Der Mensch bringt alles, was er hat oder haben kann, mit sich in die Welt. Der Mensch wird geboren wie ein Garten, bereits fertig gepflanzt und gesät.
— WILLIAM BLAKE
IHRE SCHÖPFER NANNTEN SIE „Anfälligkeitskarte“, eine bunt kolorierte Grafik, die auf einen Blick zeigte, wie sich das Auftreten von Krankheiten über England verteilte. Im Jahr 1984, nach Jahren der Arbeit am Atlas of Mortality from Selected Disease in England and Wales, 1968 to 1978 konnten David Barker, ein Epidemiologe, und Clive Osmond, ein Statistiker, Wohlstand (bzw. das Nicht-Vorhandensein desselben) mit bedeutenden Gesundheitsunterschieden in Verbindung bringen. Was Herzerkrankungen betraf, waren in bestimmten Landesteilen – und zwar in den ärmsten – weite Bereiche rot eingefärbt. Dieses Ergebnis war zunächst verwirrend, wurden Herzerkrankungen doch jeher mit Wohlstand in Verbindung gebracht. Dennoch bestätigte ihre Forschung, dass in einem Zeitabschnitt von 50 Jahren Menschen, die wegen ihres Wohngebiets als arm betrachtet wurden, signifikant höhere Raten an Herzerkrankungen hatten. Sie starben auch früher als ihre Zeitgenossen. Bei näherem Hinsehen fanden die Wissenschaftler heraus, dass 50 Jahre zuvor dieselben Regionen auch höhere Kindersterblichkeitsraten verzeichnet hatten, als es die Norm war.
Die Frage war: Inwiefern hat Armut mit Kindersterblichkeitsraten und Herzerkrankungen im späteren Leben zu tun? Barker vermutete, dass das Verbindungsglied irgendeine Art von Anfälligkeit im Kindesalter sein musste. War es vielleicht die Armut? War es möglich, dass arme Menschen einfach anfälliger für die Widrigkeiten des Lebens waren? Mit der Zeit, und teils durch puren Zufall, sammelte Dr. Barker die Daten, die es ihm ermöglichen sollten, die kausale Lücke zwischen einem Lebensbeginn in Armut (und zwar ab dem Zeitpunkt der Empfängnis) und chronischen Erkrankungen im Erwachsenenalter zu schließen.
Wie alles begann
Vereinfacht gesagt identifiziert die Epidemiologie Gruppen von Personen, die auf Grundlage spezifischer Kriterien ein erhöhtes Risiko haben, an einer Krankheit zu leiden. In Dr. Barkers Fall waren das die ökonomischen Konditionen, die den Lebensraum bestimmten. Epidemiologen können Ihnen ein Lied davon singen, dass eines ihrer größten Probleme die Migration ist. Der Gesundheitszustand von Migranten reflektiert zwar nicht den Langzeitzustand einer bestimmten Region, aber sie hat statistische Auswirkungen auf die Gesamtergebnisse. Wenn Sie z. B. hohe Raten an Kindersterblichkeit aufgrund der Informationen im Atlas erwarten würden, diese aber nicht auftreten, würden Sie sich wahrscheinlich fragen, ob Migration etwas damit zu tun hat. Und eine solche Anomalität ist tatsächlich auch das, was Barker und Osmond in einer der Regionen, die sie untersuchten, vorfanden. In den Slums der Londoner City war die Kindersterblichkeit zwischen 1921 und 1925 erstaunlich niedrig.
Epidemiologie:
Das Studium von Krankheitsmustern in verschiedenen Personengruppen im Hinblick auf die Identifizierung zugrundeliegender Krankheitsursachen. Durch die Untersuchung von Bevölkerungsgruppen statt Einzelpersonen hat die Epidemiologie den Grundstein für öffentliche Gesundheitsinterventionen gelegt, die darauf ausgerichtet sind, die Gesundheit großer Personengruppen zu verbessern.
Kindersterblichkeit im viktorianischen London
Wie jeder, der Charles Dickens gelesen hat, weiß, lebten am Ende des 19. Jahrhunderts viele verarmte Londoner in überfüllten, unhygienischen Verhältnissen. Erinnern Sie sich noch an Oliver Twist und seine herzzerreißende Bitte nach mehr Schleimsuppe? Trotz dieser entsetzlichen Zustände starben nur wenige Babys vor der Geburt.
Der Sozialreformer Charles Booth dokumentierte das Leben der Londoner Arbeiterklasse in dieser Epoche und seine Forschungen wiesen auf eine Erklärung der überraschend niedrigen Kindersterblichkeitsraten hin. Er beobachtete, dass die meisten der jungen Menschen, die aus den umliegenden Dörfern nach London zogen, die widerstandsfähigsten Mitglieder der Gemeinden waren. Ebenso wie viele Immigranten aus anderen Ländern hatten sie ihr Zuhause verlassen, weil sie auf der Suche nach einem besseren Leben waren – nach einem „bekannten wirtschaftlichen Vorteil“, wie Booth es nannte. Robuste Teenager-Mädchen, die auf Bauernhöfen gesundes Essen bekommen hatten, wurden als Haushaltshilfen angestellt. Für diese Arbeit in der feinen Londoner Gesellschaft wurden sie vielleicht schlecht bezahlt, aber sie waren weiterhin gut genährt. Und wenn sie schwanger wurden, bekamen sie gesunde Babys, die mit großer Wahrscheinlichkeit überlebten.
Eine Vorahnung von Zusammenhängen
David Barker begann zu vermuten, dass es eine Verbindung zwischen Lebensumständen, fötaler Ernährung und Herzerkrankungen im späteren Leben gab. Er wusste, es gab Forschungen, die seine Annahme unterstützten. Im Jahr 1973 ergab eine Studie unter Mitarbeitern der Firma Bell System, dass diejenigen Mitarbeiter, deren Eltern Angestellte waren, eine geringere Wahrscheinlichkeit hatten, Herzerkrankungen zu bekommen, als solche, deren Eltern aus Arbeiterfamilien stammten. Ein norwegischer Arzt mit dem Namen Anders Forsdahl arbeitete ebenfalls in diesem Feld. 1977 veröffentlichte er einen Bericht auf Grundlage von Statistiken, die er von seiner Regierung erhalten hatte, der einen Zusammenhang zwischen Armut in der Kindheit und Herzkrankheiten im Erwachsenenalter herstellte. Auch er vermutete, dass ein niedriger sozialer und wirtschaftlicher Status in der Kindheit eine lebenslange Anfälligkeit für schlechte Gesundheit verursacht.
In den 1970er Jahren erforschte eine Reihe von Sozialwissenschaftlern die sozialen Ursprünge von verschiedenen Erkrankungen körperlicher und geistiger Art. Doch obwohl seine Vermutungen nun langsam Anhänger fanden, hatte Barker nicht genug Beweise, um die Ernährung in den ersten Jahren mit Erkrankungen im Erwachsenenalter in Verbindung zu bringen. Er wusste, dass seine Theorie einer genauen Prüfung nicht standhalten würde, bis er mehr Informationen zu Babys analysieren konnte. Er benötigte harte Fakten zu Geburten und sozialen Gegebenheiten und wie gut (oder schlecht) es den Kindern in den ersten Lebensjahren erging.
Eine neue Hypothese
Um die Wende zum 20. Jahrhundert war die Regierung Großbritanniens höchst besorgt über die immer schlechter werdende Gesundheit der Briten. Eines von 10 Kindern erlebte seinen ersten Geburtstag nicht. Presseberichten zufolge wurden ganze zwei Drittel der jungen Männer, die sich als Freiwillige für den Burenkrieg meldeten, abgelehnt, da sie gesundheitlich nicht fit genug waren. Der zuständige Amtsarzt des Gesundheitswesens in Hertfordshire, einer Grafschaft im Südosten von England, entschloss sich, etwas gegen diesen mitleidserregenden Zustand zu unternehmen: Er benannte die erste „Hauptgesundheitsbeauftragte und Hebammenprüferin von Hertfordshire“, Ethel Margaret Burnside. Er hatte keine Ahnung, wie wichtig diese Benennung noch sein sollte – nicht nur für Hertfordshire, sondern für Menschen auf der ganzen Welt und fast ein ganzes Jahrhundert später.
E. Margaret, wie sie sich gerne nannte, war von hoher Gestalt (fast 1,80) und eine recht imposante Person. Sie nahm ihre Arbeit im Jahr 1911 auf und hatte schon bald eine regelrechte Armee von Helferinnen rekrutiert, die wir heutzutage als Hebammen und Pflegekräfte im öffentlichen Gesundheitsbereich bezeichnen würden. Ihr Job war es, Geburtshilfe zu leisten und Ratschläge zur richtigen Kleinkindpflege zu erteilen, sobald die Kinder einmal auf der Welt waren. Es war außerdem erforderlich, dass sie ihre Arbeit genauestens dokumentierten. E. Margaret war eine praktisch veranlagte Verwalterin, die auf ihrem Fahrrad in der Grafschaft herumfuhr und dafür sorgte, dass ihre Schwestern ihre Aktivitäten bis ins kleinste Detail aufzeichneten. Nach nur einem Jahr zeigte der Kilometerzähler an ihrem Rad 4.700 Kilometer an.
Es heißt, dass der Bezirkssekretär von Hertfordshire aufgrund der beeindruckenden Persönlichkeit Burnsides zustimmte, dem Hebammenteam 60 Federwaagen zur Verfügung zu stellen. Die Schwestern wurden angewiesen, die Babys zum Zeitpunkt der Geburt und zum ersten Geburtstag zu wiegen. E. Margaret sorgte dafür, dass diese Informationen, zusammen mit genauen Details zu Krankheiten und jeglicher Sorge über die Entwicklung, sorgfältig auf Karteikarten eingetragen wurden. Zum ersten Geburtstag des Babys wurde die jeweilige Karteikarte bei der Grafschaftsverwaltung abgegeben, wo die Informationen in die Bücher übertragen wurden.
Die Hertfordshire-Aufzeichnungen
Die Aufzeichnungen aus Burnsides Arbeit wurden bis 1948 gut verwahrt, dem Jahr, in dem der englische National Health Service gegründet wurde. Danach wurden sie in einem öffentlichen Gebäude gelagert, wo sie langsam aber sicher verstaubten und in Vergessenheit gerieten. Springen wir vor in die 1980er Jahre: David Barker hatte begonnen, sich systematisch mit den örtlichen Gesundheitsbehörden in Kontakt zu setzen, um die Geburtsaufzeichnungen zu finden, die er so dringend brauchte. Aber es lief zunächst nicht gut. Doch dann kam ein Glückstreffer: eine Antwort von der Grafschaft Hertfordshire, die ihn darüber benachrichtigte, dass man dort einige alte Ordner gefunden hatte, die ganz versteckt in einem Abstellraum unter der Treppe gelegen hatten. Diese Register dokumentierten die Geburten tausender Kinder von 1911 bis 1945 sowie deren Wachstumsmuster und wie sie bis zum ersten Geburtstag ernährt worden waren. Ganz im Geiste E. Margarets enthielten die staubigen, übergroßen Bücher detaillierte Kommentare zu den Babys, ihren Müttern und den sozialen Umständen der Familien. Um genau zu sein, enthielten sie derart viele persönliche Daten, dass die Behörde Dr. Barkers Bitte, auf die Aufzeichnungen zugreifen zu dürfen, zunächst aus Datenschutzgründen ablehnte.
Zum Glück war das Schicksal auf seiner Seite. Die Ordner enthielten Informationen zu Babys, die in dem Dorf Much Hadham geboren worden waren, einem Ort, den David Barker nur zu gut kannte. Während des Zweiten Weltkriegs waren er und seine Mutter, wie viele britische Frauen und Kinder, aufs Land evakuiert worden, um sie vor den Luftangriffen auf London zu schützen. Much Hadham war genau das Dorf, in dem er und seine Mutter aufgenommen worden waren und wo auch seine Schwester geboren wurde. Da die Aufzeichnungen seiner eigenen Schwester in den Büchern eingetragen waren, erhielt Dr. Barker Zugriff auf das Material.
Im Sommer 2018 habe ich einen Ausflug nach Southampton gemacht, wo die Bücher heute aufbewahrt werden. Ich fand sie überaus faszinierend, nicht nur wegen der darin enthaltenen Informationen, sondern auch, weil sie so ganz offensichtlich aus einer anderen Zeit stammen. Sie sind mit Feder und Tinte verfasst und sehen aus wie Artefakte aus der Zeit Charles Dickens‘, wie die Bücher eines Finanzbuchhalters mit Spalten für Einnahmen und Ausgaben. Wenn man sie sozusagen live sieht, ist es schwer zu begreifen, dass sie die Grundlage einer der bedeutendsten Entdeckungen auf dem Gebiet des Gesundheitswesens des 20. Jahrhunderts sind.
Aufdeckung der Zusammenhänge
Nachdem er Zugang zu den Büchern bekommen hatte, brauchte Dr. Barker ein System, um die Informationen darin auch nutzbar zu machen. Die Aufzeichnungen wurden an seine Abteilung der University of Southampton weitergeleitet, wo das Material in aufwändiger Kleinstarbeit in Computer eingegeben wurde. Nachdem dieser Schritt abgeschlossen war, wurden Sterblichkeitsstudien auf Grundlage der Informationen durchgeführt. Zu diesem Zeitpunkt kam Dr. Caroline Fall ins Team, eine Ärztin, die an ihrer Doktorarbeit zum Thema Epidemiologie arbeitete. Ihre Aufgabe war es, die Männer und Frauen aufzuspüren, deren Geburtsdaten in den Ordnern aufgezeichnet worden waren. Hierzu nutzte das Team einen zweiteiligen Ansatz, bei dem zum einen die Personen identifiziert werden sollten, die bereits verstorben waren, indem ihre Sterbeurkunden lokalisiert wurden. Im zweiten Teil sollten die noch lebenden Personen gefunden werden. „Als Forscher waren wir glaubwürdig, und es war uns möglich, diejenigen Personen zu identifizieren, deren Geburten in den Ordnern aufgezeichnet worden waren, sie anzusprechen und einfach zu fragen, ob sie an einer Folgestudie teilnehmen würden“, kommentierte Dr. Fall. Sobald sie einmal gefunden waren, wurden die Teilnehmer dazu eingeladen, sich in Kliniken, die über das ganze Land verteilt waren, einzufinden. Dort wurden sie genauestens zu ihrem Gesundheitszustand im Erwachsenenalter befragt.
Das erste Ergebnis der Studie war die sogenannte Barker-Hypothese, die 1986 im Lancet, einer angesehenen medizinischen Zeitschrift, veröffentlicht wurde. Durch die Auswertung der Hertfordshire-Aufzeichnungen waren Dr. Barker und sein Team in der Lage, einen Zusammenhang zwischen einer suboptimalen Umgebung im Mutterleib, einem geringen Geburtsgewicht (unter 2,5 kg) und einem Risiko für Herzerkrankungen im späteren Leben herstellen.
Von der Hypothese zum akzeptierten Fakt
Würde ich sagen, dass Dr. Barkers Hypothese zunächst auf Skepsis stieß, wäre das noch untertrieben. Zum einen stand seine Hypothese im Gegensatz zu den damals aktuellen Informationen der öffentlichen Gesundheitsbehörden, die Ernährung und Lebensstil für Herzerkrankungen verantwortlich machten. Einige Experten setzten sich daran, seine Hypothese zu wiederlegen, aber mit der Zeit kam immer mehr Evidenz zum Vorschein, die Dr. Barkers Ideen stützte. Am Ende wechselten viele Zweifler zur Gegenseite über.
Der Wendepunkt kam im Jahr 2000 als der Epidemiologe Matthew W. Gillman von der Harvard Medical School und Janet W. Rich-Edwards, die an der groß angelegten Nurses’ Health Study mitarbeitete, den Artikel The Fetal Origins of Adult Disease: From Sceptic to Convert veröffentlichten. Sie gestanden ihre frühere Resistenz gegenüber Dr. Barkers Ergebnissen und räumten ein, dass sie sich am Ende durch die „Dutzenden von Studien“, die seine Ideen bestätigten, hatten überzeugen lassen.
Der niederländische Hungerwinter
Irgendwann Mitte der Neunzigerjahre führte Dr. Barker ein Gespräch mit einem niederländischen Geburtshelfer, der ihn darauf hinwies, dass ein wahrer Schatz an Geburtsinformationen in Amsterdam versteckt sei: die Gesundheitsdokumentation über Frauen, die im Wilhelmina Gasthuis zu einer bestimmten Zeit im Zweiten Weltkrieg ein Kind bekommen hatten. Die Ursprünge des Gasthuis lagen weit in der Vergangenheit – seine Geschichte geht zurück bis in die Zeit um 1600, als es ein Krankenhaus für Pestopfer war. Jahrzehntelang war es das wichtigste Lehrkrankenhaus Amsterdams und im Zweiten Weltkrieg hatte es auch als Entbindungsklinik gedient. Die Liebe der Niederländer fürs Detail führte dazu, dass für jede Schwangere genauste Aufzeichnungen zum Schwangerschaftsverlauf, zur Geburt und zu wichtigen Informationen über die Nachkommenschaft geführt wurden.
Tessa Roseboom, Professorin für frühkindliche Entwicklung an der Universität Amsterdam, arbeitet seit mehr als 20 Jahren mit diesen Daten. Wie sie mir in einem Interview mitteilte, werden medizinische Aufzeichnungen in den Niederlanden üblicherweise nach 15 Jahren vernichtet. Aus unbekannten Gründen entgingen die Dokumente des Wilhelmina Gasthuis diesem Schicksal und landeten stattdessen auf dem Dachboden des Gebäudes. Als in den frühen Neunzigerjahren ein neues Krankenhaus als Teil des hochmodernen Academisch Medisch Centrum gebaut wurde, kamen die Aufzeichnungen wieder zum Vorschein und wurden ins Stadtarchiv verbracht. Das waren die Materialien, von denen Dr. Barker gehört hatte. Er erkannte ihr Potenzial und schritt zur Tat.
1996 war Tessa Roseboom noch Doktorandin. Sie war Teil eines Teams, das sich mit den Dokumenten des Wilhelmina Gasthuis beschäftigte, als der Forschungsleiter unvorhergesehen seine Arbeit beendete. So wurde sie von einem Tag auf den anderen zur Leiterin des Forschungsprojekts. Sie begann mit David Barker an der sogenannten Dutch Famine Birth Cohort Study (Kohortenstudie zu den Geburten im niederländischen Hungerwinter) zu arbeiten. Die Ursprünge des Materials gehen auf tragische Ereignisse während des Zweiten Weltkriegs zurück. Im Winter 1944 erkannten die deutschen Befehlshaber, dass sie kurz vor der Niederlage gegen die Alliierten standen. Sie beschlossen, durch eine Sperrung der Eisenbahnverbindung die Nahrungslieferungen in Teile der Niederlande, unter anderem nach Amsterdam, zu unterbrechen. Dieses Embargo, das als „Verschwörung, um eine gesamte Nation verhungern zu lassen“ bezeichnet worden ist, dauerte sieben Monate, bis zum Mai 1945, als das Land von alliierten Truppen befreit wurde.
Es war ein besonders harter Winter und die zuvor wohlgenährte Bevölkerung stand in kürzester Zeit knapp vor dem Hungertod. Die tägliche Energieaufnahme fiel unter 1.000 Kalorien. Auf dem Höhepunkt der Hungersnot war die Verpflegung so knapp, dass die Menschen weniger als 400 Kalorien am Tag zu sich nahmen. Manche Menschen waren so hungrig, dass sie Tulpenzwiebeln aßen. Durch die Kälte, den Hunger und die andauernde Sorge hatten ansteckende Krankheiten leichtes Spiel und auch die Sterblichkeitsrate stieg an. Die Belastung war unerträglich. Frauen waren oft allein während der Schwangerschaft, da ihre Männer nicht zuhause waren – vielleicht sogar im Konzentrationslager. Manche hatten ihre größeren Kinder bereits fortgeschickt, da sie kein Essen für sie hatten.
Der niederländische Hungerwinter, wie er heute genannt wird, war jedoch ein fruchtbares Feld für die Forschung. Zum einen dauerte er nur wenige Monate. Zum anderen war eine genau definierte Gruppe davon betroffen – alle Menschen im westlichen Teil der Niederlande – die alle genau zur gleichen Zeit Hunger litten. So konnten die Forscher die Auswirkungen einer Hungersnot auf spezifische Abschnitte der Schwangerschaft untersuchen. Die Niederländer sind weltweit als hervorr...