Unliebsame Zeitgenossen kennen- und schätzen lernen
Sie schämen sich oder haben Schuldgefühle? Herzlichen Glückwunsch! Sie erfüllen damit eine der wichtigsten Voraussetzungen, um mit Ihren Mitmenschen grundsätzlich gut zurechtzukommen. Sie haben außerdem das Potenzial, sich persönlich weiterzuentwickeln.
Sie sind überrascht? Vermutlich haben Sie das Buch in der Hand, weil Sie im Umgang mit Scham oder Schuld immer wieder an Ihre Grenzen stoßen. Vielleicht kommen Sie gar nicht gut zurecht, schon gar nicht mit anderen Menschen. Vielleicht setzen Ihnen auch die ewigen Verantwortungsverweigerer und scheinbar schuld- und schambefreiten Menschen im Alltag mächtig zu.
Formulieren Sie hier ganz spontan und in Stichworten Ihre Themen in Bezug auf Scham und Schuld:
Meine Themen mit Scham und Schuld sind:
Wann melden sich die Themen in meinem Alltag?
Sie haben vielleicht schon ein paar Worte für Ihre Schwierigkeiten mit Scham und Schuld gefunden. Wenn nicht, möchten wir Sie bitten, es noch mal mit folgender Anregung zu probieren:
Versprechen Sie sich selbst, mindestens fünf Minuten an den Übungen zu arbeiten. Sie können sich dafür einen Aspekt aussuchen oder nur die Fragen beantworten, die Sie ansprechen. Allerdings ist es wichtig, sich keine Ablenkungen oder Gedanken an Lustlosigkeit zu erlauben. Nach fünf Minuten ziehen Sie Bilanz. Macht die Übung Spaß, bringt sie neue Erkenntnisse, dann bleiben Sie dran. Will sie nicht richtig gelingen, vertagen Sie die Übung. Vielleicht brauchen Sie noch etwas Zeit oder mehr Wissen.
Wir haben mit diesem Vorschlag von MÜLLER-BRAUNSCHWEIG und STILLER (2010) in Therapien gute Erfahrungen gemacht. Deshalb haben wir viele kleine Aufgaben und Übungen, die Ihnen helfen können, sich mit den eigenen Scham- und Schuldthemen auseinanderzusetzen, mit dieser Uhr versehen.
Der »kleine Ballon« vor einigen Abschnitten lädt Sie ein, mal ganz anders und vielleicht überraschend auf Scham und Schuld zu schauen. Niemand zwingt uns, einen Ballon festzuhalten. Wir können ihn einfach loslassen oder weitergeben oder mit einer Nadel und einem Knall platzen lassen. So kann es auch in der Arbeit mit den Emotionen Scham und Schuld gehen. Auch unsere symbolischen Ballons sind für Überraschungen gut.
Doch bevor es an die Arbeit geht, wollen wir für die beiden bislang unliebsamen Zeitgenossen Scham und Schuld ein bisschen Werbung machen, um Ihnen ihre sinnvollen und hilfreichen Seiten zu verdeutlichen. Widmen wir uns zunächst den guten Nachrichten, ehe es an die Arbeit geht. Aus unserer therapeutischen Arbeit wissen wir, wenn das Ziel klarer ist, lassen sich notwendige Veränderungen viel leichter angehen. Deshalb einige wichtige Informationen vorab.
Scham und Schuld machen Sinn
Scham und Schuld treten meist im Kontakt mit anderen Menschen auf. Daher werden sie auch als soziale Emotionen bezeichnet.
Natürlich kann ich mich auch alleine vor mir selbst schämen und mich mit Schuldgedanken beschäftigen. Das Besondere daran ist jedoch, dass ich mir oft ganz unbewusst dabei vorstelle, wie andere über mich denken oder gar reden würden. Ich meine zu wissen, wie andere mich und mein Verhalten bewerten. Wir versuchen, uns im Alltag ganz automatisch so zu verhalten, dass die Emotionen gar nicht erst entstehen können – beziehungsweise nur als von außen nicht wahrnehmbares Hintergrundprogramm ablaufen.
Werte, Normen und Regeln zu kennen, hilft, Scham und Schuld zu vermeiden.
Gesellschaften brauchen verbindliche Normen und die damit verbundene Ablehnung sozialer Verhaltensweisen, derer man sich zu schämen hat, wie etwa Egoismus, Dominanz, autodestruktive Aggressionen oder Freiheitsbeschränkung einzelner Gruppenmitglieder. Normen sichern den sozialen Frieden, den eine Gesellschaft für ihre Fortexistenz benötigt. Mitglieder einer Gemeinschaft erlernen diese Werte, Normen und Regeln bereits in der Kindheit.
Der soziale Charakter von Scham und Schuld führt dazu, dass wir diese Emotionen häufig erleben, denn wir sind soziale Wesen. Manchmal reicht die Erinnerung an bestimmte Situationen, um die Emotionen wieder spürbar zu machen. Ähnlich wie bei Stolz oder Mitleid oder Neid. Diesen komplexen Emotionen gemeinsam ist ein verwobenes Netz von Gedanken, welches Wissen über sich und die Welt, deren Regeln und Normen, Erinnerungen und frühere Erfahrungen, Bewertungen, Körperempfindungen, Handlungsimpulse und vieles mehr enthält.
Die soziale Funktion der Scham wird auch beim sogenannten »Fremdschämen« deutlich. Jeder von uns hat sich schon im Alltag oder in einer dieser bloßstellenden Talkshows für jemanden stellvertretend geschämt. Dazu benötigen wir eine große Portion Einfühlungsvermögen, auch Empathie genannt (siehe das Kapitel ). Es beruht unter anderem auf tief verinnerlichten Werten, Normen und Regeln. Fremdschämen oder uns stellvertretend schuldig fühlen können wir, weil wir denken, dass für die Person, die wir beobachten, dieselben Regeln, Werte und Normen gelten wie für uns und sie genauso fühlt wie wir. Werden Schuld und Scham im sozialen Zusammenhang mit Empathie und Mitgefühl verstanden, so verlieren sie ihren Schrecken.
Wie jede andere Emotion stellen Scham und Schuld sozusagen situationsbezogene »Antworten« des Organismus auf bestimmte Reize, Erfahrungen oder auch Gedanken dar. Unser Körper kann uns keinen Brief schreiben, er hat nur bestimmte Möglichkeiten, uns Signale zu senden. Emotionen sind Signale (vgl. das Kapitel ).
Die Emotion Freude signalisiert uns zum Beispiel, dass uns ein nettes Gespräch mit dem Nachbarn gutgetan hat. Ärger zeigt uns, dass wir es nicht okay finden, wenn uns jemand den Parkplatz vor der Nase wegschnappt. Die Traurigkeit, die uns überkommt, wenn wir verlassen worden sind, verdeutlicht, wie wichtig der andere Mensch für uns war. Schuld zeigt, dass wir wissen und bedauern, dass durch unser Verhalten Schaden beim Gegenüber entstanden ist. Scham ist Ausdruck dafür, dass wir uns anders zeigen, als wir es für uns wünschen oder es von uns erwartet wird.
Die Palette möglicher Emotionen ist groß (vgl. die Emotionsliste im Anhang, S. ). Emotionen treten schnell auf, sind gut spürbar und klingen zeitnah wieder ab, insbesondere wenn wir sie erkennen und etwas dafür tun können. Bei Schuld hat sich im Alltag eine Entschuldigung oder eine kleine Wiedergutmachung als entlastend bewiesen. Scham kann weniger werden, wenn wir uns wohlwollend vornehmen, kleine Entwicklungsschritte zu gehen, an denen wir reifen.
Scham und Schuld, die zeitlich befristet und im Zuge bestimmter Ereignisse oder Erlebnisse entstehen, sind ein Ausdruck von Gesundheit.
Die guten Seiten von Scham und Schuld
Scham und Schuld begleiten uns alltäglich bei allen Kontakten mit anderen Menschen, auch wenn uns das nicht immer bewusst ist. Da diese Emotionen unangenehme Zeitgenossen sind, versuchen wir, uns in der Regel so zu verhalten, dass wir diese Emotionen so selten wie möglich zu spüren bekommen. Das zeigt sich zum Beispiel darin, dass wir uns Konsequenzen unseres Handelns überlegen, korrekte Kleidung ...