1 Was ist eine Zwangsstörung?
Sie kennen sicher die Situation, dass Sie an einem Tag aus dem Haus gegangen sind und überlegen mussten: Habe ich die Tür abgeschlossen oder nicht? Eigentlich wissen Sie ganz genau, dass Sie abgeschlossen haben, aber zur Sicherheit kehren Sie noch einmal um und kontrollieren. Oder gehören Sie vielleicht zu den Leuten, die es gern sehr sauber haben? Bei denen man fast vom Fußboden essen kann, bei denen es immer aufgeräumt ist? Pingelig finden das manche Freunde. Andere beneiden Sie darum. Und kennen Sie nicht auch mindestens einen Menschen, der schlecht Dinge wegwerfen kann? Eine frühere Nachbarin zum Beispiel hatte fünf komplette Service. Sie benutzte immer ein Alltagsgeschirr und das gute weiße mit den zarten blauen Blumen nur, wenn Besuch kam. Der Schrank war voll bis oben hin mit Geschirr, das hässliche gelbe hatte sie ganz nach hinten gestellt. Aber wegschmeißen?! Nein, lieber nicht. Sie selbst sagte von sich: »Ich kann mich schwer von Sachen trennen.« Und wer hat nicht zumindest ein bisschen ein mulmiges Gefühl, wenn Freitag der 13. ist? Viele Menschen verschieben wichtige Dinge lieber auf einen anderen Tag, nach dem Motto: Eigentlich ist es Quatsch, aber es kann ja nicht schaden, wenn ich meinen Termin auf einen anderen Tag lege.
Das sind Beispiele aus dem Alltag, die fast alle von uns so oder ähnlich kennen. Man hat so seine Einstellungen und seine Gewohnheiten. Manchmal sind diese Gewohnheiten vielleicht ein bisschen übertrieben, »pingelig« oder auch »schrullig«. Manche Menschen bekommen ein bisschen »Angst« vor solchen Marotten, andere ärgern sich darüber oder machen sich über sich selbst lustig wie der Segelbootsbesitzer, der sein Boot »Freitag der Dreizehnte« nannte und den Rumpf auch noch schwarz anstrich. Aber meistens leiden diejenigen, die diese Angewohnheiten haben, nur wenig oder nur manchmal darunter. Beispiele für Zwänge sind diese Einstellungen und Gewohnheiten nicht.
Aber wann spricht man nun von einer Zwangsstörung? Diese und weitere Fragen sollen in den folgenden Abschnitten beantwortet werden:
- Wann spricht man von einer Zwangsstörung? ()
- Welche Zwänge gibt es? ()
- Wie kann man Zwangssymptome von normalem Verhalten unterscheiden? ()
- Zwang, Magie und Religion ()
- Wie kann man Zwänge von ähnlichen Krankheiten unterscheiden? ()
- Noch mal das Wesentliche! ()
1.1 Wann spricht man von einer Zwangsstörung?
Von einer Zwangserkrankung spricht man dann, wenn bestimmte Gedanken oder Handlungen nicht mehr eine lieb gewordene oder Sicherheit gebende Gewohnheit sind, sondern das Leben des Betroffenen und schließlich auch seiner Angehörigen immer mehr beeinträchtigen. Eine Zwangserkrankung kann aus Zwangsgedanken, Zwangshandlungen oder aus einer Mischung von beidem bestehen.
Zwangsgedanken sind Bilder, Gedanken oder Impulse, die immer wieder auftauchen. Sie lassen sich kaum ignorieren oder unterdrücken, sondern kommen Ihnen immer wieder spontan und gegen Ihren Willen in den Sinn. Ein wichtiges Merkmal von
Zwangsgedanken ist, dass sie nicht Ihre wirkliche Meinung widerspiegeln. Sie erscheinen Ihnen fremd, Sie können sie sogar abscheulich oder abstoßend finden. Zwangsgedanken haben eine unangenehme Wirkung, sie können Angst oder Unbehagen, Anspannung oder auch Ekel bewirken.
Frau Andresen zum Beispiel litt unter den Zwangsgedanken, dass sie anderen einen Schaden zugefügt haben könnte. Wenn sie mit ihrer Familie beim Abendessen saß, drängte sich ihr plötzlich die Befürchtung auf, dass durch ihre Schuld Glassplitter ins Essen gekommen sein könnten und ihre Kinder davon krank werden oder sterben würden. Sie wusste einerseits, dass sie gut aufgepasst hatte, aber andererseits ließ sie diese Befürchtung nicht los. Den ganzen Abend nicht, obwohl Frau Andresen versuchte, sich durch Fernsehen abzulenken. Ihr Mann versuchte zwar immer, sie zu beruhigen, dass da keine Splitter im Essen waren, aber das nützte nichts. Sie war furchtbar angespannt, hatte Angst und konnte lange nicht einschlafen.
Neben den Zwangsgedanken von Frau Andresen gibt es noch viele andere Arten von Zwangsgedanken (s. Kap. ). Die wichtigsten Merkmale von Zwangsgedanken können Sie noch mal im Kästchen nachlesen.
Merkmale von Zwangsgedanken
- kommen immer wieder
- sind aufdringlich, lassen sich nicht unterdrücken
- geben nicht die eigene Meinung wieder, erscheinen persönlichkeitsfremd oder abscheulich
- machen Angst, lösen Unbehagen, Anspannung, Ekel aus
Zwangshandlungen sind Verhaltensweisen, Handlungen oder auch Rituale, die Sie tun »müssen«, immer wieder und wieder. Sie fühlen sich gewissermaßen dazu gezwungen, obwohl Sie die Handlung im Nachhinein als übertrieben und sinnlos ansehen. Wenn Sie versuchen zu widerstehen, merken Sie, wie schwer das ist. Zwangshandlungen haben eine wichtige Funktion: Sie sollen Katastrophen verhindern und unangenehme Gefühle wie Angst, Ekel, Traurigkeit, Leere oder Schuldgefühle verringern. Hierzu wieder ein Beispiel:
Herr Braun war Angestellter bei einer Elektrofirma. Jeden Morgen, wenn er das Haus verließ, kontrollierte er, ob die Kaffeemaschine und der Herd ausgeschaltet waren, ob das Badezimmerfenster zu war, ob das Licht aus war und schließlich, ob er die Haustür ordentlich zugeschlossen hatte. Das ist doch vernünftig, könnte man denken. Ja, ist es an sich auch, aber bei Herrn Braun war die Kontrolle deutlich übertrieben. Das wusste er auch, aber er konnte trotzdem sein Verhalten nicht ändern. Er hatte irgendwie doch Angst, dass ein Feuer ausbricht, weil Geräte oder Lampen nicht ordentlich ausgeschaltet sind, dass ein Einbrecher durch das Badezimmerfenster oder die offene Haustür kommt und die Wohnung verwüstet. Und er wäre dann schuld daran. Er hatte ein genaues Ritual, dass er jeden Morgen auf die gleiche Weise ausführte. Bei der Kaffeemaschine zog er den Stecker raus. Er musste den Stecker dreimal anfassen und dann »Stecker ist draußen« sagen. Beim Herd musste er alle Schalter einzeln gründlich ansehen, dann jeden anfassen und »Aus« sagen. Dann musste er noch mal jeden Schalter einzeln und gründlich ansehen. Und das, obwohl der Herd morgens gar nicht benutzt worden war. So ging es weiter in der Wohnung und dann an der Haustür. Insgesamt brauchte Herr Braun über eine Stunde, bis er endlich fertig war. Er schimpfte mit sich, dass er so was Übertriebenes machen musste, aber er konnte nicht anders. Das Problem mit dem Kontrollieren hatte angefangen, als seine Frau einen neuen Job angenommen hatte. Seitdem musste sie morgens ganz früh aus dem Haus. Bei dem alten Job hatte sie immer erst um zehn Uhr angefangen. Wenn er um sieben Uhr aus dem Haus ging, hatte er gedacht: »Wenn ich die Kaffeemaschine nicht ordentlich ausgemacht habe, wird meine F...