Schlump
eBook - ePub

Schlump

  1. 284 Seiten
  2. German
  3. ePUB (handyfreundlich)
  4. Über iOS und Android verfügbar
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Über dieses Buch

In kunstvoll einfacher Sprache schildert Hans Herbert Grimm die Geschichte des jungen Soldaten Emil Schulz. Begleitet von den Inhumanitäten des ersten Weltkrieges begibt dieser sich auf eine Suche nach Glück, Liebe und Frieden.

Grimms Werk erschien zunächst anonym, da der Autor seine bürgerliche Karriere nicht gefährden wollte.

"Schlump" war lange Zeit weitestgehend unzugänglich, da es als pazifistisches Werk der Bücherverbrennung der Nationalsozialisten zum Opfer fiel.

Häufig gestellte Fragen

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Drittes Buch

Die Schwester brachte ihm Briefe aus der Heimat. Drei Stück. Sie waren an das Regiment gegangen und ihm dann in das Lazarett gefolgt. Er suchte die Handschrift seiner Mutter heraus, öffnete den Brief und las:
Mein liebes Kind!
Es sind schon drei Wochen vergangen, seit ich die letzte Nachricht von dir habe. Wir leben in der höchsten Angst. Ich bete oft am Tag und in der Nacht, dass er Dich erhalten möge. In der Stadt gehen so schlimme Gerüchte um, dass unser Regiment schwere Verluste erlitten hätte. Was wirst Du jetzt in diesem Augenblicke durchmachen, mein armer Junge? Ich habe keine Ruhe, in der Nacht wach’ ich auf und muss für Dich beten. Dann wird’s mir ein wenig leichter. Hoffentlich kommt ihr bald ausser Gefahr, und dann, mein Kind, schreib, sobald Du kannst. Ach, wenn der Krieg zu Ende wäre und Du wieder arbeiten könntest und uns alle Tage mit Deinem fröhlichen Lachen kämst, ich bin selig schon bei dem Gedanken. Der Vater arbeitet noch in der Fabrik. Der Herr bewahre Dich, mein lieber Junge, und erhalte Dich in aller Gefahr. Hoffentlich haben wir bald einen Feldpostbrief von Dir, und hoffentlich ist der Krieg bald aus.
Sei herzlich gegrüsst von Deinen Eltern,
Deine Mutter.
Schlump spürte das Herz seiner Mutter, er merkte, dass sie sich alle Mühe gab, ihre Angst zu verbergen, um ihm das Leben nicht schwerer zu machen. Er liess sich gleich Papier und Tinte bringen und schrieb sofort nach Hause:
Liebe Eltern!
Ihr braucht Euch keine Sorge zu machen. Ich liege im Lazarett, und es geht mir gut. Sie haben mich auch schon operiert, aber sie haben den kleinen Granatsplitter nicht gefunden, der mir hinten in der rechten Schulter stecken soll. Das Operieren ist gar nicht schlimm. Es tut nicht weh, und man träumt die schönsten Sachen dabei. Ich hoffe, bald zu Euch zu kommen, denn ich werde bald gesund sein. Die Ärzte haben nämlich ein wunderbares Mittel erfunden, das heisst Jod. Wenn man sich damit einschmiert, wird man ganz gesund. Neben mir liegt einer, der hat Magen- und Darmkatarrh. Der wird in drei Wochen gesund, sagt der Sanitäter. Sie pinseln ihm solches Jod auf den Bauch. Und an der andern Seite liegt einer, der hat die Schwindsucht gekriegt von einem Lungenschuss. Dem pinseln sie alles mit Jod ein. Der wird in acht Wochen gesund, hat der Sanitäter gesagt. Mir pinseln sie auch welches zwischen die Schultern, aber ich kann den Arm noch nicht bewegen. Sonst geht es mir aber gut, wenn wir nur nicht alle Tage Suppe kriegten.
Auf Wiedersehen
Euer Schlump.
Dann griff er nach dem zweiten Brief, dessen Adresse eine ganz fremde Handschrift zeigte. Er öffnete und las:
Lieber Schlump!
Du wirst Dich wundern, wer dir diesen Brief schreibt. Und trotzdem kennst Du mich schon, denn Du hast mich damals geküsst, als der Krieg ausbrach, unter den Kastanien. Du wolltest mit mir tanzen im Reichsadler, aber Du bist nicht gekommen. Ich habe Dich aber nicht vergessen können, ich habe Dich oft abgeholt, wenn Du von der Arbeit kamst und bin hinter dir hergegangen. Als Du dann Soldat geworden warst, bin ich oft an die Kaserne gegangen und habe durch den Zaun geguckt, wo Du exerziert hast. Ich habe mich gefreut, als Du mit der Uniform kamst, und ich habe geweint, als Euch die Musik auf den Bahnhof brachte. Seitdem bin ich immer in Eure Strasse gegangen, wo Ihr wohnt, um Deine Mutter zu treffen. An ihrem Gesicht habe ich dann gesehen, ob Dir’s gut geht oder nicht. Aber seit vierzehn Tagen habe ich keine Ruhe mehr. Ich habe das Gefühl, dass Du in grosser Gefahr stehst, dass Du Schreckliches durchmachen musst. Schon dreimal war ich oben bei Deinen Eltern und habe die Klinke in der Hand gehabt, aber ich habe mich nicht getraut einzutreten. So bin ich in meiner Angst wieder nach Hause gegangen und habe geweint, weil ich mir keinen Rat wusste. Vor ein paar Tagen habe ich Deine Mutter getroffen, sie sah so versorgt aus, vielleicht hat sie lange keine Nachricht von Dir. Da hab ich’s nicht mehr ausgehalten. Ich habe mir die Adresse versorgt (durch den Briefträger, der Eure Briefe bringt), und jetzt schreib ich dir und bitte Dich, gib mir ein Lebenszeichen von Dir, nur ein Wort, dass es dir gut geht, sonst brauchst Du nichts zu schreiben. Du brauchst nicht zu denken, dass Du mich lieben musst, weil ich Dich so liebe. Du kannst machen, was Du willst, aber gib mir nur ein Lebenszeichen von Dir, dann sollst Du Ruhe haben und nichts mehr von mir hören.
Johanna.
Darunter stand die Adresse: Johanna Schlicht hiess sie. Schlump sah sie ganz deutlich vor sich mit den schönen Zähnen und den frischen Backen und den lustigen, braunen Augen. Der Brief gefiel ihm sehr, aber er war in grosser Verlegenheit, was er antworten sollte. Er legte den Brief hin und nahm sich vor, ein paar Tage zu warten. Es würde ihm schon was einfallen. Aber dann schlug ihm das Gewissen, er dachte, sie würde sich vielleicht sorgen und schrieb dann kurz und bündig in einem Kartenbrief:
Liebe Johanna!
Ich bin gesund und munter und liege im Lazarett.
Dein Schlump.
Der Dritte Brief kam von der süssen kleinen Nelly. Ihre frohen Nachrichten sind ja bereits berichtet. Schlump nahm flugs Tinte und Feder und gratulierte ihr zur Hochzeit und zur Kindtaufe. Dann frass er das Paket aus, das die gute Nelly für ihn gepackt hatte.
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Als die Mutter den Brief in der Hand hielt, zitterten ihre Hände. Es gelang ihr kaum, den Umschlag aufzureissen, und während sie las, liefen ihr die Tränen aus den Augen. Die Knie wankten ihr, und sie musste sich setzen. Sie lachte vor Freude und weinte und betete dabei. Es war ihr, als wäre ihr ein unfassbares Glück beschert worden. Dann nahm sie rasch ein Tuch, warf es über die Schultern und eilte hinaus, ohne hinter sich abzuschliessen. Sie rannte durch die Strassen in die Fabrik, wo ihr Mann arbeitete. Und erst, als sie ihm es mitgeteilt hatte, war es ihr möglich, das grosse Glück zu fassen. Sie ging beruhigt nach Hause und sah weder nach rechts noch links. Sie sprach halblaut vor sich hin: „Jetzt kann es nicht mehr lange dauern. In vierzehn Tagen ist er vielleicht schon da. Und ehe er ganz gesund ist, muss der Krieg aus sein.“ Zu Hause nahm sie sofort eine Bürste in die Hand und fing an zu scheuern und zu bürsten und zu waschen und zu klopfen, als ob sie sich vor ihrem Sohn schämen müsste, wenn er nicht jeden Winkel und jede Gardine blitzsauber antreffen würde. Sie besorgte einen Fahrplan und gab dem Vater einen Bleistift in die Hand und die Brille, damit er ihr jeden Zug aufschreiben konnte, mit dem ihr Kind aus Frankreich zurückkam. Und dann ging sie Tag für Tag und bis in die Nacht hinein zum Bahnhof und musterte alle Soldaten, ob sie unter den braunen Gesichtern nicht ein ganz junges herausfinden würde, das ihr von allen in der Welt am liebsten war. Und wenn sie es nicht entdeckte, war sie nicht traurig und nicht enttäuscht, „denn“, sagte sie sich, „jetzt kann es nicht mehr lange dauern, einmal muss er doch kommen.“
Schlump trug den rechten Arm in der Binde. Er durfte schon aufstehen und frei umhergehen. Das Lazarett war überfüllt, und er erwartete täglich seinen Abtransport. Und jeden Tag kamen neue Verwundete in Scharen. Seine beiden Nachbarn waren längst fortgebracht. In dem einen Bett lag jetzt ein Flieger, der von oben bis unten in weisse Binden eingewickelt war, in denen man zwei Gucklöcher gelassen hatte für die Augen und eine kleine Öffnung für den Mund. Auf der anderen Seite lag ein besoffener Tommy, im Gesicht, an den Händen und auf dem Rücken schrecklich zugerichtet von Handgranaten, der erst am zweiten Tage aus seinem Rausche erwachte und schrecklich stöhnte. Gasvergiftete wurden eingeliefert mit aschfahlen Gesichtern und blauen Händen, die unter furchtbaren Qualen röchelnd nach Luft schnappten. Schlump erkundigte sich jeden Tag ein paarmal, ob nicht ein Lazarettzug ging, der sie nach der Heimat brachte. Und eines Morgens, zeitig, um fünf Uhr, hiess es: Anziehen, was laufen kann, es kommt ein Lazarettzug, der noch Platz hat für ein paar Mann. Schlump holte seine verlausten und verbreckten Kleider von der Kammer. Sie waren ganz steif geworden von Dreck und Blut, und der rechte Ärmel fehlte in seiner Jacke. Aber das machte ihm jetzt nichts aus. Sie traten an, etwa zwanzig Mann mit verbundenen Köpfen und Händen, mit Stöcken und Krücken, und marschierten nach dem Bahnhof. Aber von dem Lazarettzug mit den grossen roten Kreuzen war nichts zu sehen. Sie stellten sich am Bahnsteig auf und warteten, warteten geduldig, mit glänzenden Augen, denn sie sahen alle schon die Heimat. Aber der Zug kam nicht. Es wurde Mittag, die grossen roten Kreuze kamen nicht. Manche waren zusammengebrochen und wurden in die Bahnhofswache gebracht. Von dort schaffte man sie zurück in das Lazarett. Sie durften das gelobte Land noch nicht sehen. Der Nachmittag verging.
Endlich, um sechs Uhr abends — sie hatten zwölf Stunden gewartet — kam der Zug. Aber er war schon voll besetzt. Sie drängten sich hinein, so gut es ging und zitterten, wenn ein Sanitäter kam, denn sie wollten nicht wieder hinausgeworfen werden. Die Nachttopfschwenker schimpften und drohten mit dem Chefarzt, und die Verwundeten gaben gute Worte und bettelten. Da pfiff die Lokomotive, der Zug rollte langsam aus der Halle hinaus, der Heimat zu. Oft hielt er auf freier Strecke, dann ging es weiter, donnernd fuhren sie über den stolzen Rhein, hinein nach Westfalen, dem Weserbergland entgegen. Dort wurden sie ausgeladen und in einer Schule untergebracht. Schlump wollte seine Mutter wiedersehen und seinen Vater. Er bat den Arzt, er schrieb Gesuche, er gab dem Schreiber Geld, damit er einem Heimatlazarett überwiesen wurde. Und nach vier Wochen, langen, ewig langen Wochen war es ihm gelungen. Er bekam seine Löhnung, einen Tag Verpflegung und einen Fahrschein in die Hand gedrückt und machte sich davon, jubelnd und froh, und fuhr nach Hause. Er stieg aus dem Zug und trat aus dem Bahnhof Heraus. Da lief seine Mutter auf ihn zu und umarmte ihn und küsste ihn auf offener Strasse. Dann ging sie stolz neben ihrem Sohn, der den Arm in der Binde trug und fragte ihn tausend besorgte Fragen, ohne oft die Antwort recht zu hören.
Sie stiegen die Treppe hinauf, die Tür öffnete sich: Ein blasses, schmales und langaufgeschossenes Mädchen von zwölf Jahren reichte ihm die Hand. „Wer ist denn das?“ fragte Schlump erstaunt. „Das ist doch die Dorothee“, sagte die Mutter. Und da erinnerte er sich, dass ihm die Mutter von ihr geschrieben hatte. Sie war das Kind von seiner Mutter Schwester, deren Mann gefallen war. Und vor vierzehn Tagen war des Kindes Mutter auch gestorben, vor Kummer und vor Hunger; und das Kind stand allein und wurde von Schlumps Eltern aufgenommen. Das arme Kind hatte seine Mutter gepflegt. Es musste mit ansehen, wie schwer eine Mutter stirbt, die ein Kind in der Welt zurücklässt. Schlump gab der armen Dorothee die Hand und sagte ihr freundliche Worte. Am Abend kam der Vater. Und Schlump erschrak, wie alt er geworden war. Er ging gebückt und musste aller Augenblicke stehenbleiben, wenn er die Treppe heraufstieg, und sich am Geländer festhalten, weil ihm die Kräfte fehlten. Die Mutter war unglücklich, dass sie ihrem Sohn zum Empfang weder Fleisch noch Brot vorsetzen konnte. Und sie verschwieg ihm, dass sie schon lange nicht mehr genug Kartoffeln hatten, um sich satt zu essen. Aber sie deckte doch den Tisch und trug ihm eine kleine Schüssel mit Blumenkohl auf, den sie sich vom Munde abgespart hatten. Aber da packte Schlump das Brot aus und das Büchsenfleisch, das sie ihm mitgegeben hatten, und sie setzten sich alle zu Tisch und assen.
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Gleich am nächsten Tag musste sich Schlump im Lazarett melden. Der Sanitätsunteroffizier gab ihm Krankenkittel und Pantoffeln und nahm ihm seine Uniform ab. Dann begann das gleichmässige, langweilige Lazarettleben. Sie sassen den ganzen Tag auf der Mauer, die das Lazarett schützte, und sahen den Mädchen nach. Sie rauchten und spielten, aber sie konnten den Hunger nicht vergessen, der sie beständig quälte. Denn sie bekamen nur dünne Suppe und manchmal ein paar Scheiben Brot, die so dünn waren, dass der Mond durchscheinen konnte. Und auf das Brot hatten sie Marmelade geschmiert, die einen scharfen Geschmack hatte. Schlump verlor bald seine gesunde rotbraune Farbe und magerte zum Erschrecken ab. Er sehnte sich beizeiten wieder aus dem Lazarett Heraus. Aber sein Arm blieb standhaft und liess sich nur mit Schmerzen bewegen. Selten bekam Schlump Urlaub zu seinen Eltern. Zu Hause sah es traurig aus. Mittags assen sie Kohlrüben ohne Fleisch und Fett und am Abend Kartoffeln, die mit schwarzem Kaffee übergossen waren. Die Mutter grämte sich, dass sie ihrem Sohne nichts geben konnte, dass die arme Dorothee immer blasser wurde, dass ihr Mann immer mehr verfiel. Sie selber schnurrte zusammen und wurde eine steinalte Frau. Eines Tages konnte der Vater nicht mehr aufstehen. Die besorgte Mutter holte den Arzt, und der stellte Typhus fest, Hungertyphus. Sie konnten ihm nichts geben, um den schwachen Körper zu kräftigen, und so verfiel er von Tag zu Tag mehr. Eines Morgens kam die arme Dorothee zu Schlump ins Lazarett und weinte. Der Vater war gestorben. Schlump ging mit zum Begräbnis. Er musste seine Mutter stützen, die immer schluchzte und nicht weinen konnte. Dann gingen sie zu dritt nach Hause, traurig und still. Schlump musste am Abend wieder zurück ins Lazarett.
Seine Wunde war nun vollständig geheilt, und jetzt begann man, sie zu massieren, damit die Haut und das Fleisch und die Muskeln locker wurden. Dann spannten sie ihn in stählerne Apparate ein, und liessen den Arm pendeln, um ihn beweglich zu machen. Er sollte rasch fertig werden, man brauchte Soldaten im Schützengraben, und der Krieg wurde immer grausamer. Doch die Pendelei war langwierig und schmerzhaft. Aber die Mutter war froh, dass ihr Kind im Lazarett bleiben durfte und nicht mehr vor den Feind musste. Sie hatte zu viel Angst ausgestanden und fürchtete, ein drittes Mal die Sorge nicht mehr zu überleben. Dann wären die beiden Kinder allein in der Welt zurückgeblieben, in der grausamen Welt. Schlump musste ihr versprechen, nicht wieder an die Front zu gehen. Es gäbe genug andere, die noch nie ihr Leben auf’s Spiel gesetzt hatten: die vielen Lazarettinspektoren, Zahlmeister, andere dicke Herren mit Offiziersachselstücken. Schlump versprach es auch, um sie zu trösten. Aber es lag ja gar nicht in seiner Macht, das Versprechen zu halten.
Eines Morgens erwachte Schlump vor der Zeit in seinem Bett. Er hörte neben sich jemand Fluchen. Er machte die Augen ein klein wenig auf und blinzelte hinüber. Da sass einer auf dem Bett seines Nachbarn und sprach eifrig auf ihn ein. Schlump schloss die Augen und horchte zu:
„Ja,“ sagte der eine, der auf dem Bett sass, „ich markiere den wilden Mann. Wenn mir der Arzt dumm kommt, fang ich an zu toben, krieg Schaum vor die Zähne und schlag alles kurz und klein. Und wer mir in die Quere kommt, den hau ich in die Fresse. Ich war erst im Garnisonlazarett, da hab ich dem Arzt eine runtergehauen. Da haben sie mich hierher versetzt zur Beobachtung. Mensch, mich kriegen sie nicht mehr an die Front. Da müssen sie erst mal die vollgefressenen Kerle Holen, die noch genug rumlaufen. Du brauchst nur durch die Stadt zu gehen oder auf das Rathaus oder sonstwohin.“
„Das stimmt“, sagte der im Bett. „Ich reise auf eine andere Tour. Ich markiere Blinddarmreizung.“
,,So? wie machst du denn das?“
„Das ist gar nicht so einfach. Da musst du schon einmal tatsächlich Blinddarmreizung gehabt haben. Dann weisst du ganz genau, wo der Blinddarm liegt. Dort musst du eine feste Stelle haben, das lässt sich ganz gut machen. Und dazu ein bisschen Fieber, nicht zu viel. Du weisst doch, wie du das machst?“
,,Ja, das Thermometer reiben unterm Arm.“
„Ja, aber das geht nicht lange, höchstens acht Wochen“.
,,Und was machst du nachher?“
„Nachher gehe ich wieder in die Garnisonkompagnie, zur Krüppelgarde. Und bleibe da ein paar Wochen, bis die Luft wieder dick wird. Mordkommission und so, du weisst ja. Da krieg ich plötzlich wieder Nervenschock. Du weisst doch, wie man das macht? Aber die Hauptsache ist, erhöhte Herztätigkeit haben. Das geht auch zu machen. Du musst immer scharf dran denken, dann fängt das Herz von selber an zu pubbern.“
„Das ist ja ganz gut und schön, aber die Sache hat einen Haken. Ein Kamerad von mir ist auch auf die Tour gereist. Nervenschock. Den haben sie nach Schkeuditz geschickt. Das soll bei Leipzig liegen. Es gibt auch in Homburg, glaub ich, so eine Folteranstalt. Mensch, da wirst du mit Starkstrom gefoltert! Das muss schauderhaft sein! Mein Kamerad hat Rotz und Wasser geheult, sagt er, er hat die Wärter angekniet, dass sie ihn nicht festschnallen. Aber, was denkst du denn, das sind baumstarke Schlachter, die haben kein Erbarmen. Wenn sie mich dorthin schicken wollen, schlag ich erst einen tot, damit sie mich lieber ins Zuchthaus stecken.“
Auf einmal waren sie stille. Sie trennten sich. Schlump hatte jedes Wort genau gehört, er musste lange darüber nachdenken.
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Schlump hatte Langeweile. Er sass mit seinem Bettnachbar auf der Mauer und passte auf die Mädchen.
„Machst du mit?“ sagte der Nachbar, „ich haue heute nacht ab. Ich weiss eine gemütliche Kneipe, wo es Weiber gibt und was zu essen. Du musst dir bloss heute nachmittag deine engschäftigen Klamotten holen und im Kegelschub verstecken.“
Schlump besass eine eigene Uniform, engschäftig, wie die Soldaten sagten, die ihm sein Vater gemacht hatte, als er, Schlump, noch Rekrut war. Schlump war natürlich einverstanden, und sie beredeten das Nötige. Es war Mittwoch, und er hatte Stadturlaub. Der Unteroffizier gab ihm seine Kommissuniform, und Schlump ging nach Hause. Dort zog er die engschäftigen Hosen und den Rock darunter und schmuggelte die Sachen ins Lazarett herein. An seinem Bett zog er sich um und gab dem Unteroffizier die Kommissklamotten zurück. Die engschäftige Uniform versteckte er im Kegelschub. Am Abend legten sie sich nieder wie gewöhnlich und warteten bis alles schlief. Es dauerte lange. Schliesslich gab der andere das Zeichen, und Schlump ging leise und unauffällig auf den Abort. Der andere war schon dort. Der Kamerad zog sich zuerst hoch und kletterte durch das Fenster, das zur Lüftung diente. Schlump half ihm, so gut es ging. Draussen konnte er sich auf eine Eisenstange stellen und Schlump heraufziehen, der ja nur mit einem Arm zugreifen konnte. Mit grosser Mühe zwängte Schlump sich durch das schmale Fenster, und endlich waren sie draussen. Im Kegelschub zogen sie ihre Mäntel aus und die Uniform und die Schuhe an. Schlump hatte längst gelernt, mit einer Hand die Halsbinde zu knüpfen und die Schuhe zu schnüren. Dann sprangen sie über die Mauer. Das war nicht ungefährlich, denn er konnte schlecht abspringen, aber es glückte. Schlump wischte sich den Schweiss von der Stirn.
Sie schlichen durch den Park, durch enge Gassen, in denen schläfrige Gaslaternen ihr gelbes Licht in die blaue Nacht hineinwarfen. Dichte Büsche hingen schlaftrunken über die krummen Mauern, hinter denen die Häuser schliefen. Und der Wind, der in den Bäumen ruhte, rauschte manchmal im Traume auf. Sie schlichen leise an den Wänden entlang und horchten aller Augenblicke, ob sie die Schritte der Patrouille hörten. Denn sie hatten ja weder Urlaubsschein noch sonst einen Ausweis. Sie gingen über schmale Brücken und stiegen steile Stufen empor, an denen eiserne Geländer liefen, die von den vielen Händen am Tage blank poliert waren. Schliesslich bogen sie in ein ganz enges Gässchen ein und kamen auf einen Platz, der rings von alten niedrigen Häusern eingeschlossen war. In der Mitte stand ein altertümlicher Brunnen, von zwei Linden eingefasst, und an der schmalen Seite sass ein dicker untersetzter Turm, der früher zu einer Kirche gehört hatte. Aber an Stelle der Kirche stand jetzt ein Wirtshaus. Die Fenster waren dicht verschlossen, und nur durch einen schmalen Ritz drang ein wenig Licht. Sie stolperten über das holprige Pflaster, traten in die Kneipe ein.
Schlump vermochte nichts zu erkennen in dem dicken Qualm. Allmählich unterschied er einen kräftigen Burschen, mit Infanteriehosen und einer Matrosenbluse, der ein Couplet vortrug mit heiserer und besoffener Stimme, das sich nicht für zarte Ohren eignete. An den Tischen sassen breite stämmige Kerle mit verwegenen Gesichtern. Manche hatten Matrosenjacken an und manche. Feldgraue Röcke. Man konnte nicht feststellen, ob sie Soldaten waren oder nicht.
Der Kamerad zog Schlump durch die Stube in ein winziges kleines Zimmer. Dort hatte man mit Mühe und Not einen Tisch hineingezwängt. Aber es war sogar gelungen, ein Sofa dahinterzustellen und noch ausserdem ein paar Stühle und ein Grammophon unterzubringen. Sie setzten sich und bestellten Wein und Karnickelbraten. Die Tür nach der Stube war ausgehängt, und sie konnten alles übersehen. Zwischen den Männern sassen Frauen, von denen er einige kannte. Ihre Männer waren alle im Kriege oder gefallen. Vor allem aber fiel ihm ein starkes, bildschönes Mädchen auf mit gesunden Backen und schönen Armen. „Das ist die Wirtstochter“, sagte der Kamerad, „sie ist schwanger,...

Inhaltsverzeichnis

  1. Titel
  2. Kolophon
  3. Chapter
  4. Zweites Buch
  5. Drittes Buch
  6. Über Schlum p