Hölderlin
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Hölderlin

Das Klischee vom umnachteten Genie im Turm

  1. 128 Seiten
  2. German
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Hölderlin

Das Klischee vom umnachteten Genie im Turm

Über dieses Buch

Dichter, Patient, Mensch Friedrich Hölderlin steht wie niemand sonst in der deutschen Literatur für das Klischee vom wahnsinnigen Genie. Jann E. Schlimme und Uwe Gonther – beide Psychiater, beide ausgewiesene Hölderlinexperten – befragen die Quellen, um sein Leben in der sogenannten »Turmzeit« zu verstehen, anstatt sie psychopathologisch zu deuten: Wie sah Hölderlin sich selbst, wie beschrieben ihn die Menschen, die ihm nahestanden? Wie schilderten ihn die Ärzte seiner Zeit? Und sie setzen diese Zeugnisse in Beziehung zu den zahlreichen posthumen diagnostischen Versuchen. Schlimme und Gonther kommen zu einem anderen, neuen Verständnis: Psychotische Krise und mühevolle Genesung? Ja. Umnachtung? Nein.

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Hölderlin als Experte in eigener Sache

Der Ausgangspunkt unserer Überlegungen sind Hölderlins Selbstdarstellungen in Briefen an Freunde und Familie. An vielen Stellen gibt der Dichter Auskunft über sein Selbstverständnis, seine psychische Befindlichkeit und gesundheitliche Situation. Allerdings endet diese Selbsterforschung in der Korrespondenz nahezu vollständig ab 1802 nach der Rückkehr aus Bordeaux (GONTHER, REINECKE 2019, S. 122 ff.). Aus der zweiten Lebenshälfte fehlen dann – mit Ausnahme des letzten Briefs an die Mutter – fast alle brieflichen Selbstreflexionen von Friedrich Hölderlin, wohingegen uns seine Gedichte mehr und mehr als oft sehr direkte Mitteilungen seiner Selbstreflexion entgegentreten (SCHLIMME, BRÜCKNER 2017, S. 176 ff.).
Interpretationen dichterischer Werke als Selbstauskunft sind natürlich mit Vorsicht zu genießen. Sie sind sogar bei explizit autobiografischen Mitteilungen immer vom Autor bearbeitete Erzählungen erinnerter Ereignisse. Dies gilt noch viel mehr bei allen anderen literarischen Formen. Zwar schöpft der Autor immer aus seiner eigenen Erfahrung, nutzt Erlebtes und bezieht sich auf Ereignisse, die er durchlebt hat oder die ihm anderweitig bekannt oder vertraut sind. Aber er verarbeitet sie, dreht und wendet sie, macht sie seinem literarischen Projekt Untertan. Eine direkte Gleichsetzung von literarischem Produkt und gemachter Erfahrung ist somit unmöglich. Gar nicht kann man die literarischen Produkte darüber hinaus als Belege für psychopathologische oder gar diagnostische Überlegungen verwenden. Dies war insbesondere im letzten Jahrhundert ein beliebter Taschenspielertrick der Psychiater (siehe das Kapitel ab S. 19). Auch Hölderlin hat seine poetische Arbeit als selbstsorgende Technik eingesetzt; zumindest für die Turmzeit ist dies mittlerweile unstrittig (OESTERSANDFORTH 2006; EMMERICH 2010; BLANKENBURG 1983). Mit Ulrich GAIER (2014) sind wir zudem überzeugt, dass Dichten für Hölderlin Zeit seines Lebens immer auch selbstsorgende Technik war.
Zunächst gilt es, unseren eigenen Ansatz zu reflektieren. Denn auch wir werden, wie bereits angedeutet, einige von Hölderlins späteren Gedichten als Mitteilungen über dessen Befinden und Empfinden interpretieren. Die Frage ist also: Was ist unser interpretativer Zugang? Die Antwort ist klar: Unser Zugang ist hermeneutisch. Mit Hans-Georg Gadamer (1960) nehmen wir an, dass alle Verständigung immer in einem Vorverständnis ruht, das den Rahmen des Verstehens abgibt. Ein geradezu klassisches Vorverständnis ist das Klischee des umnachteten Genies im Turm, das wir hinter uns lassen müssen, wenn wir uns dem Menschen Friedrich Hölderlin nähern wollen. Erst dann können wir versuchen, den Menschen und seine Lebenswelt weitgehend zu verstehen. Dies ist zwar niemals vollständig möglich, aber insbesondere im direkten Gespräch können wir Menschen einander oft gut verstehen, auch über kulturelle und historische Grenzen hinweg. Jedoch ist uns das direkte Gespräch mit Hölderlin, in dem wir klärende Rück- und Verständnisfragen stellen könnten, nicht möglich. Stattdessen müssen wir die Gesprächsebene und damit unser Verständnis sekundär erschließen. Dieser Aufgabe widmet sich die Hölderlinforschung. Es gibt Handbücher und sorgfältig editierte Gesamtausgaben seiner Werke und Hinterlassenschaften sowie sekundäre Texte zu ihm. Das ersetzt natürlich nicht die eigene Hölderlinlektüre. Insbesondere ersetzt es nicht, das eigene Vorverständnis als ein solches zu erkennen und anzuerkennen. Hierzu war zunächst die Verabschiedung des Klischees des umnachteten Genies im Turm notwendig. Doch damit ist es nicht getan. Schließlich haben wir diese Verabschiedung aus einem bestimmten Verständnis heraus unternommen. Beispielsweise dem, dass wir eine grundsätzliche Sinnhaftigkeit und Verständlichkeit Hölderlin’scher Äußerungen aus der Turmzeit annehmen. Ja mehr noch: Wir sind nach mittlerweile fast zwei Jahrzehnten Auseinandersetzung mit Hölderlins Turmzeit überzeugt, dass Hölderlin auch in seiner Turmzeit weiterhin einen sehr klaren Blick auf den Menschen hatte und diesen auch klar und deutlich mitteilte. Aber ist das überhaupt gerechtfertigt? Genau dies gilt es im Folgenden nachzuweisen. Geben wir also Hölderlin das Wort.

Briefliche Selbstbekundung (bis 1802)

Das Material, worin Hölderlin über seine Gesundheit Auskunft gibt, ist umfangreich und kann hier nur stichprobenartig behandelt werden. Zu nennen ist der Trennungsbrief an Louise Nast, wahrscheinlich vom 25. April 1789: »[…] und du wirst dann erst einsehen, dass du mit deinem mürrischen, mismutigen, kränkelnden Freunde nie hättest glücklich werden können. Sieh! Louise! Ich will dir meine Schwachheit gestehen. Der unüberwindliche Trübsinn in mir […]« (HÖLDERLIN 1975–2008, Bd. 19, S. 97). Aufschlussreich ist auch der Brief vom August 1797 an Friedrich Schiller, geprägt von Ambivalenz: »Sie sagen, ich sollte Ihnen näher seyn […]. Aber glauben Sie, daß ich dennoch mir sagen muß, daß Ihre Nähe mir nicht erlaubt ist? […] So lang ich vor Ihnen war, war mir das Herz fast zu klein, und wenn ich weg war, konnt ich es gar nicht mehr zusammenhalten. Ich bin vor Ihnen, wie eine Pflanze, die man erst in den Boden gesetzt hat, man muß sie zudeken am Mittag. Sie mögen über mich lachen; aber ich spreche Wahrheit« (HÖLDERLIN 1975–2008, Bd. 19, S. 289 f.).
Ähnlich tief an Selbsterkenntnis wirkt der Brief an Christian Ludwig Neuffer von August 1798: »Ich werde sagen, dass ich mich nicht recht verstanden habe, wenn hienieden mir nichts trefliches gelingt. Uns selber zu verstehn! das ist’s, was uns emporbringt!« (HÖLDERLIN 1975–2008, Bd. 19, S. 319).
Die beiden Briefe an Casimir Ulrich Boehlendorff von 1801 und 1802, verfasst direkt vor der Reise nach Bordeaux und nach der Rückkehr von dort, zeigen Hölderlin unmittelbar vor seiner schwersten Lebenskrise und danach im Zustand der Rekonvaleszenz. Im ersten Brief nimmt er noch sehr traurig und ängstlich Abschied: »Aber sie können mich nicht brauchen« (ebd., S. 493). Im zweiten Brief hingegen herrscht ein distanzierter Ton: »Es war mir nöthig, nach manchen Erschütterungen und Rührungen der Seele mich festzusetzen auf einige Zeit, und ich lebe indessen in meiner Vaterstadt« (ebd., S. 499).
Von den vielen ausführlichen Schreiben voller Selbstreflexion und -kritik an Freunde, Verwandte und an seine Mutter ist noch der letzte Brief an sie von 1826 hervorzuheben. Es ist der einzige Brief aus seiner Zeit bei den Zimmers am Neckarufer, den er mit vollem Namen unterzeichnete: »Verzeihen Sie, liebste Mutter / wenn ich mich Ihnen nicht für Sie / sollte ganz verständlich machen / können. // […]« (ebd., S. 550). Unmittelbar vor ihrem Tod fasst er in wenigen Sätzen sein Lebensproblem nochmals in Worte: Er kann sich ihr nicht verständlich machen, erkennt dies und bedauert es gerade auch im Hinblick auf seine sich um ihn sorgende und ihn einengende Mutter.

Selbstauskunft im dichterischen Werk bis 1806

Neben der Selbstauskunft in seinen Briefen, die nur im jeweiligen Kontext interpretiert werden sollten, hat sich Hölderlin in seinen Werken in der ersten Lebenshälfte mit dem Weg des schwärmerischen Jünglings zu entweder Ruhm oder Wahnsinn oder beidem beschäftigt (KURZ 1979, S. 186–198; SCHLIMME 2010). So heißt es am Ende der ersten Strophe von »An die klugen Ratgeber« aus dem Jahre 1796: »Laßt immerhin, ihr Ärzte, laßt mich leben, / solang die Parze nicht die Bahn verkürzt« (HÖLDERLIN 1975–2008, Bd. 2, S. 254). Und in der Mitte der vierten Strophe: »Das Irrhaus wählt ihr euch zum Tribunale, / Dem soll der Herrliche sich unterzieh’n […]« (ebd., S. 256). Im späteren, von Hölderlin mit vorbereiteten romantischen Emblem von »Genie und Wahnsinn« lebt die von Homer und Platon überlieferte Idee des göttlichen Wahnsinns weiter, dass die Tiefe der Einsicht nur in diesem »beflügelten«, vom irdischen Leib befreiten Seelenzustand möglich sei (PLATON 2006, S. 245 ff.). Bei Hölderlin ist diese Erfahrung jedoch prekär und gefährlich. Oder, wie Hölderlin es in »Brod und Wein« an zentraler Stelle formuliert: »Nur zuzeiten erträgt die göttliche Fülle der Mensch« (HÖLDERLIN 1975–2008, Bd. 6, S. 218). Letztlich, so diese These, sind wir ein zu schwaches Gefäß, das durch die göttliche Fülle gesprengt wird.
Vermittels seiner Protagonisten Hyperion, Empedokles und der Antigone des Sophokles sowie in seinen theoretischen Schriften sucht Hölderlin den Umgang mit den Fragen des göttlichen Wahnsinns. Der Auftrag des Dichters, das Scheitern seiner Ideale, der Tod der Geliebten; das alles sind nachvollziehbare Gründe für Verzweiflung. Auch mit der Möglichkeit des Suizids lässt Hölderlin bereits den Hyperion umgehen. So heißt es im zweiten Band, im langen Brief an Bellarmin, der am Anfang auch Hyperions Schicksalslied enthält, nach dem Tod seiner geliebten Diotima (HÖLDERLIN 2004, Bd. 6, S. 161):
»Ach Notara! Auch mit mir ists aus; verlaidet ist mir meine eigene Seele, weil ich ihrs vorwerfen muß, daß Diotima todt ist, und die Gedanken meiner Jugend, die ich groß geachtet, gelten mir nichts mehr. Haben sie doch meine Diotima mir vergiftet!
Und nun sage mir, wo ist noch eine Zuflucht? – Gestern war ich auf dem Aetna droben. Da fiel der große Sicilianer mir ein, der einst des Stundenzählens satt, vertraut mit der Seele der Welt, in seiner kühnen Lebenslust sich da hinabwarf in die herrlichen Flammen, denn der kalte Dichter hätte müssen am Feuer sich wärmen, sagt’ ein Spötter ihm nach.
O wie gern hätt’ ich solchen Spott auf mich geladen! Aber man muß sich höher achten, denn ich mich achte, um so ungerufen der Mutter Natur ans Herz zu fliegen, oder wie du es sonst heißen magst, denn wirklich! Wie ich jetzt bin, hab ich keinen Nahmen für die Dinge und es ist mir alles ungewiß. Notara! Und nun sage mir, wo ist noch eine Zuflucht?«

Selbstauskunft zur Behandlung im Tübinger Klinikum

Über Hölderlins eigenes Verständnis seiner Behandlung ist mit Ausnahme der folgenden durch Wilhelm Waiblinger überlieferten Worte Zimmers nichts bekannt: »In Zorn und Convulsionen gerieth er gleich, wenn er jemand aus dem Klinikum sah« (WAIBLINGER 1981, S. 35). Wie ist dieses Schweigen zu deuten? Schließlich lag die alte Burse des Tübinger Stifts, in der die Klinik seinerzeit untergebracht war, vielleicht siebzig Meter die Straße rauf vom Zimmer’schen Haus entfernt.
Auch soll ihn Justinus Kerner, der eine mutmaßlich negative Rolle des studentischen Gehilfen in der Behandlung spielte, noch zuweilen besucht haben. Wobei zu vermuten ist, dass sich diese Worte auch auf Kerner bezogen haben (HÖLDERLIN 1975–2008, Bd. 9, S. 272). Wieso hat Hölderlin alles gemieden, was ihn an die Klinik erinnerte? Wieso brach er in Wut und Ärger aus, wenn er jemanden von dort sah oder auf der Straße traf?
Turm mit Burse
Nehmen wir die Worte Zimmers ernst und – wir greifen vorweg – bedenken wir die traumatische Qualität der Behandlung, so können wir zumindest eine psychologisch schlüssige Erklärung entwickeln: posttraumatische Belastung. Menschen erinnern sich oft unwillkürlich und mit Schrecken an traumatische Ereignisse – genau das macht sie traumatisierend. Der Schrecken, oft verbunden mit Schock, innerer Schutzwand und Ohnmacht, zuweilen aber auch mit Angst, innerer Panik und Wut, entspricht oft der Emotion, die die betreffende Person in der traumatisierenden Szene erlebt hat. Hölderlin jedenfalls geriet in Wut, wenn er direkt erinnert wu...

Inhaltsverzeichnis

  1. Cover
  2. Über die Autoren
  3. Titel
  4. Inhalt
  5. Widmung
  6. Das umnachtete Genie im Turm?
  7. Hölderlin als Experte in eigener Sache
  8. Vertrauenspersonen über ihr Miteinander mit Hölderlin
  9. Ärztliche Aussagen über Hölderlin
  10. Fazit: Ein Reiseführer ans Neckarufer
  11. Anhang
  12. Impressum