Die Utopie des Sozialismus
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Die Utopie des Sozialismus

Kompass für eine Nachhaltigkeitsrevolution

  1. 260 Seiten
  2. German
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Die Utopie des Sozialismus

Kompass für eine Nachhaltigkeitsrevolution

Über dieses Buch

Nachhaltig kann eine Gesellschaft nur sein, wenn sie den Zwang zu immer neuen Landnahmen bricht, der im kapitalistischen Besitz als Strukturprinzip angelegt ist. Eine Gesellschaft, die dieses expansive Prinzip auf demokratische Weise überwindet, muss eine sozialistische sein, argumentiert Dörre in diesem grundlegenden Buch.

Um wieder Strahlkraft zu gewinnen, muss der Sozialismus jedoch von seinem dogmatisch erstarrten Anspruch abrücken und nochmals zu einer attraktiven Utopie werden. Inhalt dieser Utopie kann nicht mehr die Befreiung der Produktivkräfte aus den Fesseln hemmender Produktionsverhältnisse sein. Der Sozialismus des 21. Jahrhunderts, der die eigene Geschichte und sein vielfältiges Scheitern reflektiert und mitdenkt, steht für die Suche nach einer Notbremse, die den mit Hochgeschwindigkeit auf einen Abgrund zurasenden Zug zum Halten bringt. Noch aber ist Zeit, die Weichen so zu stellen, dass andere Auswege aus der epochalen ökonomisch-ökologischen Zangenkrise möglich werden. Im Mittelpunkt von Dörres Gesellschaftsentwurf steht eine grundlegend veränderte Beziehung zwischen Gesellschaft und Natur, die feministische, ökologische und auch indigene Strömungen kapitalismuskritischen Denkens miteinbezieht.

Häufig gestellte Fragen

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Zum Schluss: Sozialismus im Handgemenge

Noch vor Erscheinen dieses Essays habe ich die zugrunde liegende Argumentation in einer Reihe von Veranstaltungen erprobt. Dadurch ausgelöste Kontroversen bewegen mich dazu, vier Fragen aufzugreifen, die immer wieder gestellt werden.

1. Ist der nachhaltige Sozialismus nicht genauso altbacken wie seine musikalischen Referenzen? Kann man damit junge Leute wirklich erreichen?

In meiner privaten Radio-Show sind selbstverständlich auch zeitgenössische Klänge zu hören. Ambrose Akinmusire, Run the Jewels, Anna Calvi, Sons of Kemet, Childish Gambino, Kamasi Washington, Jamie Branch, Frank Ocean und Kendrick Lamar sind ebenso dabei wie The Chats, Tony Allen, Nérija, Black Pumas, Viagra Boys oder auch Kate Tempest, Princess Nokia, die Dresden Dolls und Mal Élevé, um nur einige zu nennen. Am liebsten sind mir freilich Interpret:innen und Bands, die viele Jahre überstehen, musikalisch und in ihren Aussagen aber auf originelle Weise mit der Zeit gehen. Der leider viel zu früh verstorbene Guz und seine Aeronauten, Marian Faithful, die wegen Covid-19 den Gesang aufgeben muss, die Sterne und MCR (Modena City Ramblers), aber auch die Violent Femmes und Klaus Doldingers Passport gehören unbedingt dazu. Den Soundtrack für die Abschlussveranstaltung des DFG-Kollegs »Postwachstumsgesellschaften«, dessen Sprecher ich war, lieferte das Bottom Orchestra mit seinen Songs of Work. Kaspar von Grüningen hat komponiert, arrangiert und herausragende Musiker:innen zum Einsatz gebracht. Die Texte der Stücke, die auf einer CD erschienen sind, basieren auf einer Veröffentlichung des Kollegs. Zu hören ist Avantgarde-Free-Jazz der Spitzenqualität.1
Für eine befriedigende Antwort auf die Frage nach der Attraktivität des S-Worts wird diese musikästhetische Selbstverortung aber kaum genügen. Deshalb habe ich drei junge Leute aus meinem persönlichen Umfeld exemplarisch nach ihren Vorstellungen einer nächsten Gesellschaft gefragt. Hören wir ihnen zu:
In was für einer Gesellschaft will ich leben? In meiner Utopie stelle ich mir eine Welt ohne Ausbeutung, Unterdrückung und Diskriminierung vor; eine ökologisch nachhaltige und sozial gerechte (Welt) Gesellschaft. Grundlage sind die allgemeinen Menschenrechte, und zwar neben politischen Freiheitsrechten insbesondere die sozialen Rechte sowie Kollektiv- bzw. Solidarrechte. Ich träume von einer solidarischen und pluralistischen Gesellschaft. Mit solidarisch meine ich, dass Menschen füreinander einstehen und aufeinander Rücksicht nehmen, einen wertschätzenden Umgang pflegen. Jedoch bedeutet solidarisch für mich auch, dass Individualinteressen nicht zulasten des Wohls der Gesamtgesellschaft – zum Beispiel durch Ausbeutung, sozialen Ausschluss, Umweltzerstörung etc. – gehen. Ich will hier nicht missverstanden werden und »der« Gesellschaft einen vermeintlichen »Einheitswillen« unterstellen, sondern gehe hier von einem Ordnungsrahmen für menschliches Zusammenleben und Wohlbefinden aus, der demokratisch ausgehandelt werden muss (und nicht hinter die Menschenrechte zurückfallen darf). Ich wünsche mir eine pluralistische, durchaus kontroverse Gesellschaft, die unterschiedliche Lebensweisen und -vorstellungen, Arbeitsweisen etc. achtet und einen offenen Umgang mit Diversität übt, gleichzeitig aber auch Probleme und Widersprüche im gesellschaftlichen Zusammenleben demokratisch bearbeitet. Konkreter geht es mir hier um eine öffentliche Thematisierung, Diskussion und Bekämpfung von Macht- und Herrschaftsverhältnissen. Die vielfältigen und verschränkten Unterdrückungsmechanismen wie Klasse, Rassismus, Sexismus, Diskriminierung etc. werden durch eine emanzipatorische Praxis von Betroffenen und durch eine kritisch reflektierende Zivilgesellschaft bekämpft mit dem Ziel von Chancengerechtigkeit. Damit meine ich nicht vermeintliche Chancengleichheit: Nicht alle müssen gleich behandelt werden, sondern jede*r soll die Bedingungen bekommen, die er:sie braucht, damit am Ende alle die gleichen Bedingungen haben, die ihnen ein »gutes Leben« ermöglichen. (Was ein »gutes Leben« ausmacht, überlasse ich an dieser Stelle mal der Kreativität …) [… Ich träume] von einer Ermutigung und Motivation zu einer emanzipatorischen Praxis: Grundlage ist ein Bildungssystem, dessen Kern humanistische und politische Bildung ist, die zu Partizipationsprozessen befähigt und dadurch Selbstwirksamkeitserfahrungen ermöglicht. Wichtig ist, immer wieder zu fragen »in was für einer Gesellschaft will ich, wollen wir leben?« Eine kritische Auseinandersetzung mit Macht- und Herrschaftsstrukturen sowie Empowerment, diesen entgegenzuwirken, wird gefördert. Die Beziehung zur Natur und der Erhalt unserer natürlichen Lebensgrundlage – gegen einen Raubbau an Natur, Mensch und Tier – spielen eine wesentliche Rolle. Ich stelle mir das als ewigen Prozess vor. Es sind Ziele, um die beständig materiell wie diskursiv gerungen und gekämpft werden muss.
Anna M., wissenschaftliche Mitarbeiterin
Die Utopie einer perfekten Gesellschaft auf wenige Punkte herunterzubrechen erscheint mit fast unmöglich. Wenn ich aber absolut subjektiv und aus dem Bauch heraus beurteilen müsste, was der ausschlaggebende Faktor sein könnte, dann wäre das wohl Zeit. Und Zeit ist bekanntlich Geld. Welcher Typ, der für einen Hungerlohn in einem Scheißjob arbeitet und vielleicht auch noch eine Familie durchfüttern muss, hat schon Zeit, sich mit Problemen wie beispielsweise Klimawandel, Rechtsruck oder Sexismus zu beschäftigen? Ich kann mir nicht vorstellen, dass bestimmte Diskurse jemals (bzw. nicht rechtzeitig) über ausgewählte Gesellschaftsschichten hinaus geführt werden, solange es Leute gibt, die am Existenzminimum leben müssen oder ewig mit der Angst kämpfen, dort irgendwann zu landen. Wenn grundlegende gesellschaftliche Ungleichheiten, zum Beispiel bezüglich Bildungschancen etc. beseitigt würden, Arbeit gerechter entlohnt und diese nicht mehr die alleinige sinnstiftende, weil lebensnotwendige Tätigkeit im Leben vieler Menschen sein würde, dann hätte man Zeit. Man hätte Zeit, sich mit Problemen abseits des unmittelbaren Arbeitsalltags zu beschäftigen und (z. B.) an politischen Diskursen zu partizipieren. Manche Themen, so scheint es für mich, zirkulieren ansonsten immer in einer Blase, die ich irgendwie als »linksalternativ« und »grün« beschreiben würde.
Oft habe ich bei Diskussionen, etwa beim Thema Gendern, in beliebigen Studenten-WG-Küchen schon das Gefühl gehabt, der ganze Diskurs existiere nur innerhalb des jeweiligen Zimmers. Dumm gesagt: Warum sollte sich Henriette für ein Gendersternchen in ihrer Berufsbezeichnung interessieren, wenn ihr fauler Kollege Hans mehr Geld für den gleichen Job kassiert, den er auch noch schlechter macht? Ich verstehe, dass Sprache eine diskriminierende Macht besitzt (ist natürlich leicht gesagt als weißer/männlicher/hetero Typ), denke aber, dass fundamentalere Ungleichheiten als die innerhalb der Sprache zunächst beseitigt werden müssen, um den Diskurs zu Themen wie diesem für alle Menschen zu öffnen. Das Problem von Henriette ist nicht, dass sie keinen Bock hat, sich mit dem Gendersternchen, dem Klimawandel usw. zu beschäftigen, sie hat einfach keine Zeit. Oder anders ausgedrückt, sie hat nicht das Privileg, in einer Studentenblase abzuhängen, wo diskriminierungsfreie Sprache gerade das dringlichste Problem ist und wo jeder genügend Ressourcen hat, sich eingehend mit den Hintergründen dieser Problematik zu beschäftigen. Egal welches Diskussionsthema, so was wird, finde ich, oft verkannt. Mein Punkt ist also, dass eine utopische Gesellschaft, so wie du sie im Teil »Visionen« andeutest, auch als Gesellschaft »erdacht« werden muss. Rein vom Gefühl her passiert das für mich eben aufgrund fehlender Zugänge zum Thema vornehmlich in bürgerlich-studentischen Kreisen. Besser kann ich es (für mich) auf die Schnelle nicht zusammenfassen […]. Andy, Rapper
Alle die, die den Sachen gerne auf den Grund gehen, die intuitiv forschen...

Inhaltsverzeichnis

  1. Cover
  2. Titel
  3. Widmung
  4. Inhalt
  5. Zur Einführung, Selbstverortung eingeschlossen
  6. I Visionen: »Pandemie stoppt Klimawandel!«
  7. II Begriffe: Radikaler Humanismus, Postwachstum, Neosozialismus?
  8. III Heuristik: Sozialismus – von der Wissenschaft zur Utopie
  9. IV Diagnose: Landnahme, Zangenkrise, Anthropozän
  10. V Gründe: Warum nachhaltiger Sozialismus?
  11. VI Nachhaltigkeit: Eine neue Rechtfertigungsordnung
  12. VII Fundamente: Konturen nachhaltig sozialistischer Gesellschaften
  13. VIII Produktivkräfte: Digitaler Sozialismus?
  14. IX Effizienz: Demokratische Planung, humane Arbeit, befreites Leben
  15. X Katastrophen: Sozialismus oder Pandemie
  16. XI Übergänge: Nachhaltiger Sozialismus jetzt!
  17. Zum Schluss: Sozialismus im Handgemenge
  18. Anmerkungen
  19. Literaturverzeichnis
  20. Impressum