1.1 Forschungsinteresse und Forschungsfragen
Vom 30. April bis zum 5. Mai 1961 veranstaltete der National Council of Churches of Christ in the U. S. A. (kurz NCC)1 zusammen mit seinem kanadischen Pendant die erste North American Conference on Church and Family in Green Lake, Wisconsin. FĂŒr die Vorbereitungen und Hauptorganisation fiel die Wahl auf zwei bekannte GröĂen im Feld der Familienforschung und -beratung: das Ehepaar Evelyn M. und Sylvanus M. Duvall. Sie war Bestsellerautorin, promovierte Soziologin und Expertin fĂŒr Familienentwicklung und Jugendkultur, er ordinierter Pfarrer, Professor fĂŒr Sozialwissenschaften und Religion, ebenfalls Experte fĂŒr Familien- und Ehefragen. Unter der Herausgeberschaft der Duvalls und vom YMCA publiziert, entstand in Vorbereitung auf die Konferenz ein Handbuch mit dem Titel Sex Ways â in Fact and Faith. Bases for Christian Family Policy.2 Dieses verschickten die OrganisatorInnen drei Monate vor der Konferenz an alle Delegierten. Das Handbuch enthielt AufsĂ€tze von damals namhaften ExpertInnen aus den Bereichen der Familien- und SexualitĂ€tsforschung, die den aktuellsten Forschungsstand zusammentrugen.3 In den GastbeitrĂ€gen und unter den TeilnehmerInnen der Konferenz trafen sich bekannte VertreterInnen aus verschiedenen Fachdisziplinen sowie renommierte Pfarrer, hohe Kirchenbeamte und VertreterInnen unterschiedlichster religiöser Organisationen.4
Die ĂŒber 500 Teilnehmenden der Konferenz reprĂ€sentierten nicht weniger als 33 Denominationen und 57 Bundesstaaten beziehungsweise Provinzen.5 Ziel der Veranstaltung war es, sich auf eine neue positive christliche Sexualethik zu verstĂ€ndigen, um die Familie als Basis von Kirche und Staat zu stĂ€rken und zu unterstĂŒtzen. VerhĂŒtung, Ehescheidung, konfessionelle Mischehen und Sexualverhalten unter Jugendlichen fanden auf der Konferenz ebenso einen Diskussionsraum wie die Themen Abtreibung, HomosexualitĂ€t und unverheiratete MĂŒtter. Die Auseinandersetzung mit verschiedenen gesellschaftlich wahrgenommenen Problemen, Transformationsprozessen und wissenschaftlichen ErklĂ€rungsmustern sollte schlieĂlich auch zu einer Professionalisierung der protestantischen Kirchen auf diesen Themengebieten fĂŒhren, sodass anschlieĂend an die Konferenz Kirchenprogramme fĂŒr Familien und Seelsorge weiterentwickelt und ausgebaut werden konnten.6
Gut ein Jahr spĂ€ter erschien ein weiteres Buch zur Konferenz, diesmal fĂŒr die Unterweisung der christlichen LaiInnen, welches die wichtigsten Informationen und Ergebnisse zusammenfasste. FĂŒr die Herausgeberschaft wĂ€hlte der YMCA wieder ein bekanntes Ehepaar der damaligen Zeit, Elizabeth S. und William H. GennĂ©. Er war ordinierter Pfarrer der Connecticut Baptist Convention, Autor, UniversitĂ€tslehrer in Soziologie, MitbegrĂŒnder von SIECUS7 und langjĂ€hriger Direktor der NCC-Abteilung Sexuality, Marriage and Family Ministries (1957â1976). Sie war Lehrerin und Beraterin fĂŒr Elternbildung, Autorin, nationales Vorstandsmitglied des YWCA (1957â1979), Expertin fĂŒr Familienleben, mĂŒtterliche Gesundheitserziehung (maternal health education) und Sexualerziehung.8 Die hochkarĂ€tige Besetzung mit ReligionsexpertInnen, die verschiedenen Zielgruppen und vielfĂ€ltigen Publikationen sind ein Beleg fĂŒr die Bedeutung der Konferenz zur damaligen Zeit.
Die Familienkonferenz von 1961 war nicht der Anfang mainline-protestantischer SexualitĂ€tsdiskurse, sondern ein erstes Zwischenfazit bereits vorangegangener protestantischer Modernisierungsprozesse, die zum Teil bis in die erste HĂ€lfte des 20. Jahrhunderts zurĂŒckgefĂŒhrt werden können. Eine Tatsache, die auf den ersten Blick vielleicht ĂŒberrascht, weil religiöse Umdeutungen hinsichtlich SexualitĂ€t in der Regel nicht mit den 1950er Jahren oder frĂŒher in Verbindung gebracht werden. Diesem neuen, gesteigerten mainline-protestantischen Interesse an SexualitĂ€t und den damit zusammenhĂ€ngenden Auswirkungen auf das kirchliche und gemeinschaftliche Leben wird dieses Buch nachgehen, indem es SexualitĂ€tsdiskurse und Praktiken der Methodistischen Kirche im 20. Jahrhundert in das Blickfeld der Analyse rĂŒckt und die mit Modernisierungsprozessen einhergehenden Ambivalenzen aufdeckt. Der empirische Fokus liegt auf den Jahren 1950â1990.
Diese, auĂerhalb der Forschung ĂŒber US-amerikanische Religionsgeschichte eher selten wahrgenommene, Familienkonferenz ist in vielerlei Hinsicht bemerkenswert und bietet fĂŒr die weitere Analyse wichtige Anhaltspunkte. Erstens ist sie zu Beginn der 1960er Jahre ein von Religionsgemeinschaften, Theologen, Sozial- und NaturwissenschaftlerInnen organisiertes, besuchtes und damit interdisziplinĂ€res Forum, dass sich weitrĂ€umig mit dem Thema SexualitĂ€t und Familie beschĂ€ftigte. Dieses Forum versuchte das VerhĂ€ltnis zwischen religiösen Traditionen und Glaubensregeln, gesellschaftlichen Normen und neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen auszuloten sowie im Kontext von gesellschaftlichen Modernisierungs- und Transformationsprozessen zu verorten und zu bewerten â miteinander, nicht gegeneinander. Zweitens spiegelt die Konferenz das groĂe Interesse von Seiten religiöser ExpertInnen9 und kirchlichen Institutionen an der SexualitĂ€tsthematik, der Lösung damit zusammenhĂ€ngender gesellschaftlicher Probleme, der Sammlung und Verbreitung von Faktenwissen sowie der Erneuerung theologischen Wissens wider. Drittens verweisen die diskutierten Themenfelder darauf, dass verschiedene SexualitĂ€tsthemen keine Tabuisierung mehr erfuhren, sondern auch in der religiösen Ăffentlichkeit eine neue Sagbarkeit erlangt hatten. Auch ging es in der Diskussion weniger um den Geschlechtsakt an sich als vielmehr um SexualitĂ€t und ihre Bedeutung im Kontext von Theologie, Ehe, Familie und Jugendlichen, Reproduktion und Generation, die Frage nach richtigem und falschem Sexualverhalten und -verstĂ€ndnis. Damit verbunden wurde die wissenschaftliche und theologische Frage diskutiert, was biologisch / natĂŒrlich veranlagt, was Teil der Schöpfungsordnung war und was einer soziokulturellen PrĂ€gung unterlag.
Dieser Nexus zwischen Religion und SexualitĂ€t war in der US-amerikanischen Geschichte zwar nicht neu, wenn es darum ging, Familienideale, Geschlechtervorstellungen und -beziehungen zu definieren, Reproduktion zu regulieren sowie gesellschaftliche Normen und Wertesysteme zu verhandeln. Dennoch gewann SexualitĂ€t, wie die folgende Arbeit zeigen wird, in religiösen DiskussionszusammenhĂ€ngen im Laufe der zweiten HĂ€lfte des 20. Jahrhunderts an neuer QualitĂ€t und KomplexitĂ€t. Diese fĂŒhrten zur Neukonzeptionierung religiöser Vorstellungen von Ehe, Familie, Geschlecht, Sexualerziehung, Reproduktion und HomosexualitĂ€t â zentrale Diskussionsthemen, die den analytischen Rahmen fĂŒr dieses Buch bilden. Insofern liegt es im Hauptinteresse dieser Studie, diese Neukonzeptionen aufzuspĂŒren und ihre diskursive Formation und Herstellung zu erklĂ€ren, Wissensstrukturen und deren VerĂ€nderungen sichtbar zu machen und schlieĂlich ihre Bedeutung fĂŒr die methodistische Religionsgemeinschaft als Teil der US-amerikanischen Gesellschaft offenzulegen. Auch wird durch die Linse von SexualitĂ€tsdiskursen zusĂ€tzlich der Frage nachgegangen, ob und wie es zu Neujustierungen innerhalb der religiösen Geschlechterordnung kam und welche theologischen und sĂ€kularen Legitimierungsstrategien von Seiten der Kirche als Institution sowie von Theologen und ReligionsexpertInnen hierfĂŒr herangezogen wurden. Das Eingangsbeispiel hatte bereits gezeigt, dass es im Interesse der Konferenzteilnehmenden war, Scheidungen entgegenzuwirken und mit Hilfe unterschiedlicher Programme und wissenschaftlicher Analysen den Erfolg von Ehen und Familien zu fördern.
Zudem wird angenommen, dass sich durch die religiöse Teilhabe an gesellschaftlichen SexualitÀtsdiskursen die Ausrichtung und gesellschaftliche Stellung der mainline-protestantischen Kirchen verÀnderte und erheblichen Einfluss auf die Gemeindearbeit nahm. SexualitÀt als religiöser Bedeutungskomplex hat sich hierdurch, so eine zentrale These dieser Arbeit, sowohl innerhalb einzelner Religionsgemeinschaften als auch zwischen verschiedenen Denominationen und Konfessionen in der Nachkriegszeit als ein wesentliches Distinktionsmerkmal diskursiv formiert und durchgesetzt.