
- German
- ePUB (handyfreundlich)
- Über iOS und Android verfügbar
eBook - ePub
Über dieses Buch
Menschen mit einer Borderline-Persönlichkeitsstörung sind für Außenstehende schwer zu verstehen. Ihr Verhalten wirkt »verrückt«, löst Befremden aus und macht Angehörigen und Freunden Angst. Dagegen hilft nur ein besseres Verständnis. Und das schafft dieses Buch: Zwanzig Menschen mit Borderline-Erfahrung, Betroffene und Angehörige, schreiben über ihr Erleben, über ihre Gefühle, über ihren Umgang mit sich und anderen. Dieses Buch ist eine Chance, denn die Texte schaffen Verständnis zwischen Betroffenen und Angehörigen. Und sie machen Hoffnung: Denn sie zeigen, dass Veränderungen möglich sind und dass es gelingen kann, eine neue Haltung sich selbst gegenüber zu gewinnen und liebevoller mit sich, seiner Familie und seinen Freunden umzugehen.
Häufig gestellte Fragen
Ja, du kannst dein Abo jederzeit über den Tab Abo in deinen Kontoeinstellungen auf der Perlego-Website kündigen. Dein Abo bleibt bis zum Ende deines aktuellen Abrechnungszeitraums aktiv. Erfahre, wie du dein Abo kündigen kannst.
Derzeit stehen all unsere auf mobile Endgeräte reagierenden ePub-Bücher zum Download über die App zur Verfügung. Die meisten unserer PDFs stehen ebenfalls zum Download bereit; wir arbeiten daran, auch die übrigen PDFs zum Download anzubieten, bei denen dies aktuell noch nicht möglich ist. Weitere Informationen hier.
Perlego bietet zwei Pläne an: Elementar and Erweitert
- Elementar ist ideal für Lernende und Interessierte, die gerne eine Vielzahl von Themen erkunden. Greife auf die Elementar-Bibliothek mit über 800.000 professionellen Titeln und Bestsellern aus den Bereichen Wirtschaft, Persönlichkeitsentwicklung und Geisteswissenschaften zu. Mit unbegrenzter Lesezeit und Standard-Vorlesefunktion.
- Erweitert: Perfekt für Fortgeschrittene Studenten und Akademiker, die uneingeschränkten Zugriff benötigen. Schalte über 1,4 Mio. Bücher in Hunderten von Fachgebieten frei. Der Erweitert-Plan enthält außerdem fortgeschrittene Funktionen wie Premium Read Aloud und Research Assistant.
Wir sind ein Online-Abodienst für Lehrbücher, bei dem du für weniger als den Preis eines einzelnen Buches pro Monat Zugang zu einer ganzen Online-Bibliothek erhältst. Mit über 1 Million Büchern zu über 1.000 verschiedenen Themen haben wir bestimmt alles, was du brauchst! Weitere Informationen hier.
Achte auf das Symbol zum Vorlesen in deinem nächsten Buch, um zu sehen, ob du es dir auch anhören kannst. Bei diesem Tool wird dir Text laut vorgelesen, wobei der Text beim Vorlesen auch grafisch hervorgehoben wird. Du kannst das Vorlesen jederzeit anhalten, beschleunigen und verlangsamen. Weitere Informationen hier.
Ja! Du kannst die Perlego-App sowohl auf iOS- als auch auf Android-Geräten verwenden, um jederzeit und überall zu lesen – sogar offline. Perfekt für den Weg zur Arbeit oder wenn du unterwegs bist.
Bitte beachte, dass wir keine Geräte unterstützen können, die mit iOS 13 oder Android 7 oder früheren Versionen laufen. Lerne mehr über die Nutzung der App.
Bitte beachte, dass wir keine Geräte unterstützen können, die mit iOS 13 oder Android 7 oder früheren Versionen laufen. Lerne mehr über die Nutzung der App.
Ja, du hast Zugang zu Leben auf der Grenze von Andreas Knuf im PDF- und/oder ePub-Format. Aus unserem Katalog stehen dir über 1 Million Bücher zur Verfügung.
Information
Jahr
2014eBook-ISBN:
9783867398022Auflage
3Der Weg ins autonome Leben
Der Anfang
Das erste Mal kam ich nach einer Fehlgeburt in die Psychiatrie. Ich hatte auf diese Fehlgeburt so stark reagiert, dass die Ärzte mich direkt in eine psychiatrische Klinik verlegen wollten. Damit war ich nicht einverstanden. Durch eine befreundete Ärztin wusste ich von einer psychologisch-medizinischen Station in einem Allgemeinkrankenhaus, in das ich stattdessen gehen wollte. Das heißt, eigentlich wollte ich überhaupt nicht gehen.
Psychiatrie?
Nein, das hatte ich wirklich nicht nötig. Außerdem war ich Mitglied einer Freikirche – und da hieß es: Man muss nur beten, dann wird Gott alles so machen, wie es sein soll. Demnach brauchte ich in gar keine Klinik.
Nachdem die Ärzte mir aber mit einer Zwangseinweisung drohten, entschloss ich mich, »freiwillig« in die Klinik zu gehen. Ich dachte: Wenn ich freiwillig reingehe, dann kann ich auch freiwillig wieder rausgehen. Ich war also quasi »freiwillig-gezwungen« dort – das war allerdings keine gute Basis für eine Therapie.
In der Klinik angekommen, konnte ich den Ärzten und Psychologen dort erst mal etwas vorspielen. Das hatte ich in meinem Leben nur allzu gut trainiert. Ich brachte eine Menge Medikamente mit und versteckte sie in einer Süßstoffdose. Diese Medikamente (überwiegend Valium) hatte ich zu Hause lange Zeit in großen Mengen von meinem relativ gleichgültigen Hausarzt bekommen – und später dann auch über den Schwarzmarkt besorgt. Mir war klar, dass ich diese Medikamente in der Klinik nicht haben und nehmen durfte, aber ich war sehr geschickt. Bei der Aufnahme gab ich an, dass ich einige Medikamente von zu Hause bei mir hätte, und fragte ganz naiv (natürlich mit Berechnung), ob ich diese abgeben müsse. Das musste ich natürlich, aber dadurch wurde bei mir nicht weiter nach Medikamenten gefragt.
So kam ich in der ersten Zeit in der Klinik ganz gut über die Runden. Die Ärzte meinten, dass es mir gar nicht so schlecht ginge, wie sie im Vorfeld gehört hatten – und dass es sich nur um eine reaktive Depression handele. Dann kam der Zeitpunkt, an dem mir die Medikamente ausgingen. Zwar hatte ich inzwischen von Mitpatienten Medikamente gesammelt, aber die meisten davon kannte ich nicht. Als ich diese Medikamente einnahm, hatte ich kein Maß für sie. Da ich schon das Valium in großen Mengen genommen hatte, schluckte ich auch die neuen Medikamente in großen Mengen. Schließlich sollten sie ja auch wirken. Das Ganze fiel jedoch auf, da ich danach durch den Flur schwankte. Der Arzt sah mich und fragte, was ich genommen hätte. Da ich über alles genau Buch geführt hatte, erfuhr der Arzt sehr genau, um welche Medikamente in welchen Dosierungen es sich handelte. Damit wusste er auch, wie stark ich von Medikamenten abhängig war, zumal bei so einer Menge von Medikamenten jeder »normale« Mensch, laut Aussage des Arztes, mindestens drei Tage geschlafen hätte. Doch ich spazierte über den Flur – wenn auch schwankend.
Es wird ernst
Nach diesem Zwischenfall wurde es ernster mit der Therapie. Ich bekam häufigere Gespräche bei dem Psychologen und eine Verlängerung auf Grund der neuen Problematik.
Ich wollte und konnte mich dem Arzt und dem Psychologen anfangs nicht mitteilen und war auch nicht in der Lage zu sagen, was wirklich mit mir los war. Mit dem Arzt hatte ich mich sogar mehrmals gestritten. Aber der Psychologe war irgendwie anders. Bei ihm sollte ich in einer Gruppensitzung am autogenen Training teilnehmen. Das konnte ich jedoch auf Grund meiner damaligen Mitgliedschaft in der freikirchlichen Gemeinde nicht, denn so was war in den Augen unserer Prediger satanisch.
Trotzdem ließ ich mich nach einiger Zeit darauf ein. Ich hatte erwartet, dass ich nun auch mit dem Psychologen Probleme bekäme. Aber er ging die ganze Situation ruhig und gelassen an. Er setzte mich in keiner Weise unter Druck. So bekam ich mit der Zeit doch ein gewisses Vertrauen und versuchte mich Stück für Stück darauf einzulassen. Es fiel mir anfangs nicht leicht und ich brauchte eine ganze Weile, ehe ich wirklich richtig mitmachen konnte, aber am Ende haben mir gerade das Autogene Training und die Autosuggestion (gesteigerte Form des Autogenen Trainings) sehr geholfen.
Am faszinierendsten aber war es zu sehen, wie der Psychologe mit mir umging. Er war geduldig mit mir – was ich selbst nicht sein konnte. Und er war verständnisvoll, ließ mir meinen Freiraum und machte mir in keiner Weise Druck.
Nun stand natürlich das Thema Medikamentenmissbrauch im Raum. Mir waren alle Medikamente abgenommen worden, ich wurde nun stärker beobachtet und bekam obendrein eine Ausgangssperre. Die wenigen Medikamente, die ich in der Klinik als Ausgleich bekam, halfen mir nicht, zumal ich dem Psychologen versprochen hatte, keine Tabletten mehr einzunehmen. Und ich wollte zu meinem Versprechen stehen. Da es »ganz ohne alles« aber auch nicht lange gut ging, begann ich diverse Sachen zu rauchen und zu spritzen. Irgendwann fiel auch das auf und mir wurde unterstellt, ich hätte wieder Tabletten genommen. Dieses sollte mit der Entlassung geahndet werden.
So ungern ich vorher in die Klinik gegangen war, so schlimm wäre es inzwischen für mich gewesen, rausgeworfen zu werden. Irgendwie fühlte ich mich inzwischen dort gut aufgehoben, zumindest ein wenig sicher und versorgt. Und ich hätte wieder mal das Gefühl gehabt, den Boden unter den Füßen zu verlieren, wenn ich jetzt so plötzlich rausgeworfen worden wäre. Aber all meinen Beteuerungen glaubten die Schwestern und Pfleger nicht, denn man sah ja, dass ich was eingenommen hatte. Sie riefen den Arzt dazu und der sollte entscheiden, was passieren sollte. Ich sprach erst mal im Flur mit ihm, sagte aber nur, dass ich keine Tabletten genommen hätte. Dann kam zufällig der Psychologe hinzu und fragte, was los sei. Als er davon erfuhr, dass ich wieder Tabletten genommen haben sollte, sagte er deutlich, dass er das nicht glauben würde. Er wolle mit mir allein reden. Das wurde uns dann auch ermöglicht. Ich konnte es überhaupt nicht fassen, dass er mich so sehr unterstützte, und war nur noch verwundert. Als ich dann allein mit ihm im Gespräch war, sagte ich ihm noch einmal, dass ich wirklich keine Tabletten genommen hatte. Er antwortete mir, dass er mir das glaube, aber er wollte wissen, welche Drogen es denn gewesen seien. Ich habe ihm daraufhin vom Rauchen erzählt.
So wurde ich nicht aus der Klinik rausgeworfen. Sicher, ich hatte mich nicht an den Sinn des Verbots gehalten, aber ich hatte das Verbot, zumindest wörtlich, eingehalten – indem ich keine Tabletten mehr genommen hatte.
Dieses Erlebnis war für mich sehr einschneidend und hat meine Einstellung zu dem Psychologen (ich nenne ihn mal X.) erheblich beeinflusst. Ich konnte es nicht fassen, dass es einen wildfremden Menschen gab, der mich unterstützte und mir einfach nur auf mein Wort hin glaubte. Und das, wo doch zumindest mein Anblick etwas anderes vermuten ließ. Irgendwie hat X. mir auch danach immer wieder das Gefühl gegeben, dass er sich für mich als Mensch interessiert. Das war für mich eine ganz neue Erfahrung, denn so etwas hatte ich in der Form noch nicht erlebt. Ich wusste bis dahin immer, warum ich für andere Menschen »wichtig« war. Es waren immer irgendwelche Dinge, die ich tun konnte – oder Positionen, die ich ausfüllen konnte. Aber ich als Mensch war nicht gefragt. Und wie es mir ging oder was ich fühlte, das war in der Vergangenheit auch nie wichtig gewesen. So empfand ich es jedenfalls zum damaligen Zeitpunkt.
Dies war wohl der Grundstein zu einem sehr guten Verhältnis zu X., der mich anschließend über Jahre hin – bis zum heutigen Tag – immer wieder betreuen und mir helfen sollte.
Das Vertrauen wächst
Es war für mich ein Glücksfall, gerade an X. geraten zu sein. Andere hätten vielleicht ganz anders reagiert. Er hatte gerade erst sein Studium abgeschlossen und ging voller Engagement an die Sache heran. Er hatte noch die »Ideale eines Berufseinsteigers« – wohl in die Richtung, dass man die ganze Welt verändern könne, wenn man es nur versucht.
Er war in meiner weiteren Klinikzeit fast immer für mich ansprechbar und hatte immer ein offenes Ohr für mich. Ich bin oft, ohne Termine bei ihm zu haben, einfach zu seinem Zimmer gegangen und »musste« mit ihm reden. Und er hatte zumindest ein nettes Wort für mich, wenn auch nicht immer die Zeit für ein längeres Gespräch. Aber er gab mir das Gefühl, dass ich wichtig sei, und vor allem: Er war in seinem Verhalten mir gegenüber immer beständig. Das hat mir sehr geholfen und mich auch sehr offen ihm gegenüber werden lassen.
Irgendwann kam der Zeitpunkt, an dem ich das erste Mal in der Lage war, mit ihm über die Missbrauchsgeschichte aus meiner Kindheit zu reden. Das war das erste Mal, dass ich überhaupt mit jemandem so offen darüber sprach. Nachdem ich ihm zumindest vermitteln konnte, was passiert war, konnte ich nichts mehr erzählen. Ich bekam einen Weinkrampf und hatte Probleme, überhaupt wieder zu mir zu kommen. Er ging in dieser Situation sehr feinfühlig mit mir um. Er gab mir das Gefühl, dass er da war, und er gab mir auch Sicherheit. Aber er kam mir in keiner Weise zu nahe, sondern hat instinktiv genau den Abstand zu mir eingehalten, den ich brauchte. Wäre er mir jetzt zu nahe gekommen, dann wäre ich weggelaufen und wohl auch nie wieder zu ihm gegangen. Das hätte mich zu sehr verletzt, um weiter offen mit ihm reden zu können.
Nachdem ich mich einigermaßen beruhigt hatte, brachte er mich zurück auf die Station und ich ging direkt in mein Zimmer. Er sprach mit dem Pflegepersonal und ich wurde daraufhin mit Fragen in Ruhe gelassen. Ich bekam Beruhigungsmittel. X. hat mich in dieser Situation sehr gestärkt und mir ein gutes Umfeld geschaffen. So konnte ich das alles aushalten und bin nicht in diesen Erinnerungen und dem großen Schmerz untergegangen. Dies war ein weiterer Meilenstein in der Beziehung zwischen ihm und mir. Irgendwie erschien er mir wie ein Fels in der Brandung, der mich beschützt, mir den Rücken freihält und mir dadurch enorm hilft.
Später sollte es sich so entwickeln, dass ich das Gefühl hatte, ohne seine Begleitung und seinen Beistand nicht mehr leben zu können. Dieses Gefühl hat sich im Laufe der Zeit aber auch wieder zurückgebildet.
Zu Hause
Nach diesem über drei Monate dauernden Klinikaufenthalt ging ich wieder zurück in die Wohnung meines damaligen Ehemannes und damit raus aus der Stadt, in der X. arbeitete.
Einige Zeit später kam ich nervlich wieder in große Probleme und wurde in einem Landeskrankenhaus (LKH) in unserer Nähe aufgenommen. Dort hatte ich jedoch große Schwierigkeiten, mit der zuständigen Psychologin und den Gruppentherapien zurechtzukommen. Auch spitzten sich die Probleme zwischen mir und meinem Ehemann zu. Irgendwann erreichte ich dann den Punkt, an dem ich meine Ehe als gescheitert ansah. Durch die Aggressionen, die dadurch aufkamen, die Unzufriedenheit mit der Psychologin und dem Gefühl, dort überhaupt nicht klarzukommen, kam es dann zu einer Kurzschlussreaktion.
Ich hatte der Psychologin in einem vorhergehenden Streit gesagt, dass ich keinen Sinn in diesem Aufenthalt sähe und nach Hause wolle. Darauf hatte sie mir geantwortet, dass ich die Klinik gegen ihren Willen nicht verlassen könne. Sie würde mich als suizidal einstufen und damit könne sie mich notfalls auch per Eilverfügung in der Klinik behalten. Ich sah dieses als zusätzliche Schikane an, holte Handtasche und Geld aus meinem Zimmer und ging im Park spazieren. Dort passte ich eine gute Gelegenheit ab und verließ das Klinikgelände. Ich fuhr per Anhalter in den nächsten Ort und von da aus mit dem Zug in die Stadt, in der die erste Klinik lag. Dort kannte ich einen ehemaligen Mitpatienten und hoffte für eine Weile untertauchen zu können, was mir auch gelang. Während der gesamten Fahrt hatte ich sehr große Angst davor, dass man mir die Polizei hinterherschicken und mich in das LKH zurückbringen würde. Deshalb rief ich X. an und bat ihn um Hilfe. Ich konnte zu einem Gespräch zu ihm kommen und er meinte, so schnell könnten die mich nicht in die Klinik zurückbringen. Außerdem hielt er mich nicht für suizidal, sodass mir seiner Meinung nach nichts passieren konnte, denn eine Zwangseinweisung kann nur dann erfolgen, wenn man für sich selbst und/oder sein Umfeld eine Gefahr darstellt. Diese Sichtweise von ihm zu hören hat mich sehr beruhigt und ich war sehr froh, mich überhaupt wieder an ihn wenden zu dürfen.
Ich wohnte erst mal bei dem Bekannten und bald fand ich auch eine Wohnung. Die Wohnung war ein Altbau, ohne Warmwasser und Heizung, dafür mit Kohleofen. Aber ich war glücklich, etwas Preiswertes gefunden zu haben.
X. arbeitete inzwischen nicht mehr in der Klinik, sondern betrieb zusammen mit einer Psychologin eine ambulante Praxis. Ich durfte aber auch dorthin zu einer weiteren Therapie gehen. Inzwischen hatte er bei mir die Borderline-Persönlichkeitsstörung (BPS) diagnostiziert. Es gab damals noch keine Behandlungskonzepte für BPS und so wurde ich auch nicht nach einem bestimmten Therapieverfahren (Verhaltenstherapie, Gesprächstherapie etc.) behandelt. X. verließ sich da wohl sehr auf sein Gefühl, das er mir gegenüber entwickelt hatte. Er redete mit mir und ich durfte ihn in schwierigen Situationen auch privat anrufen.
Dies habe ich in der ersten Zeit auch sehr häufig getan. Anfangs wohl, um auszutesten, wie ernst er sein Angebot meinte. Er beschwerte sich aber nie, wenn ich ihn anrief. War er mal nicht zu Hause, dann hatte ich seine Frau am Apparat und sprach mit ihr oder zeitweise auch mit seiner Tochter. All diese Dinge hat er immer geduldet und mich nie abgewiesen. Sicher hatte er manches Mal einfach keine Zeit, mit mir zu reden, aber das hat er mir dann in einem kurzen Gespräch verständlich gemacht. Und für ein paar kurze Worte hatte er eigentlich immer Zeit. Oft habe ich gar nicht angerufen, weil ich Probleme hatte, sondern weil ich mich vergewissern wollte, dass er noch da war. Und irgendwann habe ich dann gedacht, er müsse bald die Geduld mit mir verlieren und mich rauswerfen. Das hat er jedoch nie getan und das hat das Verhältnis zwischen mir und ihm wohl sehr gefestigt. Ich kannte es bis dahin eigentlich nur so, dass alles, was ich als schön empfand, immer sehr schnell kaputtging, und dass auch Freundschaften nie lange hielten. Ich hatte noch nie jemanden als wirklich verlässlich erlebt. Und jetzt konnte ich es nicht begreifen, dass das auf einmal anders sein sollte. Ich sprach ihn in einer Therapiestunde mal darauf an, warum er so geduldig mit mir sei und dass ich selbst mich an seiner Stelle schon längst rausgeworfen hätte. Er meinte daraufhin lediglich, dass ich viel zu streng mit mir sei und dass er keinen Anlass sehe, mich rauszuwerfen.
Während der ambulanten Therapie machte ich später auch einmal Anspielungen auf einen möglichen Selbstmord. Irgendwann sagte er mir dazu, dass er mich gerne weiter behandeln würde, er aber selbst große Probleme bekäme, wenn ich mich während der Therapiezeit töten würde. Ich sollte doch dann so rücksichtsvoll sein und die Behandlung vorher beenden. Das hat mich erst einmal ziemlich durcheinander gebracht. Ich versprach es ihm und rief kurze Zeit später an, um ihm mitzuteilen, dass ich die Behandlung nicht fortsetzen wolle – es war für ihn scheinbar in Ordnung.
Ich dachte darüber nach, was er gesagt hatte. Ich hatte nicht wirklich vor, mich umzubringen, aber seine Aussage brachte mich sehr durcheinander. Es stand für mich fest, dass ich ihn nicht in Probleme bringen wollte, außerdem hatte er schon so viel für mich getan und ich hing sehr an ihm. Ich fühlte mich irgendwie zwischen zwei Stühlen und dachte dabei: Wenn ich mich wirklich umbringen wollte, und dies hatte ich ja auch angekündigt, dann müsste X. etwas unternehmen und könnte nicht so »gleichgültig« reagieren. Auf der anderen Seite erkannte ich, dass er meine freie Entscheidung respektierte. Ich fühlte mich in einem Dilemma: auf der einen Seite das Unverständnis über sein passives »Zusehen« – auf der anderen Seite die Erkenntnis, dass er meine Entscheidung respektierte und sich nicht einmischte. Es war für mich eine tagelange Wanderung zwischen den Gefühlen, auch zwischen Frust und Dankbarkeit ihm gegenüber. Heute denke ich, ihm war klar, dass das Ganze ein Versuch war, ihn noch mehr an mich zu binden oder ihn auszutesten, und dass ich nicht ernsthaft vorhatte mich umzubringen.
Ein paar Tage später rief ich bei ihm an und vereinbarte einen neuen Termin. Ich durfte auch ohne Probleme wiederkommen. Ich denke, mit diesem Verhalten hat er mir klar meine Grenzen aufgezeigt. Nämlich, dass ich ihn mit solchen Aussagen nicht in irgendeiner Weise unter Druck setzen konnte und er nicht mit sich spielen ließ. Aber er zeigte mir auch, dass er trotzdem verlässlich da war. Er machte mir keine Vorwürfe, es war einfach in Ordnung, wie es abgelaufen war. Ich glaube, diese Erfahrung musste ich machen, denn sonst hätte ich wohl versucht ihn irgendwann als »Spielball« anzusehen. Er hatte mir viele Freiheiten zugestanden, indem ich zum Beispiel privat anrufen durfte, aber es war auch an der Zeit, dass ich meine Grenzen erfuhr. Diese hat er mir eben nicht durch Verbote oder Bestrafungen aufgezeigt, sondern sie mich auf eine viel wirkungsvollere Art erkennen lassen. Das hat vom Ergebnis her viel mehr Erfolg gehabt als durch Strafen oder Verbote. Da wäre ich eher rebellisch geworden und auf Konfrontationskurs gegangen.
Leben, praktisch
Ich hatte mir unterdessen über die freikirchliche Gemeinde einen kleinen neuen Bekanntenkreis aufgebaut. Als der erste Winter kam, saß ich ziemlich allein in meiner Wohnung und fror furchtbar. Der Kohleofen war noch nicht richtig angeschlossen, denn ich hatte ihn bisher noch nicht gebraucht. Ich saß erst mal dick angezogen in der Wohnung und nahm mehrere Decken zu Hilfe. Irgendwann wurde mir das alles jedoch zu viel. Ich erzählte am späten Nachmittag einer Bekannten aus der Gemeinde, dass ich in der Wohnung sehr frieren würde und dass es mir auch nervlich nicht gut ginge. Ich hatte mir erhofft, zumindest für eine Nacht bei ihr übernachten zu dürfen. Einerseits zum Aufwärmen, andererseits aber auch, um unter Menschen zu sein und abgelenkt zu werden. Das wäre vom Platz her auch möglich gewesen, denn bei dieser allein stehenden Frau mit Kind hatte ich in der Vergangenheit schon mal für mehrere Tage übernachtet, ich war allerdings nicht in der Lage, meine Bitte konkret zu äußern, und so erzählte ich nur meine Situation und sagte, ich wüsste nicht mehr, was ich tun sollte. Daraufhin...
Inhaltsverzeichnis
- [Titelinfo]
- Impressum
- Menü
- Inhaltsübersicht
- Sind alle Borderliner schrecklich?
- Was ist eigentlich los mit mir?
- Alltag im Chaos der Gefühle
- Hilfen
- Nachwort
- Informationen
- Autorinnen und Autoren
- Informationen zum Herausgeber