Lebendige Seelsorge 5/2021
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Lebendige Seelsorge 5/2021

Sterben und Beerdigen

  1. 72 Seiten
  2. German
  3. ePUB (handyfreundlich)
  4. Über iOS und Android verfügbar
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Lebendige Seelsorge 5/2021

Sterben und Beerdigen

Über dieses Buch

Es gehört zu den selbstverständlichsten Erwartungen an Kirche und Christentum, dass bei ihnen eine gute und würdige Kultur des Sterbens und Bestattens gepflegt wird. Tatsächlich kann das kirchliche Leben auf eine reiche und jahrhundertealte Weisheit zugreifen, die sehr viel über das 'Trauern', das 'Scheitern' und das 'Lassen' weiß. Gesten, Rituale, Gebäude, Zeichen und Symbole sind hier oft sprachmächtiger als Worte. Aber auch diese fehlen nicht: Denn über und unter allem liegt dieses übergroße Versprechen, dass mit dem Tod nicht alles aus ist.Ich sage es ganz offen: Dieses Heft hat mich stolz gemacht. Denn auf den folgenden Seiten finden Sie die kreativen Formen, in die das alte Wissen sich heute gießt: die Arbeit von Trauerzentren; Einblicke in den ehrenamtlichen Beerdigungsdienst; neue Kirchenarchitekturen rund um das Thema Tod und Auferstehung; digitale Unterstützungen des Trauerns; der letzte Gang mit Menschen ohne Angehörige; Reflexionen über den Dienst im Hospiz und über den Friedhof von morgen; die Erwartungen an Trauerbegleitung aus der Sicht der sozialen Milieus.Es begegnen Ihnen Frauen und Männer, die sich reinhalten in das, wovor viele instinktiv zurückschrecken. Und: Sie taten dies gerade auch dann, als die Corona-Pandemie zu einer Veränderung der Routinen gezwungen hat. Als das Sterben einsam war.Beim Lesen der Beiträge wird spürbar: Diese Engagierten vergessen die Toten genauso wenig wie die, die an ihrem Grab stehen. Das zeigt, wie wertvoll der Dienst seelsorglicher Präsenz ist.

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THEMA Sterben und Beerdigen

Der Friedhof von morgen

Der Friedhof von morgen

Ostern 2020. Noch ganz zu Beginn der Pandemie. Als Angst umging, Menschen allein starben und alles anders war. Auch das Bestatten der Toten. In dieser Zeit sucht Pfarrerin Helene Kratzert ihren Friedhof in Palmbach (Süddeutschland) auf und lässt dabei eine Kamera mitlaufen. Lutz Friedrichs
Kratzert erzählt, was sie sieht: „Es gibt Zeiten, da ist alles dichter als sonst. Und es gibt Orte, die passen zu solchen dichten Zeiten. So ein Ort ist für mich der Friedhof hier in Palmbach. Weil sich hier das Leben auf ganz wesentliche Gefühle zusammenzieht: Auf Trauer, Schmerz, Liebe und Dank. Menschen machen hier, was man halt so macht auf einem Friedhof: sie pflanzen Stiefmütterchen auf Gräber. Sie stehen eine Weile mit gesenktem Kopf. Manche weinen. Andere rufen sich lachend über Gräber was zu. Und manchmal finden sich kleine Briefe, Kuscheltiere oder Windräder auf den Grabstätten. Das alles sind zwischen Gießkanne und Spitzhacke kleine Bilder der Liebe“ (Kratzert, 5).
Die Andacht wird ins Netz gestellt, berührt viele Menschen und erhält den Preis der Stiftung zur Förderung des Gottesdienstes für digitale Ostergottesdienste. Pfarrerin Kratzert sieht, was auf einem Friedhof zu sehen ist. Und sie sieht mehr: Ihr Blick nimmt die „Bilder der Liebe“ wahr. Sicher hat auch dieser Friedhof mit zurückgehenden Zahlen, wachsenden Gebühren und anderen Alltagsproblemen zu kämpfen. Dennoch kann sie sagen: ‚Ein Ort voller Liebe und Leben ist mein Friedhof.‘ Das ist der Friedhof nicht an sich, sondern der Friedhof wird zu einem solchen Ort, wenn er so genutzt und gesehen wird.

DIAGNOSE ODER: NACHRUF AUF DEN FRIEDHOF?

Es mangelt nicht an Phänomenen, die für einen Abgesang, vielleicht sogar für die Arbeit an einem Nachruf auf den Friedhof sprechen. Es gibt Stimmen, die sagen: Den Friedhof gibt es nur noch, weil er gesetzlich geschützt ist. Er siecht dahin (vgl. Sörries).
Tatsächlich geben Zahlen und beobachtbare Trends Anlass zur Sorge, wie am Beispiel des Hauptfriedhofs in Kassel deutlich wird (vgl. Friedrichs): Die Anzahl der Bestattungen insgesamt ist von 1527 (1973) über 836 (1995) auf 397 (2017) zurückgegangen. Dabei ist die Anzahl der Urnenbestattungen von knapp 35 Prozent (1973) über etwa 50 Prozent (1995) auf etwa 75 Prozent (2017) gestiegen. Das ist gegenüber den Stadtteilfriedhöfen ein sehr hoher Anteil, markiert aber unverkennbar einen Trend. Sichtbar ändern sich auf dem Hauptfriedhof auch traditionelle Formen der Trauerkultur. Rückläufig ist die Zahl der kirchlichen Bestattungen. Es verändern sich auch, so berichten Friedhofsmitarbeitende, Formen und Rhythmen des Grabgangs, der klassische Friedhofsbesuch am Totensonntag geht erkennbar zurück. Zudem ist die zentrale Friedhofskapelle nicht selten viel zu groß für die meist kleinen Trauergemeinden.
Lutz Friedrichs
Dr. theol., geb. 1963, Direktor des Evangelischen Studienseminars der Evangelischen Kirche von Kurhessen-Waldeck in Hofgeismar; apl. Prof. für Praktische Theologie an der Universität Göttingen.
Wie in einem Brennglas bündeln sich hier in exemplarischer Weise zentrale Aspekte des Wandels der Friedhofskultur:
Die Zahlen konkretisieren den „Siegeszug der Feuerbestattung“ (Happe 2012, 76; vgl. ebd., 76–96), der nicht nur die Trauerkultur, sondern auch die Friedhofskultur grundlegend verändert. Die Urnenbestattung erweist sich für die Erfordernisse der mobilen Gesellschaft als attraktiv, da mit ihr – im Rahmen der gesetzlichen Bestimmungen – Flexibilität in Ort und Zeit entsteht.
Der Friedhof verliert seine Monopolstellung, auch wenn er derzeit noch immer der zentrale Bestattungsort in Deutschland ist. Die Wahl des Grabes oder die Wertschätzung des Grabmals sind auf der einen Seite Indizien für den „Fortbestand konventioneller, an Traditionen anknüpfender Elemente“ (Thiemann, 329). Auf der anderen Seite lassen Umfragen erkennen, wie stark traditionelle Grabformen an Zuspruch verlieren. Dabei spielt der Aspekt des Pflegeaufwands eine zentrale Rolle (vgl. Aeternitas).
Daneben geht es um die Frage des Ortes. Mit der gesellschaftlichen Pluralisierung pluralisieren sich auch die Bestattungsorte. Der Friedhof wird zu einem Ort neben anderen.
Die Konkurrenz besteht nicht nur darin, dass der Friedhof als ‚alt‘ und ‚unmodern‘ empfunden wird. Die Konkurrenz ist auch eine Konkurrenz der Bilder. So kommen die alternativen Orte nicht nur dem Bedürfnis nach einem pflegelosen Grab entgegen, sondern versehen das Bestatten mit Bildern, „die den Angehörigen wohltuend erscheinen, sei es das dunkle Laub der Wälder, der unendliche Horizont am Meer, die grenzenlose Freiheit über der Erde oder das Einssein mit einem Wassertropfen auf dem Weg zum großen Ozean“ (Sörries, 37). Der Bezug zur Natur lässt sich, durch die Coronakrise in gewisser Weise intensiviert, als Gegenbewegung zur Rationalität des Friedhofs lesen: „[D]ie gefühlte Landschaft versöhnt mit Sterben und Tod“ (Helmers, 17) und gibt „Spielraum für eine nicht normierte Spiritualität“ (Happe 2015, 267).
Mit der Individualisierung verändern sich auch die Rituale und Sitten des Bestattens und Trauerns. Die kirchlichen Bestattungen in Deutschland sind stark rückläufig, ihr Anteil am Gesamt der Bestattungen ist von 67,5 Prozent (2006) auf 56,5 Prozent (2016) gefallen. Eine Ursache kann darin gesehen werden, dass Kirchen, dem Friedhof ähnlich, als unmodern gelten und eher mit Fremdbestimmung als Selbstbestimmung in der Bestattungspraxis verbunden werden. Persönliches Mitgestalten ist nur ansatzweise vorgesehen (vgl. Thieme, 332).
Traditionelle Riten wie der Grabgang am Totensonntag treten zurück, die Formen der Trauer individualisieren und privatisieren sich. Die mancherorts tristen oder viel zu großen Friedhofskapellen verlieren ihre Funktion, Orte des öffentlichen Abschieds zu sein. Kleine, atmosphärisch ansprechende Räume wie sie von Bestattungsinstituten angeboten werden, kommen hingegen dem Trauerbedürfnis entgegen.
Auch die ökonomischen Faktoren müssen berücksichtigt werden. Sie haben starken Einfluss auf die Bestattungskultur und befördern Entwicklungen, die die Würde der Verstorbenen antasten, so besonders im Fall von ‚ordnungsbehördlichen‘ Bestattungen, also Bestattungen von Toten, die keine Angehörigen hinterlassen. Der finanzielle Druck auf die Friedhöfe ist enorm.

VISION ODER: ÜBER WAS WIR STAUNEN WERDEN

Wie wird der Friedhof von morgen aussehen? Ich löse mich von seinen Problemen und versuche mir vorzustellen, wie sich die Zukunft des Friedhofs denken lässt, wenn neue Ideen zugelassen werden. So kommen seine Stärken und Potenziale in den Blick. Es handelt sich nicht einfach um ein freies Phantasieren, sondern ich verarbeite Impulse und Initiativen, die jetzt schon dem Friedhof ein neues, menschenfreundliches Gesicht zu geben versuchen. Nicht die Klage über Defizite, sondern Entdeckerlust lenkt meinen Blick auf das Morgen des Friedhofs mit seinen Ressourcen. Davon erhoffe ich mir Anregungen und Orientierungen für die Gegenwart.
Angenommen, wir befänden uns im Jahr 2030 in einem Trauercafé in unmittelbarer Nähe zum ‚Garten der Lichter‘ eines städtischen Friedhofs. Worüber werden wir staunen, wenn wir auf die Zeit seit Beginn der Corona-Pandemie im Frühjahr 2020 zurückblicken?
Wir werden staunen über das gläserne Büro der Friedhofsverwaltung, das entstand. Es ist offen und einladend. So wie die Website des Friedhofs. Auf ihr lassen sich die verschiedenen Formen des Bestattens erleben. Ein virtueller Erkundungsgang bereitet auf die verschiedenen Themenwelten des Friedhofs vor. Musik und Bilder stimmen auf sie ein. Oder der Spaziergang ist ein virtueller Trauerbesuch. Ich setze mich auf eine Bank des Friedhofs. Jemand setzt sich neben mich. Wir chatten. Ich gehe weiter zum Grab und auf dem Weg schalten sich die Facebook-Bilder der Vergangenheit hinzu. Aus meiner Lebenschronik. Video- und Tonaufnahmen. Die Sinne werden digitalisiert angesprochen und machen nicht nur Erinnerung, sondern Vergegenwärtigung möglich: „Menschen leben weiter in unseren Herzen.“ Auch die Welt des analogen Friedhofs hat sich verändert: ‚Hörwaben‘ sind zu sehen, Strandkörben nicht unähnlich, die zum Verweilen einladen. In einer der Hörwaben ist ein älterer Mann in das Gespräch mit einer Pastorin vertieft, die am Projekt ‚Mobile Seelsorge auf dem Friedhof‘ teilnimmt. Am Nachbartisch unseres Cafés sitzen zwei Frauen, die sich über das Onlineportal TrostHelden kennenlernten und das Bedürfnis hatten, sich jeweils auf ‚ihren‘ Friedhöfen zu treffen. Am Ausgang steht ein Modell der neuen Multimedia-Kapelle, das wechselnd in den Farben leuchtet, die später den Innenraum ausleuchten sollen. Man spöttelt über die Zeiten, in denen es Grabstein-Rüttelordnungen gab, um die Ruhe der Toten zu sichern. Es sei wohl mehr um das Sicherheitsbedürfnis der Verwaltung gegangen als um die Anliegen der Hinterbliebenen.
Wir werden staunen, wie lernfähig der Friedhof war. Man sollte meinen, dass Trauern und Abschiednehmen seine Themen sind. Aber es fiel ihm schwer, das loszulassen, was ihm bisher so lieb war: Einzel-, Reihen- und Familiengräber. Generationen von Menschen erinnern Friedhöfe als Orte, die Ruhe und Frieden durch Ordnung stiften. Diese Zeit ist vorbei. Vertrautes löst sich auf, eine neue Epoche beginnt. Als der ‚Garten der Lichter‘ kurz nach der Pandemie entstand, war er noch etwas Besonderes. Ein ‚Friedhof im Friedhof‘ im Stil eines japanischen Gartens, attraktiv für Menschen, die sich den Ort ihrer letzten Ruhe so vorstellen: Ein Garten, der an den Garten Eden erinnern mag, exotisch und offen für mystische Spiritualität. Dann kamen weitere Gärten und Landschaften hinzu, ein ‚Memoriam-Garten‘, ein ‚Frauengarten‘ und ‚Auengarten‘, dessen Gräber sich in eine Landschaft zu verstreuen scheinen. In Planung ist ein ‚Garten der Welt‘ für alle Kinder, die wir nie sterben sehen, im Meer, auf der Flucht, im Elend des Hungers. Der Frieden des Friedhofs kommt nicht ohne Mahnung und Gedenken aus. Inzwischen ist ein „Mosaik von Miniaturlandschaften“ (Fischer) entstanden, das beeindruckend ist. Irgendwie erinnert das an die Themenwelten moderner Zoos. Und ist das nicht verständlich? Bei allem, was wir wissen, suchen Menschen, wenn sie sich bestatten lassen, einen Ort, der für sie, wie ihre Lieblingsmusik, ‚passend‘ und ‚schön‘ ist.
Wir werden staunen über die wissenschaftlichen Studien, die in Auftrag gegeben wurden. Wie gut, dass die Online-Initiative Trauer Now frühzeitig den Impuls gab, sich auch wissenschaftlich mit der Sicht der Betroffenen zu befassen: „Es ist Zeit, dass wir uns den tieferliegenden Bedürfnissen einer gelungenen Trauerarbeit stellen. Dafür brauchen wir die Diskussion in Deutschland sowie neue wissenschaftliche Erkenntnisse, die Angehörige und ihre Trauer enttabuisiert: Nicht die Toten trauern, den Angehörigen gehört die Trauer. So können die Bestattung und der Friedhof an sich wieder eine wichtige gesellschaftliche Funktion erhalten. Der Friedhof kann dadurch so wirkungsstark sein, dass er zu einem ‚Kraftort‘ wird, aus dem Menschen Energie ziehen können. Damit hat er auch für das Gemeinwohl einer ganzen Kommune eine wertvolle, positive Wirkung“ (Trauer Now).
Wir werden staunen über die „Kraft“, die der Friedhof entwickelte. Es gab Momente, da hatten wir ihn schon aufgegeben. Dann aber kam die Initiative mit den Sternenkindern. Und uns wurde klar, wie lebendig unser Friedhof sein kann. Dankbar sehen wir auf das neue Gräberfeld für die Sternenkinder mit Spielplatz für deren Geschwisterkinder, ein Kooperationsprojekt zwischen Friedhof, Kirchen, Krankenhaus und Kinderhospizverein. Wie Bausteine stapeln sich die Granitblöcke übereinander, gestaltet als ein offenes Tor oder eine Brücke über ein Flussbett, das ausgetrocknet wirkt, aber in dem ein Boot unterwegs ist. Wer, wenn nicht der Friedhof, kann diesen Kindern mit ihren Familien öffentlich Anerkennung geben? Und sprechen die Bilder nicht die Sprache unserer Zeit? Offen in der Deutung, aber klar in der Richtung der Hoffnung? Die Andacht, die hier am Tag der Sternenkinder im letzten Oktober begangen wurde, war berührend, auch für die, die gar nicht zur Kirche gehören, aber zur Wirklichkeit Gottes, von der sie erzählt: „Vielleicht weil es gut ist, zu spüren: Mein Kind ist nicht nur ein Fall in einer Krankenakte. Mein Kind hat einen Namen und wir haben eine Geschichte, die man erzählen kann. Auch wenn sie nur ganz kurz war. Vielleicht auch, weil es wichtig ist, einen Ort zu haben, an dem die Trauer aufgehoben wird. So aufgehoben, dass man weiterleben kann. Einen Ort, an dem man den Schmerz ablegen und ...

Inhaltsverzeichnis

  1. Cover
  2. INHALT
  3. THEMA
  4. PROJEKT
  5. INTERVIEW
  6. PRAXIS
  7. SEELSORGE UND DIASPORA: BONIFATIUSWERK
  8. FORUM
  9. NACHLESE
  10. Buchbesprechungen
  11. Impressum
  12. POPKULTURBEUTEL