr mehr über sich selber? Mit höchster Anstrengung bezwang er seine Nerven. Und Gott sei Dank, jetzt war es heraus! Er hatte ihr alles gesagt.
„Ertrunken also“, sagte sie dann; es klang wie von ganz fern, unheimlich. Und dann wieder nach einer Pause: „Beide?“
Da neigte er, abermals stumm bejahend, den Kopf. — — —
Aus dem grossen Saal, aus dem man zur Konfirmation die Wäscherolle herausgebracht hatte und nachher wieder hineingeschoben, war die abermals entfernt worden; es war alles feierlich hergerichtet. Statt der grünen Girlanden, die zum Konfirmationsfest an den Wänden gehangen hatten, hing zur Trauerfeier jetzt schwarzer Flor.
Selbst die grausam blickende Wildkatze über dem Saaleingang war durch schwarzen Flor verhängt worden. Doris Mittler weinte bitterlich, als sie auf der Leiter stand und den befestigte: ach, wie hatte Lore als Kind das arme Häschen bedauert, das das böse Raubtier unter den Krallen hielt! Nun war Lore, dies über alles geliebte Kind, selber zum Opfer gefallen — dem Tod, oder wem?! Es war Doris Mittler allerlei zu Ohren gekommen, es gab eine Menge Leute auf dem Hof und im Dorf, die an jenes andere glaubten. Aber sie glaubte an anderes nicht, sie wollte gar nichts davon hören. Sie verbot streng alles Geschwätz. Es kam ihr wie die Entweihung eines Todes vor, in dem sie Lore verklärt sah. Wer hätte Lore auch etwas antun können, diesem besten, liebsten, gütigsten Geschöpf? So schlecht war kein Mensch. Britta war unvorsichtig gewesen, Britta hatte geschaukelt — hatte Lore sich nicht schon bei ihr darüber beklagt gehabt? Oh, dieses Mädchen, dieses Unglücksmädchen! Aber durfte man Britta alle Schuld beimessen? Till hatte recht: sie hatte ihr eigenes Leben zum Opfer gebracht. Sie konnte schwimmen, sie hätte sich sicherlich retten können, aber sie war der Freundin nachgesprungen, hatte die zu retten versucht. Dass ihr das nicht gelungen war, trotzdem ihre Arme Lore so fest umschlangen bis in die Starre des Todes hinein, dafür konnte sie nicht. Ein Krampf musste sie überkommen haben, oder vor Entsetzen ein Herzschlag.
Schwarz, schwarz alles verhangen. Die Läden geschlossen im ganzen Schloss. Feucht-dunkelnde Dämmerung, kühler Hauch, Geruch nach Zypressen und Buchsbaum, nach dem Grün und den weissen Blumen von Totenkränzen. Nun lagen sie beide im grossen Saal, Lore und Britta. Schwere eichene Särge mit Silberbeschlägen, das kostbarste an Kränzen und Ausschmükkung. Was die Urgrossmutter zur Konfirmation verweigert hatte, das hatte sie nun nachgeholt. Der Austritt der bleichen Erbin aus diesem Leben war weit prunkvoller als der Eintritt, da sie blühend und froh erwartungsvoll dem Leben entgegenging.
In weissseidenem Kleid lag Lore auf weissseidenem Kissen, wie ein Brautschleier hing ihr weisser Flor unter einem Myrtenkranz übers lange Haar; in den zusammengelegten Händen steckte das kleine goldene Kreuz, das sie bekommen hatte zur Konfirmation.
Und ebenso Britta. Britta, Lore im Leben so wenig ähnlich, kam ihr heute gleich. Die Erhabenheit des Todes, seine weisse Stille, hatte auch ihr Antlitz verklärt, dessen unruhvollen Ausdruck geglättet, die Züge veredelt.
Der Eintritt war gestattet. Gewährte es Friederike Längnick nicht so etwas wie Trost, dass viele, sehr viele kamen, ihre Lore noch einmal zu sehen? Die Mittler musste der Urgrossmutter oben berichten, wer alles zu Lore gekommen war. Ihr hatte es widerstrebt, die Aufbahrung öffentlich zu gestalten, so wie bei einer Fürstin, aber dann hatte sie doch auch empfunden, dass es wohltut, einen Dahingeschiedenen so geliebt und betrauert zu sehen.
Blumen, unendlich viele Blumen, Kränze, Kreuze, Gewinde aller Art, von den vornehmsten bis zu den einfachsten. Und Tränen, viele Tränen. Es stand keiner und keine vor Lore still, dem nicht heisses Nass in die Augen getreten wäre. Und Hände falteten sich, und durchschauert vom heiligen Anblick ging man auf Zehen nur zögernd wieder hinaus. — —
Die letzte Nacht. Morgen um elf war die Beisetzung auf dem Kirchhof. Nicht weit von den Eltern, im Schatten des grossen Steindenkmals, würde Lores Grab sein, und dicht daneben das von Brigitte Bade.
‚Im Leben unzertrennlich, im Tode vereint, im letzten Schlaf dicht nebeneinander, bis der Auferstehungsmorgen beide weckt und sie eintreten Hand in Hand in die himmlische Herrlichkeit‘, so gedachte Pastor Kimmel in seiner Rede zu sagen. Wenn er nur würde sprechen können vor lauter Bewegung? Er nahm den allerpersönlichsten Anteil, denn auch er hatte in der ihm teuren Schülerin eine zukünftige Tochter erhofft, obgleich er seiner Gattin alles Dazutun verboten hatte.
„Heiner, ach, unser armer Heiner“, schluchzte die Mutter. Sie wusste ja im Augenblick nichts davon, hielt es nicht für möglich, dass die Zeit heilt, dass Jugend, solch erste Jugend die glückliche Gabe besitzt, auch einen grossen Schmerz zu verwinden. —
Allein im nächtlichen, blumendurchdufteten Saal lagen Lore und Britta. Da öffnete sich die Tür von der Diele her. Die Urgrossmutter kam herein; sie ging auf Strümpfen, kein harter Tritt sollte sie verraten. Sie hatte gewartet bis Mitternacht; nun war niemand mehr auf, nun merkte es keiner, dass sie sich Lore noch einmal ansah. Sie hatte solches Verlangen danach. Eigentlich hätte sie sich Lore photographieren lassen sollen, so wie sie jetzt dalag. Wenn sie nun noch länger lebte, und es etwa vergass, wie Lore ausgesehen hatte? Nein, das vergass sie doch nicht, und wenn sie auch hundert alt würde. Es war finster im Saal, die Greisin hob ihre Kerze, die sie in der Hand trug, und leuchtete Lore hell ins Gesicht.
Ach, Lorchen sah aus, als ob sie nur schliefe! So lieb! Friedlicher, glücklicher fast als dazumal, da sie sie oben in ihrem Zimmer besucht hatte. Da war Lores Mund ein eigenwilliger Mund gewesen, jetzt waren die Lippen nicht mehr rot, aber, sieh, lächelten sie nicht? Die Urgrossmutter beugte sich über diesen Mund: Lore schlief fest, wachte heute nicht auf, sie konnte den ruhig küssen. Sie tat es. Ohne Grauen, der kalte Kuss flösste ihr keinen Schauder ein. Wenn man alt ist, dann geht ja der Tod immer nah nebenher, er ist ein guter Bekannter, man ist mit ihm auf Du und Du. Sehr merkwürdig — die Uralte schüttelte langsam den Kopf —, dass Lorchen nun hier lag und sie noch nicht! Ihre Gedanken suchten in der Vergangenheit: Jahre, viele Jahre — Tote, viele Tote. Ihr Mann, Johann Längnick, ihr Sohn Paul, William — Pauls Sohn — und genau so wie Lorchen jetzt, damals Pauls junge Frau, die Engländerin, Lorchens Grossmutter. Sie hatte immer dabeigestanden. Aber nur bei ihrem Paul hatte der Schmerz sie so zerkrallt, dass sie weinen musste. Auch heute weinte sie nicht.
Es war etwas Angstvolles in dem Blick, der in den Sarg starrte. Wie Lorchen ihrer Grossmutter glich! Und plötzlich senkte sich vor der Greisin Augen ein dunkler Vorhang. Als er sich wieder hob, war es nicht Lorchen mehr, die im Sarge lag — oh, oh, es war jene, jene! Die alte Frau streckte abwehrend ihre Hände: jene, die sie gehasst hatte, das Mädchen ohne einen einzigen Pfennig, das ihr trotzdem ihres einzigen Sohnes Herz gestohlen hatte!
Friederike Längnick stöhnte und kniff die Augen zu, ein heftiger Schmerz durchfuhr sie. Warum lag Lore hier? War es eine Schuld, die sie in ihrem Leben begangen hatte, die sich so an ihr rächte? Ach, sie war doch immer fleissig gewesen, mehr als arbeitsam, sie hatte Geld auf Geld gehäuft, Reichtum auf Reichtum — und nun?! Friederike Längnick knickte plötzlich zusammen. Es senkte sich auf sie eine Last. Die Last der Jahre war schwer, die Last der Gedanken, die ihr wie Anklagen kamen, noch schwerer. Oh, vieles hätte sie anders machen sollen, machen können, machen müssen! Nun es zu spät war, sah sie das ein. Wie Fledermäuse flatterten Anklagen in unruhigem Zickzack, flogen, lautlos und doch fühlbar, kalt und gespenstig ihr Gesicht streifend, durch den nächtigen Saal.
Sie war allein, allein mit dem Tod, sie sah ihn beim flackernden Kerzenschein. Da stand er! Dicht neben ihr, blickte sie an aus begehrlichen Augen, wollte schon nach ihrem Herzen greifen. Aber sie wehrte sich: nein, nein, noch war es nicht an der Zeit! Sie rang nach Luft. Sie musste erst Lorchen hier zur letzten Ruh bringen, im Trauergeleit zum Kirchhof gehen: ‚schlaf, mein Kind, schlaf!‘ Und dann musste sie sehen, dass sie Güldenaue verkaufte. Jetzt bekam man ja so viel Scheine dafür, dass man die gar nicht mehr zählen konnte. Man könnte sich die Tage mit Zählen vertreiben. Was wohl Tom dazu sagen würde, wenn sie Güldenaue verkaufte? Er war dagegen. Aber gleichviel, Lorchen war tot, deren Kinder und Kindeskinder würden nicht säen und ernten auf Güldenaue. Nun hatte Landbesitz, eigener Grund und Boden keinen Wert für sie mehr.
Die Greisin atmete tief auf: Gott sei Dank, nun hatte sie wieder Luft! Sie hatte den Tod abgeschlagen, der kalte Griff um ihr Herz lockerte sich. In den letzten Zügen lag ihre ...

Inhaltsverzeichnis

  1. Titel
  2. Kapitel I
  3. Kapitel II
  4. Kapitel III
  5. Kapitel IV
  6. Kapitel V
  7. Kapitel VI
  8. Kapitel VII
  9. Kapitel VIII
  10. Kapitel IX
  11. Kapitel X
  12. Kapitel XI
  13. Kapitel XII
  14. Kapitel XIII
  15. Kapitel XIV
  16. Kapitel XV
  17. Kapitel XVI
  18. Kapitel XVII
  19. Kapitel XVIII
  20. Kapitel XIX
  21. Über "Menschen unter Zwang"
  22. Kolophon