Von der langen Herrschaft der Gewalt
In einem kleinen westdeutschen Landstädtchen wurden an einem Mittwoch im Frühling 1999 in der Arztpraxis Binder und Ross gegen 13 Uhr zwei Arzthelferinnen von einem jüngeren Mann südländischen Aussehens erschossen: Eine Nachbarin hatte ihn in einem kleinen Wagen ankommen, ruhigen Schrittes die Arztpraxis betreten, nach mehreren Knallen zu seinem Auto zurücklaufen und dann damit eilends davonfahren sehen. Sie hatte sich einen Teil der Kennzeichennummer merken können. Am gleichen Abend stellte sich, hundert Kilometer vom Tatort entfernt, Yüllan, ein junger jesidischer Kurde, von seinen Brüdern begleitet, der Polizei: Er wäre bei einem Besuch seiner Freundin in der Arztpraxis von einer pistolenbewaffneten Meute verfolgt und bedroht worden und hätte in Notwehr mehrmals geschossen, wobei es sein könnte, dass ein Schuss versehentlich jemand anderen getroffen hätte. Bei der Vernehmung der Familienangehörigen des Täters stellte sich allerdings heraus, dass dieser zu diesem Zeitpunkt schon vom Tod der Freundin und einer ihrer Kolleginnen wissen musste, denn seine Geschwister hatten die Nachricht, mit der auch die Autonummer eines Verdächtigen bekannt gemacht wurde, im Radio gehört, woraufhin der Vater unter der Drohung, seinen Sohn sonst anzuzeigen, von diesem verlangt hatte, sich selbst zu stellen. Yüllan blieb bei seiner Version, auch als die Polizei ihm aufgrund weiterer Zeugenaussagen nachwies, dass zu jener Zeit niemand anders als er das Arzthaus betreten haben konnte. Sein Anwalt, aber auch die Staatsanwaltschaft wollten daraufhin klären lassen, ob er nicht unter Verfolgungswahn leide. So kam es, dass ich ihn, der als Heranwachsender in der Jugendstrafanstalt in Untersuchungshaft einsaß, drei Wochen später dort begutachten musste.
In den Akten hatte ich gelesen, dass alle Tatortspuren darauf hinwiesen, dass der Täter die beiden Frauen, die vor ihm in den kleinen Injektionsraum der Praxis geflüchtet waren, durch gezielte Schüsse regelrecht hingerichtet hatte. Ich hielt Yüllan das vor. Aber auch mir gegenüber bestand er darauf, keine der beiden Frauen erschossen zu haben. Sie müssten von der Meute, die ihn bis in die Praxis hinein verfolgt hätte, getötet worden sein, seinem Eindruck nach habe es sich um richtige Profikiller gehandelt. Hingewiesen auf die Widersprüche zwischen seiner Aussage und dem, was er laut Bekundung seiner Tante gesagt haben soll kurz bevor er sich gestellt hätte, nämlich dass er ein Mädchen getötet habe, wiederholte er nur, die Killer seien die Mörder und nicht er; »seine« Lisa, eine der getöteten Arzthelferinnen, sei ihm das Liebste von der Welt gewesen, nie hätte er ihr etwas zuleide tun können, jetzt sei ihm alles egal, mit ihrem Tod habe sein Leben jeglichen Sinn für ihn verloren, man solle ihn ruhig verurteilen.
Ich insistierte zunächst nicht weiter und wandte mich mit ihm seiner Lebensgeschichte zu. Yüllan berichtete, er entstamme einer jesidischen Scheichfamilie, einer Art Geburtsadel. Im Alter von zwei Jahren sei er nach Deutschland gelangt, mit seinen Eltern und Geschwistern, die in Syrien und der Türkei politisch verfolgt worden seien. Diese Verfolgung schmückte er mit Geschichten aus, die unmöglich den Tatsachen entsprechen konnten: Er sei im Alter von fünf Jahren (da war er schon längst in Deutschland!) vom türkischen Militär monatelang in einen Käfig eingesperrt worden und Augenzeuge der Erschießung seines ältesten Bruders gewesen, des ersten höheren PKK-Offiziers jesidischen Ursprunges und einer der kurdischen Nationalhelden.
Anders als diese Geschichten, die er sich ausgedacht haben musste, war Yüllans Kindheit im Elternhaus nicht nur seinen eigenen Bekundungen nach tatsächlich von Gewalt und Misshandlungen geprägt gewesen. Weil er schon als kleiner Junge oftmals mit blauen Flecken zur Schule gekommen war, hatte das Jugendamt den Vater mehrfach verwarnen und schließlich Yüllan und einen seiner Brüder in einem Pflegeheim und später bei einer Pflegefamilie unterbringen müssen. Daraufhin hatte der Vater den Jugendamtsvertreter mit dem Tode bedroht. Auch der zweitälteste Bruder Özlan, der nach dem Ableben des PKK-Kämpfers die Rolle des ältesten Bruders übernahm, hätte seinen Geschwistern mit eiserner Hand Gehorsam und Familiendisziplin eingeprügelt. Wie der Vater operierte auch Özlan schon bei kleinen Zwistigkeiten mit Todesdrohungen. Als zum Beispiel die jüngste Schwester gegen das Verbot des Vaters eine wegen Unbotmäßigkeit von ihren Mann verstoßene Schwägerin besuchen wollte, hatte Özlan im Einverständnis mit dem Vater für den Fall, sie täte es dennoch, angekündigt, sie totzuschlagen. Es blieb nicht immer nur bei Drohungen. Zur gleichen Zeit, als Yüllan in Untersuchungshaft war, saß Özlan wegen eines Tötungsdeliktes im Gefängnis.
Im Alter von elf Jahren zeigte Yüllan seinen Vater wegen Misshandlung an und verlangte, in einem Heim untergebracht zu werden. Dort konnte er aber nicht bleiben, weil er schon bei geringsten Anlässen auf seine Mitbewohner einschlug. Mit der Pflegefamilie, die ihn danach aufnahm, kam er zwar etwas besser zurecht, aber wenn ihm ein Wunsch nach Süßigkeiten oder nach einem Kleidungsstück nicht gleich erfüllt wurde, entnahm er einfach das Geld, das er dazu brauchte, dem pflegeväterlichen Portemonnaie und kaufte sich den ersehnten Gegenstand selbst. Nach einem halben Jahr wurde er deshalb wieder nach Hause zurückgeschickt. Entgegen den Versprechungen, die ihm vom Vater und vom älteren Bruder für den Fall seiner Rückkehr gemacht worden waren, empfing man ihn dort gleich mit Prügel, weil er mit seiner Anzeige Schande über die Familie gebracht hätte. Mittlerweile war er fünfzehn Jahre alt geworden. Mit siebzehn vermittelte ihm das Jugendamt eine eigene Wohnung, weil die regelmäßig in Gewalt ausartenden Konflikte zu Hause unerträglich geworden waren.
Trotz dieser schlechten Bedingungen schaffte er, wenn auch mit Mühe, den Realschulabschluss; die Schlosserlehre, die er daraufhin begann, brach er allerdings nach zwei Jahren ab. Auch ein Kindergartenpraktikum – das Jugendamt hatte ihm vorgeschlagen, das Fachabitur zu machen und anschließend Sozialpädagogik zu studieren – brachte er nicht zu Ende. Danach war er zwei Monate arbeitslos und Sozialhilfeempfänger, bis er eine ihn zufrieden stellende Arbeit bei einer Leihfirma fand. Außerdem jobbte er für einige Abend- und Nachtstunden als Türsteher in Diskotheken. Während dieser Zeit lernte er sein späteres Opfer Lisa Bittermann kennen.
Yüllan erzählte mir, dass er vorher schon mit über dreißig Mädchen geschlafen hätte. Nie hätte er sie selbst ansprechen müssen, immer seien es die Mädchen gewesen, die zuerst ihr Interesse an ihm bekundet hätten: Er käme eben bei Frauen gut an. Aber über eine Nacht hinaus hätte ihn kaum eine interessiert, und da er keiner seinen richtigen Namen gesagt hätte, sei es leicht gewesen, schnell Schluss zu machen. Yüllan redete über seine Diskoeroberungen leicht verächtlich und ohne jeden Respekt und zudem noch mit einem ziemlich überheblichen Stolz auf seine erotischen Erfolge.
Aber als das Gespräch auf Lisa kam, wurde sein Ton weicher. Bei ihr sei alles ganz anders gewesen. Als er sie in einer Disko zum ersten Mal sah, habe er sie gleich kennen lernen wollen, weil sie so hübsch war und so zerbrechlich aussah. Sie sei so schön gewesen, dass er sich nicht getraut habe, sie anzusprechen, erst über eine Freundin sei er schließlich doch mit ihr ins Gespräch gekommen. Er hätte sich sofort in sie verliebt. Als er sie am Ende des Abends um ihre Telefonnummer bat, habe sie die ihm nach einigem Zögern auch gegeben. Sie hätten dann miteinander telefoniert, sich noch einmal in der Disko getroffen und sich dort das erste Mal geküsst. Danach sei er regelmäßig zu ihr gefahren, das heißt in die Wohnung ihrer Eltern, bei denen sie damals noch wohnte. Denen hätte er sich, wie er es auch bei ihr und bei allen anderen Diskobekanntschaften getan hätte, zunächst als »Roberto« vorgestellt, als einen Italiener. Er wusste, dass deutsche Mädchen und ihre Familien starke Vorbehalte gegenüber türkischen oder kurdischen jungen Männern hatten. Sonst aber sei er ihr gegenüber völlig offen gewesen, so offen wie noch nie zuvor einem anderen Menschen gegenüber. Zwischen ihnen hätte völliges Einverständnis geherrscht, jeder hätte sofort gespürt, wenn der andere Kummer, Sorgen oder auch nur ein kleines Alltagsproblem hatte. Erst nach drei oder vier Monaten hätten sie zum ersten Mal miteinander geschlafen. Das sei ihm bei ihr gar nicht eilig gewesen, Lisa war noch Jungfrau und er hätte eben gewartet, bis sie innerlich so weit gewesen sei. Schließlich war es für ihn ganz anders als sonst, viel schöner: Vielleicht weil es aus Liebe war, sagte er, eine große und ganz einträchtige Liebe. Nur ein Mal hätten sie eine kleine Auseinandersetzung gehabt: Ihr hätte er schon nach sechs Wochen gesagt, dass er Kurde sei und eigentlich Yüllan heiße, doch als sie irgendwann darauf bestand, das auch ihren Eltern zu offenbaren, hätte er gezögert und es hätte einen kleinen Wortwechsel gegeben, den unglücklicherweise ihr Vater belauschte. Der hätte ihn dann angeschrien, ihn aus dem Hause gewiesen und ihm ein dauerndes Hausverbot erteilt. Lisa, die ihrem Vater ihr Leben lang gehorcht habe, hätte sich auch diesmal von ihm beeinflussen lassen. So hätte er sie eine Zeit lang nicht mehr gesehen. Aber schon nach zwei Monaten hätten sie heimlich miteinander telefoniert und sich bald danach auch insgeheim wieder getroffen, zumeist bei Yüllans Eltern oder Verwandten. Schließlich hätte sie den Mut gefunden, ihren Eltern zu sagen, dass sie wieder zusammen seien. Aber zu ihr nach Hause hätte er weiterhin nicht gedurft. Als auch seine Eltern Lisas Besuche nicht mehr dulden wollten, hätten sie sich eine gemeinsame Wohnung genommen. Da sei alles wieder so schön, so harmonisch geworden wie vorher. Aus für ihn unerfindlichen Gründen sei Lisa dann aber eines Sonntags, während er seine Eltern besuchte, ausgezogen. Am Telefon hätte sie ihm gesagt, dass ihr Vater das von ihr verlangt hatte. Überhaupt habe er herausbekommen, dass ihr Vater die ganze Zeit gegen ihn intrigiert hätte. Er hätte sogar eine Schlägerbande angeheuert, die ihm mehrmals nachgefahren sei. Zwei Mal hätten sie neben ihm gehalten und ihn mit dem Tode bedroht, wenn er von Lisa nicht ablasse. Er hätte in der Zeit immer wieder versucht, mit Lisa telefonisch Kontakt aufzunehmen, sei aber niemals durchgekommen. So hätte er sich dazu entschlossen, sie in ihrer Mittagspause in der Arztpraxis aufzusuchen, ihr zu sagen, dass er sie immer noch liebe, und sie zu bitten, zu ihm zurückzukehren. Aus Angst vor der vom Vater angeheuerten Schlägerbande hätte er sich allerdings schon vor einiger Zeit eine Pistole besorgt, die er seitdem immer mit sich herumgetragen habe, auch bei jenem Besuch in der Arztpraxis. Dort angekommen, sei Lisa ihm um den Hals gefallen und habe ihm gesagt, wie sehr sie ihn liebe. Dann seien plötzlich die bewaffneten Schläger an der Tür aufgetaucht und hätten ihn mit ihren Pistolen bedroht. In panischer Angst habe er auf sie geschossen, aber mit Sicherheit nicht auf Lisa und auch nicht auf ihre Kollegin. Danach sei er, ohne zu wissen wohin, in der Gegend herumgefahren und schließlich, er wisse nicht wie, in der Wohnung seiner Eltern gelandet. Die hätten ihm gesagt, dass er von der Polizei gesucht würde und sich stellen solle. Da er in Notwehr gehandelt habe, also unschuldig sei, hätte er das auch getan.
Aus den Polizeiakten wusste ich, dass Lisas Eltern, Geschwister und Freundinnen die Geschichte von Yüllans Beziehung zu Lisa völlig anders geschildert hatten. Yüllan hätte ihnen den Italiener Roberto zunächst außerordentlich wirklichkeitsnah und überzeugend vorgespielt. Zu Weihnachten hätte er erzählt, die Eltern und Geschwister seien für die Feiertage nach Italien gefahren, nur er hätte wegen seiner Arbeitsverpflichtungen hier zurückbleiben müssen. Damit erreichte er, dass Lisas Eltern ihn für Heiligabend nach Hause einluden. Und als ihm während einer Autofahrt die Mütze von Kopf geweht wurde, war er untröstlich, weil sie das letzte Geschenk der kürzlich verstorbenen Parmaer Großmutter gewesen sei. Erste Zweifel kamen auf, als er auf einer Gesellschaft auf Italienisch angesprochen wurde und nicht zu antworten wusste, aber auch da hatte er eine Erklärung parat: Er sei eben in Deutschland aufgewachsen, von den Eltern hätte er nur ein sehr schlechtes, bruchstückhaftes Italienisch in ihrem Dialekt gelernt, sie hätten mit ihm nur Deutsch gesprochen, weil sie wollten, dass er hier heimisch würde. Ganz wurde ihm nicht geglaubt, aber Lisas Eltern ließen es zunächst noch nicht auf eine Konfrontation ankommen. Zu dieser kam es erst bei dem von Yüllan berichteten Streit.
Zu diesem Streit waren Lisas Familie und Freundinnen auch befragt worden. Lisa hatte ihnen allen berichtet, sie hätte den Schwindel mit der italienischen Identität nicht länger mitmachen wollen. Als sie dies Yüllan gesagt habe, sei sie von ihm erstmals und gleich sehr heftig geschlagen worden. Der Vater, der das Ende der Auseinandersetzung mitbekommen hatte, stellte Yüllan zur Rede. Dieser überhäufte ihn daraufhin mit den ordinärsten Schimpfwörtern und bedrohte ihn. Erst als Lisas Vater bereits das Telefon in der Hand hatte, um die Polizei zu rufen, verließ Yüllan laut schimpfend das Haus. Für alle Familienmitglieder war dieser Umschwung völlig unerwartet gekommen, denn Yüllan hatte sich bis dahin als äußerst höflicher, hilfsbereiter und rücksichtsvoller junger Mann gezeigt, der nicht nur seiner Freundin, sondern auch der Dame des Hauses bei jeder Gelegenheit einen Blumenstrauß mitgebracht hatte.
Auch der weitere Verlauf der Beziehung stellte sich vor allem in den Zeugenaussagen von Lisas Freundinnen völlig anders dar als in Yüllans Schilderungen. Lisa hatte ihnen erzählt, sie hätte nur deshalb schließlich eingewilligt, Yüllan wieder zu treffen und sogar wieder mit ihm zu schlafen, weil er ihr gedroht hatte, andernfalls ihre Eltern und Geschwister und auch sie selbst umzubringen.
Als ich ihm diese Aussagen vorlas, beschimpfte Yüllan, der mir bisher höflich geantwortet hatte, auch mich und richtete sich mit erhobenen Fäusten vor mir auf. Erst als ich ankündigte, den Wächter herbeizurufen, beruhigte er sich wieder und sagte, Lisas Freundinnen würden lügen. Sie hätten alle mit ihm ins Bett gewollt, und als sie sahen, dass er Lisa bedingungslos treu blieb, hätten sie ihn gehasst und jede Gelegenheit genutzt, um sich an ihm zu rächen. Nein, in Wirklichkeit hätte er Lisa nie geschlagen und nie bedroht, und sie hätte ihn bis zum letzten Augenblick, bis die Killer sie ermordet hätten, geliebt.
Ich befragte Yüllan dann noch einmal zu der »Meute«, die ihn zweimal bedroht und am Tattag überfallen haben sollte. Für jedes Mal hatte er eine anschauliche Schilderung parat: Er erzählte detailliert, wie diese Leute, deren Aussehen und deren Autos er genau beschrieb, ihn zum Anhalten gezwungen, seine Wagentür geöffnet und Auge in Auge zu ihm gesprochen und ihn bedroht hatten, sollte er Lisa weiterhin nachstellen. Damit war klar, dass es sich bei diesen Schilderungen Yüllans nicht um schizophrene oder paranoide Wahnvorstellungen, verbunden mit optischen und akustischen Halluzinationen handeln konnte, weil solche niemals in derartig situationsbezogenen, wirklichkeitsimitierenden Formen auftreten. Für einen Wahn war die Geschichte einfach zu realitätsverwandt und zu rund.
Drei Alternativen blieben übrig:
Die erste: Lisas Vater hatte tatsächlich eine Killerbande beauftragt, was allerdings allen Zeugen zufolge unwahrscheinlich war. Aber ein Wirklichkeitsbruchstück dieser Art schälte sich gleichwohl heraus: Ein Freund Yüllans hatte bei der Polizei angegeben, dieser hätte ihm schon vor einiger Zeit erzählt, irgendwelche Leute würden ihn bedrohen, weil er angeblich etwas besäße, was ihnen gehöre. So hatten wohl ähnliche Szenen, wie Yüllan sie aus den Wochen vor der Tat schilderte, tatsächlich stattgefunden, nur dass sie weder mit Lisa noch mit ihrem Vater irgendetwas zu tun hatten. Mir fielen als möglicher Grund für solche Szenarien politische Auseinandersetzungen unter Kurden oder zwischen Türken und Kurden ein oder illegale Geschäfte mit Drogen. Der tatsächliche Hintergrund ließ sich auch später im Prozess nicht aufklären.
Die zweite Alternative bestand darin, dass Yüllan, der, wie sein leichtfüßiger Identitätswechsel zeigte, über eine sehr lebhafte Einbildungskraft verfügte, sich ebenso wie in seine Italienerrolle auch in die Killerstory regelrecht hineingelebt hatte, weil diese ihm erlaubte, die für ihn unerträglichen Schuldgefühle wegen der Tötung seiner Freundin zuzudecken. Ich muss einräumen, dass ich diese Alternative bis mitten in den Prozess hinein für die wahrscheinlichste hielt, auch deshalb weil Yüllans Persönlichkeitseigenheiten, seine Fantasie und seine ungewöhnlich starke emotionale Ansprechbarkeit sehr gut zu solchen hysteriformen Verdrängungs-, Identifikations- und Projektionsprozessen passten. Während des Prozesses räumte Yüllan aber ein, dass er sich die ganze Geschichte ausgedacht hatte, um Polizei und Gericht irrezuführen. Und sollte dies nicht gelingen, hoffte er, wenigstens als Verrückter dazustehen und so eine mildere Strafe zu bekommen. Das war die in meinem Gutachten aufgeführte dritte Alternative. Sie schloss die zweite nicht völlig aus. Yüllan war dazu imstande, sich willentlich in ein imaginiertes Szenario völlig hineinfallen zu lassen und es sich als wirklich einzureden, gleichzeitig hielt er aber immer auch das Wissen parat, dass er selbst es sich eingebildet hatte.
Zu der Kehrtwendung in Yüllans Aussage war es gekommen, als Lisas Vater dem Gericht handgeschriebene Tagebuchnotizen seiner Tochter überreichte, die fast die ganze Zeit ihrer Beziehung umfassten. Aus ihnen ging hervor, dass alles, was Familie und Freundinnen der Polizei und dem Gericht über Yüllans Gewaltanwendungen und Gewaltandrohungen gegenüber Lisa berichtet hatten, von der Wirklichkeit noch weit übertroffen wurde. Lisa hatte jede Prügel, die sie von Yüllan bezogen hatte, mit genauer Datumsangabe vermerkt, von dem ersten Streit über dessen falsche italienische Herkunft an bis zum Ende des kurzen Zusammenlebens in einer gemeinsamen Wohnung. Sie schrieb gar, dass Yüllan sie nach einer mehrmonatigen Trennung, die dem ersten Streit gefolgt war, unter Todesdrohungen gegen ihre Eltern und sie zu weiteren sexuellen Kontakten erpresst und des Öfteren auch brutal vergewaltigt hatte. Dem Tagebuch war sehr deutlich zu entnehmen, wann und wie eine leidenschaftliche, aber auch zärtliche Liebe umgeschlagen war in eine reine Machtdemonstration mit eingestreuten Hassanfällen auf Yüllans Seite und in eine zuerst noch zwiespältige, dann aber nur noch angsterfüllte Unterwürfigkeit bei Lisa. Auch von zwei Versuchen Lisas, sich trotz ihrer Angst von Yüllan zu lösen, war in den Aufzeichnungen die Rede: Mit einem deutschen Jungen war es nach einer mehrwöchigen Bekanntschaft zu einem einmaligen Geschlechtsverkehr gekommen, dann war ihm die Sache »zu unheimlich« geworden, wie er vor Gericht sagte, und er hatte sich nicht wieder bei ihr blicken lassen. Mit einem jungen Türken hatte sie einen Abend lang Zärtlichkeiten ausgetauscht, aber es nicht fertig gebracht, ihm von ihrer Angst vor Yüllan zu erzählen. Auch er hatte sich nicht wieder bei ihr gemeldet. Yüllan räumte nach dem Vortrag der Tagebücher die Schläge, die Drohungen und die sexuelle Gewalt Lisa gegenüber zwar ein, behauptete aber, sie hätte ihn nach ihrer vorübergehenden Trennung mit Erzählungen über Orgien mit mehreren Jungen in einem Hotel auf hundert gebracht, und jedes Mal wenn er an diese Geschichten auch nur habe denken müssen, sei ihm die Hand ausgerutscht. Dass Lisa manchmal nur aus Angst mit ihm geschlafen hatte, das hielt er aus der Rückschau zwar für möglich, damals sei ihm so etwas allerdings nie in den Sinn gekommen. Die Todesdrohungen gegen Lisas Eltern stritt er weiterhin ab.
Die angeblichen Orgien erschienen dem Gericht wenig glaubhaft, hatte Lisa doch im Tagebuch sehr offen von ihren beiden kurzen Liebesepisoden in der Trennungsphase von Yüllan berichtet, wobei sehr deutlich wurde, dass es sich beide Male um vorsichtige, zärtliche und langsame Annäherungen gehandelt hatte. Die »Orgie« wäre, hätte sie stattgefunden, von ihr sicherlich auch im Tagebuch vermerkt worden. Zudem schien sie zu Lisas Wesensart überhaupt nicht zu passen.
Yüllan gab schließlich zu, Lisa und ihre Kollegin getötet zu haben. Lisa hätte ihn zuletzt, wenn er sie irgendwann doch am Telefon erreicht hätte, als Versager beschimpft und verhöhnt. Am Tattag sei er zu ihr gefahren, um sie deswegen zu ermahnen und um sie – allerdings nur mit Worten – zur Rechenschaft zu ziehen. Gut, vielleicht hätte er sie auch beschimpfen wollen, um seine Wut auf sie etwas abzulassen, aber dazu sei es gar nicht gekommen, denn sie hätte ihn gleich mit höhnischen Bemerkungen empfangen und ihn wieder einen Versager genannt. Da hätte er seine Pistole gezogen und sei ihr, als sie vor ihm in den kleinen Injektionsraum der Praxis flüchtete, dorthin gefolgt und hätte blind drauflosgeschossen. Die Pistole, die er sich kurz zuvor gekauft hatte, nannte er jetzt seinen »Ersatzschwanz«. Ohne sie hätte er sich gar nicht zu Lisa getraut.
Vor meinem Abschlussgutachten vernahm das Gericht noch den Jugendamtsvertreter, der Yüllan und seine Geschwister ein Jahrzehnt lang intensiv betreut hatte. Was wir zu hören bekamen, bestätigte Yüllans Angaben über sein Elternhaus vollauf. Es war eine einzige Geschichte brutaler Gewalt: Prügel, Misshandlungen, Todesdrohungen durch den Vater schon bei den geringsten Zuwiderhandlungen, es reichte, wenn ein Kind oder seine Frau dem Familienoberhaupt widersprach. Von früher Kindheit an hätten die Kinder gelernt, dass man sich nur durch Anwendung extremster Gewalt durchsetzen kann, dass es darauf ankam, so stark wie der Vater zu werden und wie er durch Angst zu regieren. Die älteren Brüder tyrannisierten, sobald sie körperlich dazu imstande waren, die jüngeren Geschwister. Die Eltern Yüllans hatten im Übrigen nach einem fast zwanzigjährigen Aufenthalt in Deutschland kaum ein Wort Deutsch gelernt, sie hatten ausschließlich unter ihresgleichen gelebt und keine Ahnung von der Lebensweise und den Lebensregeln in der Bundesrepublik. Die archaischen, patriarchalischen Familienrechte bestanden so in ihren Köpfen ungebrochen weiter fort. Gleichzeitig erfüllte ein aristokratischer Stolz die Familie: In ihrem Heimatland hätten sie als »Scheichs« ein Anrecht auf Abgaben der ihnen untergeordneten Klientenfamilien gehabt und auch jetzt erwarteten sie, dass die anderen, hier die deutschen Ämter, für ihren Lebensunterhalt sorgten. Geschähe das nicht im erwünschten Umfange, so würde man von ihnen bedroht. Sie seien völlig ver...