Recht und Gesetz von A – Z Chancen und Stolpersteine
Karl-Ernst Brill
Überarbeitet und aktualisiert von
Jörg Holke und Rolf Marschner
Die Kenntnis gesetzlicher Regelungen ist für psychisch kranke Menschen und deren Angehörige eine wichtige Voraussetzung, um die bestehenden Möglichkeiten (Chancen) zur Wahrnehmung von Rechten und Rechtsansprüchen auszuschöpfen. Daneben ist die Kenntnis rechtlicher Regelungen und Grundlagen zumindest in ihren Grundstrukturen wichtig, wenn man zu einem näheren Verständnis unseres Sozial- und Gesundheitswesens gelangen will. Auf diesen Weg sind allerdings eine ganze Reihe von Stolpersteinen gelegt worden:
Der erste Stolperstein für juristische Laien besteht darin, dass rechtliche Regelungen zumeist in einer Sprache geschrieben sind, die viele Menschen abschreckt und von ihnen als unverständlich empfunden wird. Ein weiterer Stolperstein gilt im Hinblick auf die Vielzahl und die Komplexität der rechtlichen Regelungen selbst für Juristen: Neben den Gesetzen sind eine große Zahl von Durchführungsverordnungen und Richtlinien sowie laufende Änderungen der rechtlichen Regelungen zu berücksichtigen. Die Darstellung in diesem Kapitel berücksichtigt die bis zum 01. 01. 2014 beschlossenen bzw. in Kraft getretenen Regelungen.
Schließlich ist zu berücksichtigen, dass zur Beantwortung von vielen, scheinbar »einfachen« rechtlichen Fragen, die im Alltag entstehen, jeweils die konkrete Lebenssituation des einzelnen psychisch erkrankten Menschen bzw. seiner Angehörigen zu betrachten ist. In diesem Sinne kann die nachfolgende Darstellung nur über Grundzüge rechtlicher Regelungen informieren. Für weitergehende Informationen wird auf den im Psychiatrie Verlag erscheinenden Ratgeber »Psychisch kranke Menschen im Recht« und die im Literaturverzeichnis angegebenen Informationsbroschüren verwiesen. Darüber hinaus gibt es die Möglichkeit der Information und Beratung durch die jeweiligen Sozialleistungsträger »vor Ort«.
Diesem Text wie dem Ratgeber liegen die bundesdeutschen Gesetze zugrunde. Österreicher und Schweizer können sich an die Dachverbände der Angehörigenorganisationen (HPE Österreich, VASK Schweiz) wenden, wenn sie Unterstützung bei sozialrechtlichen Fragen suchen. Die HPE Österreich z. B. bietet regelmäßig individuelle Beratung und Information an. In der Schweiz berät die Stiftung »Pro mente sana« bei Rechtsfragen (s. Adressen im Anhang).
Über Rückmeldungen und Anregungen für künftige Aktualisierungen sind die Autoren und der Herausgeber dankbar.
Die wichtigsten Gesetze im Überblick
BGB Bürgerliches Gesetzbuch
BKGG Bundeskindergeldgesetz
EStG Einkommensteuergesetz
FamFG Gesetz über das Verfahren in Familiensachen und in den Angelegenheiten der Freiwilligen Gerichtsbarkeit
SGB I Sozialgesetzbuch Erstes Buch – Allgemeiner Teil
SGB II Sozialgesetzbuch Zweites Buch – Grundsicherung für Arbeitsuchende
SGB III Sozialgesetzbuch Drittes Buch – Arbeitsförderung
SGB IV Sozialgesetzbuch Viertes Buch – Gemeinsame Vorschriften für die Sozialversicherung
SGB V Sozialgesetzbuch Fünftes Buch – Gesetzliche Krankenversicherung
SGB VI Sozialgesetzbuch Sechstes Buch – Gesetzliche Rentenversicherung
SGB VII Sozialgesetzbuch Siebtes Buch – Gesetzliche Unfallversicherung
SGB VIII Sozialgesetzbuch Achtes Buch – Kinder- und Jugendhilfe
SGB IX Sozialgesetzbuch Neuntes Buch – Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen
SGB X Sozialgesetzbuch Zehntes Buch – Verwaltungsverfahren
SGB XI Sozialgesetzbuch Elftes Buch – Gesetzliche Pflegeversicherung
SGB XII Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch – Sozialhilfe
StGB Strafgesetzbuch
StPO Strafprozessordnung
Die wichtigsten Stichworte von A – Z
A Akteneinsicht Für den Bereich der Sozialleistungsträger ist das Recht auf Akteneinsicht in §
25 SGB X geregelt. Danach muss ein berechtigtes Interesse (»Geltendmachung oder Verteidigung rechtlicher Interessen«) an der Einsichtnahme geltend gemacht werden. Anstelle der direkten Akteneinsicht kann die Vermittlung durch einen Arzt oder einen durch »Vorbildung sowie Lebens- und Berufserfahrung« geeigneten und befähigten Bediensteten
treten, wenn die Akten Angaben über die gesundheitlichen Verhältnisse enthalten, »die die Entwicklung und Entfaltung der Persönlichkeit des Beteiligten beeinträchtigen können«. Das Recht auf Einsicht in Patientenakten von Ärzten und Krankenhäusern ist nunmehr in §
630 g BGB geregelt. Danach ist Patienten auf Verlangen Einsicht in die vollständige, ihn betreffende Patientenakte zu gewähren. Dies gilt grundsätzlich auch für psychiatrische Krankenakten. Eine Einschränkung ist nur möglich, wenn erhebliche therapeutische Gründe oder erhebliche Rechte Dritter entgegenstehen. Dabei kann es sich um die begründete Gefahr einer erheblichen Verschlechterung des Gesundheitszustandes des Patienten oder um eine begründete Gefahr für Dritte (z.
B. Angehörige) handeln, die Auskunft über den Patienten erteilt haben. Grundsätzlich gilt aber auch für psychisch kranke Menschen das Recht auf informationelle Selbstbestimmung. Dieser muss wissen, was in den Krankenunterlagen enthalten ist, um selbstbestimmte Entscheidungen über die Behandlung treffen zu können. Das Akteneinsichtsrecht besteht in noch stärkerem Maß während einer
Unterbringung und im Maßregelvollzug.
A Ambulante Psychiatrische Pflege Die häusliche Krankenpflege ist in §
37 SGB V geregelt, wobei zwei Arten unterschieden werden: zum einen die häusliche Krankenpflege zur Vermeidung oder Verkürzung oder auch anstelle von Krankenhausbehandlung, zum anderen die häusliche Krankenpflege zur Sicherung des Ziels der ärztlichen Behandlung. Bei häuslicher Krankenpflege zur Sicherung des Ziels der ärztlichen Behandlung besteht nur ein Anspruch auf Leistungen der Behandlungspflege; bei häuslicher Krankenpflege zur Vermeidung oder Verkürzung einer Krankenhausbehandlung besteht ein Anspruch auf Grund- und
Behandlungspflege. Leistungen der Krankenkassen zur häuslichen Krankenpflege haben ebenso wie Leistungen zur Rehabilitation Vorrang vor Leistungen der
Pflegeversicherung. Die häusliche Krankenpflege wird auf der Grundlage ärztlicher Verordnung gewährt. Dabei muss der Ambulante Psychiatrische Pflegedienst nicht zwingend zu Hause erbracht werden, seit dem 1.
4.
2007 kann die Ambulante Psychiatrische Pflege auch in betreuten Wohngemeinschaften, Werkstätten oder anderen geeigneten Orten erbracht werden. Voraussetzung ist das Vorliegen einer psychiatrischen Diagnose. Die Leistungsdauer für die Ambulante Psychiatrische Pflege ist in der Regel auf vier Monate beschränkt. In begründeten Fällen kann eine Verlängerung erfolgen, deren Notwendigkeit durch den Medizinischen Dienst der Krankenversicherung geprüft wird. Bei der Ambulanten Psychiatrischen Krankenpflege besteht Zuzahlungspflicht (
Zuzahlungen).
Stolpersteine: Leider sind nicht alle psychiatrischen Diagnosen mit schwerem Krankheitsverlauf in die 2005 in Kraft getretenen Richtlinien aufgenommen worden. Bedauerlich ist auch, dass die Krankenkassen nur in den seltensten Fällen mehr als vier Monate bewilligen, was bei schweren psychischen Erkrankungen völlig unzureichend ist. Ein »struktureller« Stolperstein liegt darin, dass es bislang erst an vergleichsweise wenigen Orten ambulante Dienste gibt, die auch häusliche psychiatrische Krankenpflege anbieten. Dies liegt vor allem daran, dass interessierte Pflegedienste durch zu hohe Auflagen (Zusatzausbildung, nicht ausreichende Vergütung usw.) abgeschreckt werden. Hinzu kommt, dass nach den gesetzlichen Bestimmungen der Anspruch auf häusliche Krankenpflege nur besteht, »soweit eine im Haushalt lebende Person den Kranken in dem erforderlichen Umfang nicht pflegen und versorgen kann«. (§ 37 Abs. 3 SGB V). Hier ergibt sich die schwierige Frage, unter welchen Bedingungen eine im Haushalt lebende Person die Aufgabe der Pflege und Versorgung nicht in dem erforderlichen Umfang durchführen kann. Bei der Klärung dieser Frage wird zum einen zu berücksichtigen sein, ob die häusliche Pflege besondere Fachkenntnisse und daher eine Fachkraft erfordert; zum anderen wird auch bei der durch die häusliche Pflege entstehenden Belastungssituation für die pflegenden Angehörigen zu prüfen sein, inwieweit hier die Grenzen des Zumutbaren überschritten werden.
A Antragstellung Viele Sozialleistungen (z. B. Krankengeld, Arbeitslosengeld, Grundsicherung, Leistungen der Pflegeversicherung) wie auch steuerliche Vergünstigungen setzen in der Regel voraus, dass die Anspruchsberechtigten selbst einen Antrag stellen. Anträge auf Sozialleistungen können mündlich oder schriftlich gestellt werden. Es empfiehlt sich wegen des Nachweises die schriftliche Form. Wird der Antrag bei einem unzuständigen Leistungsträger gestellt, ist dieser verpflichtet, den Antrag an den zuständigen Leistungsträger weiterzuleiten (§ 16 SGB I). Der Antrag darf nicht zurückgeschickt werden. Der Gesetzgeber setzt den Sozialleistungsträgern zunehmend Fristen (in der Regel von fünf Wochen), innerhalb derer über den Antrag zu entscheiden ist (§ 13 Abs. 3 a SGB V für die Krankenversicherung, § 14 SGB IX für die Rehabilitation und Teilhabe, § 18 Abs. 3 SGB XI für die Pflegeversicherung). Sind die Betroffenen zur Antragstellung nicht in der Lage, können sie auch eine Person ihres Vertrauens bevollmächtigen. Nun kann bei akut psychisch erkrankten Menschen eine Situation entstehen, in der sie keine Vollmacht erteilen können ode...