Von wegen Mimose
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Von wegen Mimose

Wie ich meine Hochsensibilität als Stärke erkannte

  1. 240 Seiten
  2. German
  3. ePUB (handyfreundlich)
  4. Über iOS und Android verfügbar
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Von wegen Mimose

Wie ich meine Hochsensibilität als Stärke erkannte

Über dieses Buch

»Sei doch nicht immer gleich beleidigt! Analysier nicht dauernd alles! Leg dir endlich ein dickeres Fell zu!« – 15 bis 20 Prozent der Bevölkerung sind hochsensibel.Hochsensible Menschen haben geringere Reizfilter und leiden mehr unter Stress und Ängsten als ihre Mitmenschen. Sie, wie auch ihre Angehörigen, empfinden Hochsensibilität oft als belastend, irritierend und beängstigend. Dabei ist diese Eigenart auch eine Stärke und ein Geschenk, wie dieser aufschlussreiche Erfahrungsbericht der erfolgreichen Autorin zeigt. Sie ermutigt ihre »Leidensgenossen« und Angehörige z. B. von hochsensiblen und introvertierten Kindern: Hochsensible können sich helfen, sie müssen nur wissen wie!

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Information

Atticus Finch und Loriot

Die Verzweiflung darüber, dauernd falsch verstanden zu werden und sich nicht richtig ausdrücken oder verteidigen zu können, kann einen irgendwann in Resignation, Depression und Isolation treiben. An diesem traurigen Zustand kann man aber glücklicherweise etwas ändern. Man kann sich nämlich mit seinem inneren Dolmetscher verbünden und ihn vermitteln lassen. Jeder Hochsensible hat irgendwo in sich diesen klugen Beobachter, der stets einen kühlen Kopf bewahrt und verständnisvoll mitansieht, was passiert. Rufen Sie ihn zu Hilfe. Am besten stellt man sich diese Person genau vor. Ist es eine Frau oder ein Mann, groß oder klein, dick oder dünn, jung oder alt, weise Alte, distinguierter Herr oder kluges Kind?
Mein innerer Beobachter ist groß und dunkelhaarig, hat eine angenehm sonore Stimme, trägt eine Brille und sieht haargenau aus wie der Anwalt Atticus Finch in dem Film »Wer die Nachtigall stört«. Atticus Finch verteidigt darin einen schwarzen Farmarbeiter, den alle für einen Mörder halten, obwohl er in Wirklichkeit unschuldig ist. Atticus ist ein aufrechter, vorurteilsloser, unbestechlicher, geduldiger Mensch, der sich nicht provozieren lässt. Außerdem ist er ein liebevoller und einfühlsamer Vater, der seinen Kindern auch Vertrauter und Lehrer ist. Er wirkt vielleicht ein klein wenig steif, aber das macht nichts. Für meine innere Bühne ist er die ideale Besetzung. Gregory Peck war in der Rolle so überzeugend, dass er dafür den Oscar bekommen hat. In kritischen Situationen kontaktiere ich heute meinen Atticus Finch. Wahrscheinlich war er immer schon da, es war mir nur nicht bewusst. Ich erkenne die beruhigende Stimme wieder, die mich schon als Kind getröstet hat. Wenn ich ihn heute brauche, ist er sofort zur Stelle, um zu vermitteln, mich zu verteidigen oder einfach nur zu beraten. Oft kann er mir auch das Verhalten anderer erklären, wenn ich sie vor lauter Selbstbeteiligung nicht verstehe. Seine Vermittlung ist nicht jedes Mal von Erfolg gekrönt, aber das muss auch nicht sein. Ein Verteidiger kann nicht jeden Fall gewinnen. Wichtig ist, dass er es versucht. Und das tut er. Ich bin froh, dass ich ihn habe, so bin ich wenigstens in diesen Situationen nicht mehr allein. Das hochsensible Störsystem kann fremde Botschaften nämlich ziemlich verzerren. Da braucht man dringend einen klaren Kopf. Sobald man emotional zu involviert ist, können die feinen Sinne das Wahrgenommene zu gordischen Knoten verwirren, und die Anlagebesitzerin nimmt alles persönlich oder viel zu ernst. Atticus Finch hat Humor und bleibt auf dem Teppich. Er hat Luchsohren und Adleraugen. Seinem ruhigen Blick entgeht nicht mal ein Wimpernschlag.
Wenn meine Schüchternheit aus Kindertagen unerwartet aktiviert wird, was auch in meinem Alter noch passieren kann, drücke ich mich trotz aller Übung und Erfahrung als Sprachvermittlerin ungeschickt aus. Früher hat es mich geärgert, heute amüsiert es mich. Nobody is perfect, schon gar nicht bei Stress. Durch meine Ladenhemmung kommt es in Geschäften besonders häufig vor. Es sind nur Kleinigkeiten, aber sie nehmen mich unverhältnismäßig stark mit.
So wie diesen Sommer in Lübeck. Ort der Handlung war ein kleiner Andenkenladen. Der Ladenhüter hatte offenbar einen besonders schlechten Tag. Ich spürte die negative Energieladung schon an der Tür und hätte mich am liebsten auf dem Absatz umgedreht oder in Luft aufgelöst. Das eine traute ich mich nicht, das andere konnte ich nicht. Also gab ich vor, mich mit den Auslagen zu beschäftigen, und kaufte schließlich einige historische Ansichtskarten. Das war ihm offenbar zu wenig. Er reichte mir wortlos die Karten.
»Hätten Sie vielleicht noch ein Tütchen oder so?«, fragte ich zaghaft.
Der bedrohliche menschliche Wehrturm starrte mich streng von oben herab an und erwiderte hanseatisch unterkühlt: »Was ist ›oder so‹?«
Ich schluckte. Wie sollte ich reagieren? Den abfälligen Kommentar einfach so stehen lassen? Eindeutig ein Fall für Atticus Finch!
Er hatte nur auf seinen Einsatz gewartet und soufflierte bereitwillig: »Ich denke, dass wissen Sie. ›Oder so‹ bedeutet, dass ich verlegen bin. Sonst nichts.«
Jetzt war der Verkäufer verlegen. Ich starrte ihn streng von unten herauf an und verließ gemeinsam mit Atticus Finch hocherhobenen Hauptes den ungastlichen Ort.
Engländer und Amerikaner
Heute finde ich extrovertierte nicht hochsensible Menschen ausgesprochen interessant, weil sie so ganz anders sind als ich und weil ich früher solche Angst vor ihnen hatte. Ich beobachte sie oft und versuche, von ihnen zu lernen. Ein wenig erinnern sie mich an Amerikaner. Eigentlich mag ich keine Klischees und weiß natürlich sehr wohl, dass jeder Engländer und Amerikaner einzigartig ist und dass es sowohl extrovertierte Engländer als auch introvertierte Amerikaner gibt, aber manchmal kann man Klischees ganz gut zur Verdeutlichung einsetzen. Amerikaner haben eine andere Aussprache und Körpersprache als Engländer und halten diese oft für eingebildete, verklemmte Snobs. Engländer dagegen halten Amerikaner häufig für ungehobelt und viel zu direkt. Ein Engländer, der höflich »not bad« murmelt, würde als Amerikaner entzückt »absolutely wonderful!« rufen. Trotzdem meinen sie beide dasselbe, man muss es nur verstehen.
Wenn Sie neben einem Engländer im Flugzeug sitzen, vertieft er sich stumm in seine Zeitung und ignoriert einen oder macht höflich Small Talk, beobachtet einen dabei aber die ganze Zeit aus den Augenwinkeln. Ganz ähnlich ist es, wenn man als hochsensibler Mensch neben einem anderen Hochsensiblen sitzt. Es kann ganz schön stressen, es sei denn, man ist sich auf Anhieb sympathisch. Wenn Engländer auftauen, dann richtig, genau wie Hochsensible. Sitzt man dagegen neben einem Amerikaner, braucht man nicht viel zu sagen und ist sofort locker. Man muss nur aufpassen, dass man keine Reizüberflutung bekommt. Der Amerikaner erzählt einem vertrauensvoll sein Leben, das seiner Frau, das seiner Tochter und das seines Schwiegersohns, inklusive Ehekrisen, Scheidungen und Bettgeschichten. Kommt auf die Länge des Fluges an. Bei Langstreckenflügen setzt man am besten nach drei Stunden die Schlafbrille auf. Amerikaner können erfrischend unverkrampft und unkompliziert sein, aber sie sind keine besonders guten Zuhörer. Vielleicht sind sie manchmal ein bisschen zu laut, aber man braucht dafür auch nicht ständig auf Feinheiten, Zwischentöne, Mehrdeutigkeiten, Augenverdrehen und Brauenheben zu achten. Ich mag beide Sprachen sehr, auch wenn ich aus biografischen Gründen britisches Englisch vorziehe. Allerdings nicht bei Interkontinentalflügen und Partys. Da lasse ich mich gern entspannt verbal berieseln.
Man könnte das fein nuancierte, komplizierte, vieldeutige Englisch mit »Hochsensibel« und das direktere, jovialere, lautere Amerikanisch mit »Normalsprache« vergleichen. Wenn ein Engländer »Good morning!« sagt, kann sein englischer Gesprächspartner daraus sofort schließen, wo er lebt, welche Schule er besucht hat, wie alt er ist und wie viel er im Monat verdient. Ein Amerikaner kann das nicht. Er würde es auch gar nicht wollen. Es wäre ihm viel zu anstrengend. Britische Filme müssen für Amerikaner sogar synchronisiert oder untertitelt werden, sonst entgehen ihnen sämtliche Feinheiten.
Ganz ähnlich ist es mit »Hochsensibel« und »Normalsprache«. Es ist gar nicht so schwer, »Normalsprache« zu lernen. Man muss nur die Grammatik etwas vereinfachen, Vokabeln umlernen und die ungewohnte Aussprache üben. Es lohnt sich, macht Spaß und erleichtert einem das Leben ungemein. Den etwas steifen Akzent wird man wahrscheinlich nie ganz los, aber das ist auch nicht nötig. Es reicht, wenn man sich endlich verständigen kann. Ein wunderbares Gefühl.
»Hochsensibel« ist manchmal ganz schön überkandidelt, aber inzwischen kann ich recht gut vermitteln. Nur wenn ich Stress habe, vergesse ich, dass ich deutlich zeigen muss, wenn ich kurz vor der Implosion oder Explosion stehe. Tue ich dies nicht, erfolgt meine Reaktion für andere wie aus heiterem Himmel. Genau wie das Zwangslachen. Wumm, ist es passiert. Je nach Temperament bricht man in Tränen aus, schreit oder gibt keinen Ton mehr von sich. Die Reaktion ist immer gleich.
»Was ist denn jetzt schon wieder los? Ich hab doch gar nichts Schlimmes gesagt!« Nein, nicht in diesem Moment. Der harmlose Satz gerade war nur der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Für andere ist meine Reaktion »unberechenbar« und »überzogen«. Hysterische Zicke! Macht mal wieder aus einer Mücke einen Elefanten! Am besten versucht man, rechtzeitig vorher zu deeskalieren oder eine kleine Auszeit zu nehmen. Notfalls kann man kurz den Raum verlassen, auf Toilette rennen, das Fenster aufreißen, frische Luft schnappen, etwas Kaltes trinken oder sich im Garten die Beine vertreten. Wichtig ist, dass man das Gespräch unterbricht.
Falschaussagen und Doppelbotschaften
Dummerweise interpretierte ausgerechnet meine Mutter viele Äußerungen von mir gänzlich falsch, zum Beispiel wenn ich nach Hause kam und erzählte, wie schön es bei meiner Klassenkameradin gewesen sei. Sätze wie »Die Claudia hat wirklich ein tolles Zimmer« verstand sie als Anklage. »Dein Zimmer gefällt dir wohl nicht mehr? So viel Geld wie Claudias Eltern haben wir leider nicht.« Was hatte ich falsch gemacht? War ich zu emotional gewesen? Beim nächsten Mal passte ich besser auf und ließ mir die Wörter lieber wieder aus der Nase ziehen.
Das Leben war voller verbaler Fallstricke. So vieles war verwirrend. Wenn ich fragte, ob ich schwimmen gehen dürfe, und meine Mutter es mir erlaubte, konnte es sein, dass sie eigentlich wollte, dass ich ihr beim Einkochen half. Abends beim Heimkommen machte sie mir dann Vorhaltungen wegen meines egoistischen Verhaltens, und ich fühlte mich schuldig. Sie erwartete offenbar, dass ich ihre Gedanken erriet, was mir zwar oft gelang, aber längst nicht immer. Schon gar nicht, wenn ich schwimmen gehen wollte. Ein paar Tage später verwirrte sich mich dann mit dem Ausspruch: »Du solltest mehr an die frische Luft, Kind. Geh doch mal schwimmen!«
Oft wusste ich nicht, woran ich war. Es fiel mir schwer, eigene Entscheidungen zu treffen, selbst wenn meine Eltern vorher versicherten: »Du kannst dich frei entscheiden!« Die wenigen Male, die ich mich tatsächlich »frei« entschied, haben sie mir nie verziehen. Selbst hochsensible Kinder haben dummerweise gelegentlich andere Wünsche als ihre Eltern. Wenn ich mich gegen meine eigenen Wünsche entschied, weil ich spürte, dass es von mir erwartet wurde, waren meine Eltern zufrieden, aber ich war frustriert. Das typische hochsensible Abgrenzungsproblem. Mit Egoismus hat Abgrenzung hier wenig zu tun. Eher mit Selbstschutz.
Auch heute noch frage ich als ehemals gebranntes Kind gelegentlich sicherheitshalber nach: »Bist du jetzt nur höflich? Wünschst du dir in Wirklichkeit etwas anderes? Wenn ja, dann sag es mir bitte!« Ich hasse Doppelbotschaften, davon hatte ich als Kind mehr als genug.
Mit meinem Mann habe ich einen guten Deal. Wir haben unterschiedliche Interessen und Vorlieben und unternehmen daher vieles getrennt, sagen aber stets offen, wenn es für uns wichtig ist, dass der andere zu einer Veranstaltung oder einer Feier mitkommt, zu der er eigentlich nicht so gern gehen möchte. Ich kann mich darauf verlassen, dass mein Mann meint, was er sagt. Umgekehrt ist es genauso. Keine Doppelbotschaften, keine nagenden Zweifel, keine nachträglichen Schuldgefühle. Freie Meinungs- und Wunschäußerung: »Es wäre zwar schön, wenn du dabei sein könntest, aber ich kann gut verstehen und bin dir überhaupt nicht böse, wenn du lieber zu Hause bleibst.«
Notfalls kann man auch Kompromisse schließen. Mein Mann weiß, dass mir größere Veranstaltungen ein Graus sind. »Wenn es für dich zu viel wird, gehen wir früher.« Das machen wir dann auch. Wir haben Signale, die dem anderen zeigen, dass es »genug« ist. Manchmal ist es auch so schön, dass wir doch länger bleiben. Da bin ich flexibel. Für mich ist das eine späte Befreiung, ich weiß endlich, woran ich bin. Keine Fangfragen. Keine Gespräche, bei denen ich irgendwann ausraste, weil ich mich stundenlang nicht gewehrt und alles in mich hineingefressen habe. Probleme und Missverständnisse werden rechtzeitig angesprochen, bevor die Stresslawine losrollt. Manchmal sind es wirklich nur Kleinigkeiten, etwa ein »Übersetzungsproblem«, das sich leicht klären lässt. »So habe ich das gar nicht gemeint, für mich bedeutet dieses Wort etwas völlig anderes!«
Am Anfang unserer Ehe mussten wir häufig derartige Worterklärungen abgeben. Mein Mann war zunächst ziemlich verwundert darüber, dass ich so empfindlich auf Kritik reagierte und mich für alles rechtfertigte. So hatte ich es zu Hause gelernt. »Die Schuldfrage wäre damit schon mal geklärt«, sagte er dann freundlich, und wir mussten beide lachen. Inzwischen weiß ich, dass es konstruktive Kritik gibt und nicht jedes kritische Wort ein Angriff auf die eigene Person ist.
Einfach nur sitzen
Hochsensible und introvertierte Menschen sind nicht ungesellig oder menschenscheu, sie sind nur wahnsinnig gern allein. Sie müssen sich manchmal zurückziehen oder schweigen, um auszuruhen, aufzutanken und zu regenerieren. Wir sind dabei nicht unglücklich. Wir brauchen regelmäßig Auszeiten! Manchmal möchten wir einfach nur dasitzen und unseren Gedanken nachhängen, ins Leere gucken und gar nichts tun. Das ist für uns kein Stress. Dumm nur, dass einem das keiner glaubt. Kennen Sie den Sketch »Feierabend« von Loriot?
Der knollennasige Gatte sitzt im Sessel. Leise Musik ist zu hören. Die Gattin werkelt derweil in der Küche, rennt ständig unruhig hin und her, scheppert mit den Töpfen, fragt immer wieder laut nach, was er denn da mache, und schlägt Lösungen für ein Problem vor, das er gar nicht hat.
»Warum liest du nicht? Du liest doch sonst immer so gern! Soll ich dir die Zeitung bringen? Mach doch den Fernseher an! Warum gehst du nicht spazieren? Soll ich dir den Mantel bringen? Tu doch was! Du kannst doch nicht einfach nur so dasitzen! Warum machst du nichts, was dir Spaß macht? An was denkst du?« Der arme Mann möchte Teufel noch eins einfach nur in Ruhe gelassen werden, muss der Nervensäge jedoch ständig Rede und Antwort stehen und immer wieder erklären, dass er einfach nur dasitzen möchte. Sonst gar nichts! Genau das kann er nicht, weil sie ihm nicht glaubt! Sie weiß natürlich genau, was für ihn am besten wäre. Sie nervt so lange, bis ihm der Kragen platzt. Nach der Frage »Warum brüllst du mich denn so an?« brüllt er verzweifelt: »Ich brülle dich nicht an!« und sackt wieder in seine Ruheposition zurück.
Das klassische Kommunikationsproblem zwischen introvertierten Hochsensiblen und Normalsensiblen. Nicht dass Herr Knollennase introvertiert oder hochsensibel wäre, er will einfach nur seine Ruhe. Trotzdem ist es ein gutes Beispiel. Viele Menschen können sich einfach nicht vorstellen, wie wunderbar es ist, einfach nur dazusitzen und gar nichts zu tun. Sie selbst würden sich dabei zu Tode langweilen oder Hüttenkoller bekommen.
»Feierabend« war lange der Sketch meines Lebens. Störende Fragen wie »Hast du was?«, »Warum bist du so still?«, »Lebst du noch?«, »Ist irgendwas?«, »Bist du sauer auf mich?«, »Hab’ ich dir was getan?« treiben einen irgendwann zur Verzweiflung, wenn man einfach nur schweigen möchte. Als ich noch unterrichtete, war ich nach zwei Doppelstunden so kraftlos, dass ich zu Hause erst mal nicht angesprochen werden wollte. Das hatte nichts, aber auch gar nichts mit den Menschen zu tun, die mein Leben teilten. Ich brauchte nur Stille in meinem schwirrenden Kopf, aber sie nahmen es persönlich, fühlten sich vernachlässigt, machten mir Schuldgefühle oder unterstellten mir Launenhaftigkeit. Erklärungen waren zwecklos. Am Ende stieg ich eine Haltestelle vorher aus und ging den Weg zu Fuß, um meine Auszeit zu haben.
Hochsensible brauchen Ruhephasen so nötig wie die Luft zum Atmen. Sie sind gern allein! Alleinsein bedeutet für sie nicht Einsamkeit. Alleinsein bedeutet, dass sie zur Abwechslung mal mit jemandem zusammen sind, der sie wirklich versteht! Auch mein Vater zog sich gern in sein Zimmer zurück, um einfach nur dazusitzen, was meine extrovertierte Mutter überhaupt nicht verstand. Sie hasste es, allein zu sein. Stille machte ihr Stress und musste mit reden und Aktivität gefüllt werden.
Mein Vater verbrachte fast seine gesamte Freizeit in seinem Nutzgarten am anderen Ende des Dorfes. Wenn ich als Kind neben ihm auf der Gartenbank saß, griff er manchmal nach meiner Hand und sagte: »Mit dir kann man so schön schweigen.« Ich wusste genau, was er meinte.
So war es auch, wenn wir allein in Urlaub fuhren. Wir gingen viel spazieren, und unser Schweigen war leicht und entspannt. Zu Hause redete mein Vater leider genauso viel und laut wie meine Mutter. Meiner Schwester fiel schon nach zwei Minuten Alleinsein die Decke auf den Kopf, und sie musste dringend unter Menschen und etwa »unternehmen«, während ich am liebsten in meine Bücher abtauchte. Meine Abenteuer fanden im Kopf statt.
Mit meinem Mann kann ich glücklicherweise wunderbar schweigen. Es ist ein freundliches, vertrautes Schweigen. Manchmal sitzen wir still nebeneinander im Garten oder Café und lesen oder schreiben. Auf Außenstehende mag das befremdlich wirken, für uns ist es angenehm. Es gibt viele Arten von Schweigen. Man muss sie nur verstehen. Mein Mann deutet sogar meinen »Bildschirmschoner« richtig.
Petersilie und Bildschirmschoner
Bereits auf Kinderfotos sehe ich ernst und ein wenig »grimmig« aus. »Irgendwann bleibt di...

Inhaltsverzeichnis

  1. Cover
  2. Titel
  3. Inhalt
  4. Widmung
  5. Wie von einem anderen Stern
  6. Chamäleon
  7. Synästhesie und Farbenspiele
  8. Hochsensible Wortklaubereien
  9. Kinderjahre
  10. Rohrstöcke und brüchiges Eis
  11. Bühnenpräsenz und Brandungsfels
  12. Sprachverwirrungen
  13. Atticus Finch und Loriot
  14. Macht der Gedanken
  15. Jagdhundnase und Elefant
  16. Luchsohren und Kopfhörer
  17. Verbenentee und Bitterstoffe
  18. Adleraugen und Sonnenbrille
  19. Aschenputtel und Sandbaby
  20. Der »sechste« Sinn
  21. Der »siebte« Sinn
  22. Bilderfluten und Traumata
  23. Träume und Schäume
  24. Das kleine große Glück
  25. Danke
  26. Literatur
  27. Impressum