1Falsche Freunde: Zwänge und ihre Tricks erkennen
LEONIE, 12Ich habe seit ungefähr zwei Jahren eine Zwangserkrankung. Es ging los, als unsere Nachbarin meiner Mutter erzählte, dass sie im Urlaub im Hotel eine Salmonellenvergiftung* bekommen hatte, wahrscheinlich durch einen Salat mit Mayonnaise. Meine Mutter hatte mir zwar erklärt, dass so eine Vergiftung unangenehm, aber normalerweise nicht gefährlich ist und dass die Lebensmittel normalerweise sauber sind und richtig aufbewahrt werden, aber ich bekam immer mehr Angst, mich und meine Familie mit Salmonellen anzustecken. Ich esse möglichst nichts mit Eiern oder Mayonnaise, wasche mir andauernd die Hände, dusche zweimal am Tag und versuche, keine Sachen anzufassen, die von vielen angefasst werden.
Ich weiß mittlerweile, dass es viele Kinder mit einer Zwangserkrankung gibt. Ich möchte gern von meinen Zwängen erzählen und was ich dagegen gemacht habe. Wäre schön, wenn es anderen hilft, auch etwas gegen ihre Zwänge zu machen! x
BEN, 15Ich habe auch Zwänge. Wenn mir etwas Schlimmes in den Kopf kommt, muss ich die Sache, die ich gerade mache, immer noch mal machen. Sonst habe ich Angst, dass das Schlimme tatsächlich passiert und ich daran schuld bin. Ein Beispiel: Wenn ich gerade beim Anziehen bin und im Radio von einem Verkehrsunfall höre, habe ich sofort Angst, dass meine Mutter auch einen Verkehrsunfall haben könnte. Dann muss ich meine Kleidung dreimal an- und ausziehen und mir meine Mutter vorstellen, wie sie fröhlich und gesund ist. Die Drei ist für mich eine gute Zahl, weiß auch nicht, warum. Wenn ich alles dreimal gemacht habe, habe ich ein gutes Gefühl. Ich darf dann bloß nicht wieder an den Unfall denken, denn sonst geht alles wieder von vorne los. Einerseits denke ich, dass das Unsinn ist, andererseits fürchte ich aber doch, dass was dran sein könnte. Meine Therapeutin meint, dass solche Zwänge gar nicht so selten sind, und hat mich gefragt, ob ich davon erzählen würde. Das will ich gern machen. x
1.1 Was sind Zwänge und welche gibt es?
Eine Zwangserkrankung ist eine Krankheit, bei der man andauernd Dinge denken muss (nämlich Zwangsgedanken) oder machen muss (Zwangshandlungen), die man nicht denken oder machen möchte, denn man ist sich eigentlich ziemlich sicher, dass sie Quatsch sind. Trotzdem kann man sich nur schwer oder gar nicht dagegen wehren, diese Dinge zu denken oder zu tun. Die Vernunft in einem selbst kann sich gewissermaßen nicht richtig durchsetzen. Das ist ein wichtiges Merkmal dieser Krankheit: Man ist sich sicher (oder wenigstens ziemlich sicher), dass es Unsinn ist, diese Dinge zu denken oder zu machen, und man versucht, Widerstand zu leisten, schafft es aber nur selten.
Meistens besteht eine Zwangserkrankung aus Zwangsgedanken und Zwangshandlungen. Manchmal hat jemand auch nur eines von beiden, entweder nur Zwangsgedanken oder nur Zwangshandlungen.
Zwangsgedanken Das sind Gedanken oder Bilder, die einem immer wieder in den Kopf kommen. Man kann sie nur sehr schwer oder auch gar nicht zur Seite schieben. Sie sind sehr aufdringlich, und man findet sie blöd, sinnlos oder sogar scheußlich. Wichtig zu wissen ist, dass Zwangsgedanken nichts über die eigene Meinung sagen. Oft haben die Betroffenen ein schlechtes Gewissen und Schuldgefühle, sie verspüren Ekel, fühlen sich ängstlich oder traurig, weil sie denken, dass man solche Gedanken nicht haben sollte. Wenn Ben im Radio von einem Unfall hört, sieht er automatisch seine Mutter, die verwundet in einem zerquetschten Auto liegt. Das bedeutet aber nicht, dass Ben sich das wünscht. Im Gegenteil, Ben machen diese Gedanken Angst, und er fühlt sich schuldig, weil er diese Bilder im Kopf hat.
Auch der Körper reagiert häufig: Viele Menschen werden angespannt, wenn sie Zwangsgedanken haben, sie schwitzen, haben Herzklopfen, einen trockenen Mund oder andere Körperreaktionen. Wie Leonie, die ständig denkt, dass überall gefährliche Salmonellen sind, mit denen sie sich oder ihre Familie anstecken könnte. Sie weiß, dass das Unsinn ist und dass man nicht so leicht Salmonellen bekommt. Trotzdem macht ihr die Vorstellung Angst, sie bekommt Herzklopfen davon und ist ganz verkrampft.
Zwangshandlungen Das sind Handlungen, die übertrieben oder sogar sinnlos sind, die man aber trotzdem machen muss. Man möchte sie nicht machen,
aber es ist ganz schwer oder sogar unmöglich, sich dagegen zu wehren. Denn die Zwangshandlungen helfen häufig, dass die schlechten Gefühle, die mit den Zwangsgedanken kommen, verschwinden oder weniger werden. Sie sind dann eine Art »Hilfe« gegen die schlechten Gefühle, die die Zwangsgedanken auslösen: Wenn man etwas Bestimmtes tut, nehmen Angst oder Ekel ab und etwas Schlimmes tritt nicht ein. Oft müssen die Zwangshandlungen in einer ganz bestimmten Art und Weise ausgeführt werden – wie ein Ritual. Wehe, man wird dabei gestört, dann muss man wieder von vorn anfangen so wie Leonie.
LEONIEMeine Hände muss ich auf eine ganz bestimmte Weise waschen. Das läuft immer gleich ab. Erst die ganzen Hände mit Seife, dann die einzelnen Finger nach einem bestimmten System, jeden Finger zehnmal. Dann noch mal die ganze Hand. Dann erst bin ich ziemlich sicher, dass ich keine Stelle vergessen habe, die mit Bakterien in Kontakt gekommen sein könnte. Meine Hände sind schon ganz kaputt und rissig, obwohl ich sie gut eincreme. Neulich bollerte meine große Schwester an die Badezimmertür, weil sie vorm Ausgehen duschen wollte. Ich bin richtig ausgerastet, habe sie angeschrien und beschimpft, obwohl ich sonst gar nicht so bin. Hinterher tat es mir dann sehr leid. x
Wie man bei Leonies Beschreibung schon ahnt: Zwänge kosten viel Zeit, mindestens eine Stunde oder mehr pro Tag, sonst spricht man nicht von einer Krankheit, sondern eher von Eigenarten. Und Zwänge machen einem das Leben schwer: Zum Beispiel kommt man ihretwegen in der Schule nicht mehr so gut mit. Oder man hat keine Zeit mehr für Verabredungen, Sport oder andere Hobbys. Oft leidet man nicht nur selbst unter der Erkrankung, sondern die Eltern und Geschwister fühlen sich auch beeinträchtigt. Es gibt viel Streit zu Hause.
Alles kann durch eine Zwangserkrankung beeinträchtigt sein. Deswegen versuchen viele auch, Auslösern für Zwänge aus dem Weg zu gehen. In der Fachsprache spricht man dann von Vermeidung. Leonie z. B. wartet oft vor öffentlichen Türen, bis jemand anderes sie aufmacht. Dann geht sie schnell hinterher und vermeidet es so, die Türklinke anzufassen. Auf öffentliche Toiletten geht sie fast gar nicht mehr, und damit das klappt, trinkt sie nur wenig. Ben hat früher gern Abenteuerbücher gelesen. Das vermeidet er seit seiner Zwangserkrankung. Auch schaut er kaum noch Filme, was er sehr bedauert. Aber in Büchern oder Filmen kommt fast immer etwas vor, was bei ihm Zwangsgedanken auslöst. Und dann muss er immer wieder positive Gegenbilder finden und Sachen noch mal machen, bis er beruhigt ist und ein gutes Gefühl hat.
Sehr häufig werden auch andere Familienmitglieder in die Erkrankung einbezogen. Bei Leonie hilft ihre Mutter, alles sauber zu machen, wo Salmonellen dran sein könnten. Ihre Mutter ist die Einzige, der Leonie zutraut, die Sachen richtig sauber zu machen. Die Mutter macht das überhaupt nicht gern, weil sie das Gefühl hat, dass sie damit Leonies Zwang unterstützt. Außerdem merkt sie, wie Leonie schon nach kurzer Zeit wieder Angst hat, sich anzustecken, denn jemand könnte inzwischen die Sachen wieder angefasst haben. Gleichzeitig si...