TEIL I
KONTEXTE
Schleiermachers Auseinandersetzung mit Kant
❶ Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher (1768–1834) wird als Philosoph kaum wahrgenommen. Mit dem schleichenden Abschied der hermeneutischen Philosophie hat Schleiermachers Philosophie, so scheint es, ihre Aktualität vollends eingebüßt. Daran haben auch die ungebrochene Präsenz Schleiermachers in der Theologie und alle editorischen Bemühungen im Zusammenhang mit der Kritischen Gesamtausgabe kaum etwas ändern können. Die Gründe dafür sind komplex. Dazu gehören sicher die bereits seit dem 19. Jahrhundert verbreitete Wahrnehmung, Schleiermacher sei eben doch in erster Linie Theologe, aber auch die mangelnde Aufmerksamkeit vieler in der akademischen Philosophie für die Resultate kritischer Editionen, die offenbar eher philologischen als philosophischen Bedürfnissen zugeordnet werden.1 Zudem haben scheinbare Nebenfiguren wie Schleiermacher in den Zeiten von Bologna nur wenig Chancen, im akademischen Studium der Philosophie Beachtung zu finden. Freilich ist auch Schleiermachers Philosophie alles andere als leicht zugänglich. Es gibt kein systematisch grundlegendes Hauptwerk, sondern nur einen Kosmos von Disziplinen, deren Gravitationszentrum schwer auszumachen ist und die Schleiermacher in immer neuen Anläufen bearbeitet, aber nicht in einer gültigen Gestalt hinterlassen hat. Überdies ist Schleiermacher ein ausgesprochener Selbstdenker: Er entwickelt sein philosophisches Denken weniger im Gespräch mit anderen als vielmehr im Selbstgespräch. Man kann sagen, dass Schleiermacher nach 1804, dem Antritt seiner Hallenser Professur, aus den zeitgenössischen philosophischen Debatten weitgehend aussteigt, obwohl er erst zu diesem Zeitpunkt damit beginnt, seine philosophischen Auffassungen in akademischen Vorlesungen umfassend darzustellen. Dies hat auch dazu geführt, dass Schleiermachers philosophischer Entwicklungsgang als ganz auf der Individualität und Einzigkeit Schleiermachers beruhend angesehen wurde.2
Nun soll nicht in Abrede gestellt werden, dass Schleiermacher ein origineller Denker ist; er ist dies jedoch nicht nur in Zeitgenossenschaft mit der, sondern auch auf dem Boden der nachkantischen Philosophie.3 Kant steht unübersehbar am Beginn seines philosophischen Bildungsganges. Schon als Student des »Seminariums« der Herrnhuter Brüdergemeine (1785–1787) hatte er Kant – dessen Schriften dort offiziell verboten waren – gelesen und mit Freunden darüber diskutiert (vgl. KGA V/1, XXVIII); in Halle, wo er nach seiner Glaubenskrise und dem Weggang von der Brüdergemeine von 1787 bis 1789 Theologie, vor allem aber Philosophie studierte, war Schleiermacher dann Hörer von Johann Heinrich Eberhard, dem Vertreter der Hallischen Schulphilosophie, der sich kritisch mit Kant auseinandersetzte, wobei Schleiermacher dieser Kritik nicht folgte. Nach Beendigung des Studiums im Mai 1789 siedelte Schleiermacher nach Drossen über, wo sein Onkel Samuel Ernst Timotheus Stubenrauch, vorher Rektor des reformierten Gymnasiums in Halle, der Schleiermacher schon während des Studiums in sein Haus aufgenommen hatte, inzwischen eine Landpfarre versah. In dieser Zeit entstanden seine ersten eigenständigen philosophischen Entwürfe, in denen vor allem zwei Themen im Vordergrund stehen: die Freiheitsproblematik und das Verhältnis von Philosophie und Religion. Für beide Themen ist die Auseinandersetzung mit Kant zentral;4 besonders die Freiheitsproblematik reflektiert aber auch das Zeitgeschehen. Schleiermachers erste große Abhandlung Über das höchste Gut, die er gegen Ende seiner Studienzeit verfasst, entsteht 1789, im Jahr der Französischen Revolution, die an seiner Philosophie nicht spurlos vorbei gegangen ist.5
❷ In seiner Abhandlung Über das höchste Gut (1789) schließt Schleiermacher sich in wesentlichen Punkten an Kant an. So verteidigt er die rein rationale Bestimmung des Sittengesetzes. Die Vernunft müsse »das, was bei der ganzen Sache sie unmittelbar angeht, auch allein und aus ihren eignen Mitteln in Richtigkeit bringen« (KGA I/1, 88); das höchste Gut ist daher »der vollkomne Inbegrif alles deßen was nach gewißen Regeln in einer gewißen Verfahrungsart nemlich der ungemischten rein rationalen zu erlangen möglich ist« (ebd., 90 f.). Verbindlichkeit für das praktische Verhalten der Menschen erhält das rein rationale Sittengesetz aber nicht unmittelbar, sondern erst dann, wenn der Wille »vermittelst subjektiver von dem Sittengesez abgeleiteter Bewegungsgründe durch dasselbe bestimmt werden kann« (KGA I/1, 100). Die Instanz, die reine praktische Vernunft und Empirie – d. h.: das Begehrungsvermögen – miteinander verbinde, sei das moralische Gefühl: »Sobald wir nemlich einsehn, daß das Sittengesez nicht anders als vermittelst des sich darauf beziehenden moralischen Gefühls auf unsern Willen wirksam seyn und denselben bestimmen kann, so wird es eine sich von selbst uns aufdringende Aufgabe, den praktischen Einfluß dieses Gefühls zu vermehren«; auf diese Weise »fließen Sitten und Glükseligkeitslehre zusammen« (KGA I/1, 124 f.).
Schleiermacher bestreitet demnach nicht die transzendentalphilosophische Grundlegung des Sittengesetzes, sondern nur eine nicht gelungene Vermittlung mit der Empirie. Seine überlieferten Notizen zur Kritik der praktischen Vernunft beginnen mit Kants Begriff der transzendentalen Freiheit und kreisen dann um das Problem, wie das Sittengesetz durch das Begehrungsvermögen zur Wirkung gebracht werden könne. Hierfür referiert er auf ein »Gefühl der Lust«, bestreitet aber Kants These, dass dadurch das oberste Prinzip der praktischen Philosophie empirisch ausfallen müsse (vgl. KGA I/1, 130 f.).6 Dies ist nach Schleiermacher dann nicht der Fall, wenn das Gefühl der Lust nur der Auslöser für das Begehrungsvermögen sei, tatsächlich etwas Nicht-Sinnliches zu begehren. Der Gehalt und die Form des Sittengesetzes seien dann nicht von der Empirie affiziert. Voraussetzung hierfür sei nur, »daß es ein Gefühl der Lust gebe, welches sich uneingeschränkt auf das Gesez und die Funktion desselben beziehe und diese Voraussezung ist uns im reinen Selbstbewußtseyn gegeben.« (KGA I/1, 130)
Da man weiß, welche zentrale Rolle das reine oder unmittelbare Selbstbewusstsein beim späteren Schleiermacher spielt, ist man vielleicht geneigt, diesen Passus theoretisch stark zu gewichten. Tatsächlich aber bleibt Schleiermacher hier jede Erläuterung dafür schuldig, wie in einem reinen Selbstbewusstsein ein nur auf das Sittengesetz bezogenes Gefühl liegen könne. Sein Versuch, den moral sense gegen Kant zu rechtfertigen, führt auch zu keiner Klärung des Problems. Wichtig ist vor allem die grundlegende Fragerichtung Schleiermachers: er sucht eine Vermittlung zwischen vernünftiger Willensbestimmung und empirischem Handeln, ohne die Selbstgesetzgebung, d. h. Freiheit der Vernunft, zu beschädigen. Die gesuchte Lösung muss sich daher im Spannungsfeld von Freiheit und Determinismus bewähren.
In einem ebenfalls auf 1789 zu datierenden Freiheitsgespräch versucht Schleiermacher, die Vermittlung durch Kants Konzept der Einbildungskraft zu erklären. Damit das Gefühl der Lust bzw. Unlust auf das Sittengesetz der Vernunft bezogen werden kann, bedarf es eines Vermögens, das zwischen Sinnlichkeit und Vernunfteinsicht vermittelt. Die Einbildungskraft zeichnet sich in dieser Hinsicht dadurch aus, dass sie »eine ganze Reihe« deutlicher Vorstellungen »in einen einzigen Augenblik zu vereinigen« weiß; »sie preßt sie gleichsam in einer leicht übersehbaren Form zusammen und bei dieser Operation entfließt denselben der herrlichste Saft der Wonne und des Entzükens« (KGA I/1, 156). Die Einbildungskraft, die Schleiermacher auf das Gefühl bezieht, ist hier so etwas wie ein Supplement der reinrationalen Erkenntnis in praktischer Absicht und hat damit die Funktion der »ästhetikologischen« Erkenntnis in der Hallischen Schulphilosophie seit Baumgarten. Im Gefühl wird die praktische Vernunft gleichsam auf ästhetischem Wege zugänglich und kann über Lust bzw. Unlust das Verhalten bestimmen: »Das Vermögen nach vernünftigen Gründen zu handeln heißt nichts anders als das Vermögen durch ein Gefühl von Lust bestimt zu werden welches durch die moralischen Ideen der Vernunft bewirkt« (KGA I/1, 160).
Schleiermachers Abhandlung Über die Freiheit (1790–92) führt die bisherigen Überlegungen zur Vermittlung von vernünftiger Willensbestimmung und Empirie zusammen. Die Untersuchung soll ausdrücklich »zu einer nähern Beleuchtung der Kantischen Freiheitstheorie« (KGA I/1, 120) hinführen, und zwar in einer Diskussionssituation, die nach Schleiermacher durch eine Unentschiedenheit zwischen der »deterministische[n] Auflösung der Leibniz Wolfischen Schule« und der Kantischen Philosophie gekennzeichnet sei (KGA I/1, 219). Schleiermacher setzt hierbei wieder an dem Begriff des Begehrungsvermögens an, den er – im Anschluss an Karl Leonhard Reinhold – auf den Begriff des Triebes zurückführen will (KGA I/1, 222 f.).7 Dem einzelnen Begehren kann dabei Instinkt oder auch Willkür zugrunde liegen; Instinkt, sofern der Trieb zu einer einzelnen Tätigkeit durch ein Objekt, Willkür, sofern er durch Vergleichung mehrerer Objekte bestimmt wird. Wichtig für Schleiermacher ist nun, dass der Mensch sich der Willkür bewusst ist: »Wenn ein Wille in einem Subjekt mit Vernunft verbunden ist und diese sich als Princip desselben ansieht, so entsteht praktische Vernunft, welche eine ihrer Natur gemäße Einheit in der Totalität der Maximen hervorzubringen strebt« (KGA I/1, 227). Hieraus ergibt sich aber noch keine Verbindlichkeit, d. h. Allgemeingültigkeit von Handlungen in moralischer Hinsicht, so dass man sich auch gar nicht »auf die Aeußerungen eines äußerst unbestimmten und verworrenen Gefühls von Freiheit« berufen könne, welche bloß subjektiv und jedesmal einer neuen Auslegung bedürftig blieben (KGA I/1, 228).
Ein allgemeingültiges Gesetz, auf das Vernunft zielt, ist nun aber nicht Gesetz des Begehrungsvermögens (Beweggrund, Triebfeder), sondern »das hypothetische Naturgesez der Vernunft für den Willen« und Maßstab für die Beurteilung des Subjekts durch die Vernunft (KGA I/1, 230). Das Gesetz – in diesem Falle das Sittengesetz – ist seiner Natur nach allgemein und bezieht sich daher nur auf Maximen, die vom Begehrungsvermögen als Wille befolgt werden sollen. Dieser Wille muss in sich weder gut noch böse sein, sondern auf jede Art von Maxime gehen können. Schleiermacher spricht hier von einer »natürliche[n] Unbestimmtheit des Willens«, die notwendig sei, »wenn das durch die Idee der Verbindlichkeit gedachte Verhältniß des Gesezes zum Begehrungsvermögen möglich seyn soll« (KGA I/1, 233). Das meint, dass Verbindlichkeit nur dort greifen kann, wo das Vernunftgesetz weder von vornherein unmöglich noch bloßes Naturgesetz ist. Die entscheidende Frage der Vermittlung ist damit aber noch nicht beantwortet, denn Schleiermacher geht weiterhin davon aus, dass das Sittengesetz einen unmittelbaren Einfluss auf das Begehrungsvermögen nicht haben könne: »Dazu gehört ein Gefühl und vermittelst desselben ein Trieb, der sich unmittelbar und allein auf die praktische Vernunft bezieht und sie gleichsam im Begehrungsvermögen repräsentirt […] Auf dem Daseyn dieses Triebes beruht die ganze Möglichkeit der Idee von Verbindlichkeit, denn er ist es allein, wodurch die Vernunft mit dem Begehrungsvermögen zusammenhängt. In den ehemaligen Moralsistemen nannte man ihn moralischen Sinn; in den neueren heißt er Achtung fürs moralische Gesez« (ebd.).8
Die zentrale Rolle des Begehrungsvermögens ergibt sich für Schleiermacher auch daraus, dass für ihn alle Vermögen in der lebendigen Einheit des Individuums zu betrachten sind: »es ist umsonst den Menschen zu theilen, alles hängt an ihm zusammen, alles ist eins« (KGA I/1, 241). Das bedeutet aber auch, dass die Determiniertheit unserer Handlungen und unseres Seins durch Naturbedingungen dem dunklen Freiheitsgefühl ebenso wie der Idee sittlicher Autonomie in der praktischen Vernunft unvermittelt entgegensteht. Beides muss miteinander in Einklang gebracht werden, und Schleiermacher versucht dies nun von Seiten des Determinismus; er lasse sich, so Schleiermacher, »den Namen eines Deterministen gefallen, wenn man ihm nur verspricht, daß man ihm keinen Satz irgend eines Deterministen unterschieben wolle, wenn er nicht deutlich in dem, was er selbst gesagt hat und noch sagen wird enthalten ist.« (KGA I/1, 244)
Im Mittelpunkt seines Versuchs steht die Frage nach der Zurechnung von Handlungen, denn nach geläufiger Auffassung setzt Zurechenbarkeit einen freien Willen voraus. Auch Kant hatte die Möglichkeit der Zurechnung von der Geltung der transzendentalen Freiheit abhängig gemacht, »welche als Unabhängigkeit von allem Empirischen und also von der Natur überhaupt gedacht werden muß«,9 wenn er auch nicht der Ansicht war, die natürliche Determiniertheit einzelner Handlungen schließe diese Freiheit per se aus. In der letzteren Auffassung folgt ihm Schleiermacher. Nach ihm geht die Zurechnung nicht auf einzelne Handlungen oder Handlungssequenzen, denen ein freier Wille als Ursache unterstellt wird; vielmehr muss die Zurechnung im Blick auf das im höchsten Gut vorausgesetzte Sittengesetz der reinen Vernunft erfolgen, wobei die handelnde Person im Ganzen als Urheber der einzelnen Handlung anzusehen und zu bewerten ist. Die Zurechnung wertet nicht die einze...