WAS UNS DIE GESCHICHTE VON MIA LEHRT
Problemaufriss
Die Geschichte von Mia zeigt zunächst, dass wir derzeit eine gut aufgestellte und ausdifferenzierte Kinder- und Jugendhilfe haben. Fast alle Kinder gehen regelhaft in einen Kindergarten, aber auch über 1.000.000 Kinder und Jugendliche werden republikweit über die Hilfen zur Erziehung erreicht. Das Kinder- und Jugendhilfegesetz ist ein Leistungsgesetz, das vielfältige – und übrigens auch vielleicht zunächst ungewöhnlich erscheinende – Hilfen für Kinder, Jugendliche und deren Familien ermöglicht und ein gelingendes Aufwachsen von Kindern unterstützt. Konkret hängt dies natürlich auch von der finanziellen Leistungskraft einer Kommune und vom Leistungswillen ab. Die Hilfen zur Erziehung und die Kindergärten sind in den Landkreisen, kreisfreien Städten und Bundesländern sehr unterschiedlich organisiert und mit unterschiedlichen Qualitäten ausgestattet. Die Kinder- und Jugendhilfe unterstützt viele Familien, die in Krisen oder Notlagen geraten. Der Bereich der Hilfen zur Erziehung hat sich in den letzten Jahrzehnten erheblich professionalisiert, das heißt, der Anteil der hochschulisch Ausgebildeten hat sich deutlich vergrößert. Fachverbände, die sicherlich auch manchmal die Interessen der Träger und Beschäftigten im Blick haben, aber vor allem die Interessen der Kinder, Jugendlichen und deren Familien vertreten, haben relativ erfolgreich Lobbyarbeit betrieben. Wir können damit zufrieden sein. Aktuell ist die Diskussion in der Kinder- und Jugendhilfe sehr stark auf die Durchsetzung von Kinderrechten gemäß der UN-Kinderrechtskonvention, Beteiligung, Einbeziehung und Unterstützung der Familien ausgerichtet.
Dennoch müssen wir feststellen, dass nicht alles deswegen automatisch gut ist. Es besteht in der Kinder- und Jugendhilfe ein enormer Reformbedarf. Bei einer Tagung der Senioren-Gilde Sozialer Arbeit im Jahr 2019 erinnerte sich ein Sozialarbeiter aus einer Stadt in Schleswig-Holstein: „Wir hatten es früher einfacher. Ich war der einzige Sozialarbeiter in der Stadt. Ich musste mich mit niemandem abstimmen.“ Heute ist die Kinder- und Jugendhilfe hoch ausdifferenziert. Wenn wir alle Menschen zusammenfassen, die in einer Stadt mit cirka 10.000 Einwohner:innen in der Kinder- und Jugendhilfe arbeiten, wären wir erstaunt. Fachkräfte in Krippe, Kindergarten, Schulbetreuung, Schulsozialarbeit, Mobiler Jugendarbeit, Jugendgerichtshilfe und allgemeinem Sozialdienst sind inzwischen Standard. Hinzu kommen noch Angebote der Hilfen zur Erziehung, mindestens sozialpädagogische Familienhilfe, Tagesgruppe und stationäre Wohngruppe.
Ist ein Kind beispielsweise im Kindergarten auffällig, kommt es eventuell zu einer Verlegung in einen anderen Kindergarten – im guten Glauben, dass der andere Kindergarten, weil dieser z. B. eine Heilpädagogin beschäftigt, mit dem Kind sehr viel besser zurechtkomme. Aber auch dieser Kindergarten kann an seine Grenzen kommen. Vielleicht sitzt man das Problem im Kindergarten auch aus und wartet, bis das Kind in die Schule kommt, denn dort verändern sich die Probleme. Zudem sind dann auch andere zuständig. Doch auch der Hort ist bald überfordert. Es kommt zu einer Tagesgruppenunterbringung. Auch die Tagesgruppe stößt an ihre Grenzen, und wie das Beispiel von Mia zeigt, haben Jugendliche dann irgendwann keine Lust mehr auf Erwachsene, die, wie sie leidvoll erfahren haben, keine verlässlichen Beziehungspartner für sie sind. Immer, wenn es schwierig wird, kapitulieren Erwachsene und Profis und finden eine andere Lösung. Die Gründe für die entstandenen Schwierigkeiten werden zumeist als im Kind liegend dargestellt und die neue Lösung als bessere, spezialisiertere. Das Verlegen oder die Überweisung in eine vermeintlich geeignetere Institution scheint so als angemessene Lösung. Für das Kind ist dies – Verlegen und Abschieben (Werner Freigang)2 – aber immer ein Beziehungsabbruch, auch wenn es fachlich manchmal fundiert sein mag. Eines der Hauptprobleme der Jugendhilfe, sagten Friedhelm Peters und Mathias Hamberger 2020,3 liegt also ironischerweise in ihrer eigenen Erfolgsgeschichte, in der zunehmenden Spezialisierung und Differenzierung, die aber eher einem Modell Krankenhaus mit zunehmend intensiveren Eingriffen folgt als einem erfolgreichen Aufwachsen im ganz normal-verrücktem oder, wie der Tübinger Erziehungswissenschaftler Hans Thiersch sagt, „schmuddeligen“ Alltag.
Ziel ist eine aushaltende Jugendhilfe
Viele Sozialpädagog:innen und Erzieher:innen waren 2019 von dem Spielfilm Systemsprenger von Regisseurin Nora Fingscheidt fasziniert. Eine solches „Endprodukt der Erziehung“ wünscht sich niemand. Der Film wie auch der „Fall Mia“ zeigen, dass wir eine aushaltende Kinder- und Jugendhilfe benötigen, eine Jugendhilfe, die da ist, auch wenn es schwierig wird. Erziehung lebt von stabilen Beziehungen. Aushaltend hört sich so leicht und logisch an. Manch einer denkt sich: Wenn wir Fachkräfte uns nur ordentlich anstrengen, unseren Job gut machen, dann gelingt das schon. Das ist natürlich richtig. Mitunter haben einzelne Fachkräfte versagt, waren unmotiviert oder haben selbst einfach gerade einen schlechten Tag erwischt. Oder zwischenmenschlich klappt es mit den Eltern nicht. Aber so einfach ist es leider meistens nicht. Die Erfahrung zeigt, dass in allen Einrichtungen immer wieder Kinder und Jugendliche scheitern, dass sie – aus Sicht der Pädagog:innen – nicht mehr gefördert werden, ihnen nicht mehr geholfen werden kann, während es sich – aus Sicht und Gefühl der Betroffenen – um ein Abschieben aus der Einrichtung handelt.
Um das Prinzip des Verlegens und Abschiebens in eine andere Einrichtung oder einen völligen Ausschluss aus dem Bildungs- oder Hilfesystem zu verhindern, braucht es Strukturen, die Fachkräfte entsprechend unterstützen. Aushaltende Jugendhilfe heißt nicht, dass die Fachkräfte sich einfach nur anstrengen müssen. Es bedeutet, dass jede Einrichtung – von der Kita bis zum Heim oder zur Wohngruppe – im Prinzip so zu konzipieren ist, dass sie für die jeweiligen Lebenslagen der Kinder und Jugendlichen geeignet ist. Das erfordert Flexibilität in dem Sinn, dass man Einrichtungen verändern kann, räumlich wie im übertragenen konzeptionellen Sinn. Das bedeutet, Räume zur Reflexion zu haben und (mitunter) zusätzliche Ressourcen einzusetzen. Mehr Flexibilität und „Durchhaltevermögen“ sind aber unumgänglich, um Biografien wie die von Mia zu vermeiden. Von daher ist das Projekt „Kita im Sozialraum“ ein Ansatz zu einer aushaltenden Praxis. Bei dem Projekt sind Lösungswege praktisch angewandt worden, die bereits in früheren Modellprojekten entwickelt und erforscht worden sind.
Die Kita als Ort für alle Kinder4
Kindertageseinrichtungen sind Orte des Aufwachsens, die von nahezu allen Kindern in den Jahren vor ihrem Schulbeginn besucht werden. Mehr als 95 % der Vier- und Fünfjährigen und 55 % der Zweijährigen nehmen heute an den in Deutschland freiwilligen frühpädagogischen Bildungsangeboten teil.5 Damit erreicht die Kinder- und Jugendhilfe nahezu alle Kinder und deren Eltern in einer bestimmten Lebensphase. Kita ist für die Kinder und deren Eltern eine normale Einrichtung, wie auch anschließend die Schule. Weil die Kita aber so normal geworden ist, muss sie auch immer mehr auf externe Erwartungen reagieren. Seit geraumer Zeit werden vor allem Bildungserwartungen an die Kita herangetragen. Dies hat sich u. a. dadurch gezeigt, dass die Politik in den meisten Fällen die Kita nicht mehr im Sozialministerium, sondern im Bildungsministerium ansiedelt. Ähnlich wie bei der Schule wird nicht nur in Fachgremien die Arbeit einer Kita diskutiert, sondern auch in den Landtagen dieser Republik. Das hat Auswirkungen auf die Arbeit in der Kita. Und ähnlich wie in der Schule sehen sich Erzieher:innen inzwischen immer wieder mit neuen Anforderungen an ihre Arbeit konfrontiert. Beispiele sind: naturwissenschaftliche Bildung, Spracherziehung etc.
Die Kita ist erfolgreich darin, allen Kindern unabhängig von ihrer ökonomischen und soziokulturellen Herkunft bzw. ihren individuellen Fähigkeiten im Prinzip Zugang zur Bildung zu verschaffen. Dennoch darf nicht übersehen werden, dass dies den Bereich vor große Herausforderungen stellt. Zwar werden Kinder aus unterschiedlichen Lebenslagen und sozialen Milieus erreicht. Aber dies bedeutet nicht automatisch, dass z. B. die aufgrund von Armutslagen, Alleinerziehenden- oder Migrationsstatus vorhandenen Risiken bzw. Einschränkungen bei Kindern und Eltern auch kompensatorisch bewältigt werden können. Eine Kita muss sich in dem Maß, in dem sie zum normalen, von fast allen Kindern besuchten Regelangebot wird, mit der Heterogenität der Kinder, die von unterschiedlichen Ausgangslagen, Entwicklungsständen, Fähigkeiten, ethnisch-kulturellen Herkünften und sozioökonomischen Milieus bestimmt sind, nicht nur auseinandersetzen, sondern diese systematisch berücksichtigen. Hinzu kommt die relativ junge Debatte um die Inklusion, die wiederum eine weitere Erwartungshaltung in Bezug auf die Kita erzeugt. Angesichts dieser Komplexität, mit der der Kita-Bereich konfrontiert ist, wodurch die Fachkräfte im Berufsalltag auch manchmal an ihre Grenzen gebracht oder gar überfordert werden, ist es nicht verwunderlich, dass es Hinweise darauf gibt, dass sich trotz Kita-Besuch Bildungsungleichheiten und Chancen schichtspezifisch reproduzieren bzw. dass auch im Kindergarten in der alltäglichen Kommunikation der Fachkräfte mit den Kindern Ungleichheiten inszeniert und produziert werden.6
Wer als Fachkraft einer Kita die Geschichte von Mia hört, denkt vermutlich intuitiv, dass bereits im Kindergarten eine Lösung hätte gefunden werden müssen. Es kann doch nicht sein, dass Mia nicht adäquat im Kindergarten gefördert und unterstützt wird, sodass eine Kindergartenzeit gelingen kann. Der Anspruch, alle adäquat ihren Bedürfnissen entsprechend zu fördern, ist in der Tat leicht erhoben, in der Praxis aber gerade vor dem Hintergrund der vielen Erwartungshaltungen, die auf die Kita einströmen, unter Umständen schwer umzusetzen. Hinzu kommt ein weiterer Punkt, den das Fallbeispiel ausgeblendet hat. Andere Eltern nehmen ein Verhalten eines Kindes in einer Kindergartengruppe, das als „abweichend“ oder „auffällig“ bezeichnet werden kann oder das von Erzieher:innen als problematisch gesehen wird, sehr wohl wahr. Sie bekommen etwas mit, wenn sie in der Einrichtung sind, oder ihre Kinder erzählen davon. Diese Eltern erzeugen gegenüber dem Kindergarten oftmals Druck, dass mit dem Kind, weil ja „abweichend“, etwas nicht stimme und daher etwas passieren müsse. Das Kind stört – andere Kinder, deren Eltern, eventuell die Abläufe und Routinen in der Kita, die Fachkräfte oder (auch nur) die Annahmen, wie Kinder zu sein haben. Das wiederum setzt auch die Fachkräfte unter Druck. Unterschiedliche Haltungen und Sichtweisen im Team führen ebenfalls zu Problemen oder gar Konflikten, die sich für das betreffende Kind negativ auswirken können. Eine Fachkraft hat zwar alternative Lösungsideen, sie kann sich aber nicht durchsetzen. Eine „negative Karriere“ beginnt oder kann beginnen, wenn sie nicht aufgehalten wird.
Drei Spieler im kommunalen/regionalen Feld: Kita, ASD und HzE
Im Konzept „Kita im Sozialraum“ ist das Ziel eine aushaltende und bedarfsgerechte Kinder- und Jugendhilfe, welche die Bedürfnisse und Interessen aller Kinder, Jugendlichen und ihrer Familien – ungeachtet, ob „Normalfamilie“, alleinerziehend, mit oder ohne Migrationshintergrund usw. – adäquat berücksichtigen kann. Dann wäre sie responsiv, auf die Bedürfnisse der Betroffenen zugeschnitten und hilfreich. Eine solche Vorstellung beruht auf der Idee oder Philosophie des Kinder- und Jugendhilfegesetzes. Danach ist eine „notwendige und geeignete Hilfe“ zu leisten, wenn das Wohl eines Kindes oder Jugendlichen eingeschränkt oder gefährdet bzw. akut nicht gewährleistet ist. Dazu sollen im Prinzip alle Einrichtungen und Dienste, die das SGB VIII zum Teil genauer benennt und in ihren Aufgaben und Funktionen beschreibt, lokal zusammenarbeiten.
Wenn wir uns anschauen,...