Islandtief (1)
Schwimmen in der Timeline
Die Berit-Glanz-Kolumne
Vor einigen Tagen war ich in der Blauen Lagune (Bláa Lónið), die sich im Südwesten Islands befindet und eines der beliebtesten Ziele für die Besucher der nordatlantischen Vulkaninsel ist. Die Lagune liegt in einem einsamen Lavafeld, das während eines Vulkanausbruches im 13. Jahrhundert entstand und Illahraun (»schlimme Lava«) genannt wird. Der Name ist ziemlich treffend für die große Fläche, deren steinige Oberfläche so scharfkantig und brüchig ist, dass man sie nur schwer passieren kann. Die Touristenattraktion ist noch recht jung, da sie als Nebenprodukt eines Geothermie-Kraftwerks entstand, das erst Ende der 1970er-Jahre gebaut wurde.
Das Kraftwerk pumpt mit mehreren Pumpen aus bis zu zwei Kilometern Tiefe kochend heißen Wasserdampf an die Oberfläche, der für Stromerzeugung und Fernwärme verwendet wird. Das abgekühlte Abwassergemisch aus Meerwasser und Süßwasser wurde mit Aufnahme des Betriebs in das Lavafeld geleitet, wo es mit der Zeit einen Badesee bildete. Der hohe Kieselsäuregehalt des Wassers sorgt für eine leuchtend milchig-blaue Farbe des Sees, dessen knapp 40 Grad heißes Wasser in die kalte Polarluft dampft. Ende der 1990er-Jahre wurde daraus ein großes Thermalfreibad, das sich rasch zu einer der wichtigsten Touristenattraktionen Islands entwickelt hat.
Der Tourismus ist eine wichtige Einnahmequelle der Insel und spielte eine entscheidende Rolle für die Erholung der lokalen Wirtschaft nach der großen Krise von 2008. Allerdings begann nach Jahren des beinahe ungebremsten Wachstums der internationale Hype um die Insel bereits ab 2017 etwas abzuflauen. Die Pandemie hat den Sektor noch empfindlicher getroffen, mit einer Abnahme der Besucherzahl um 80 Prozent im Jahr 2020.
In den letzten Monaten reisen jedoch wieder mehr Touristen nach Island, das von vielen aufgrund der hohen Impfquote als relativ sicheres Reiseland eingeschätzt wird. Und so war auch die Blaue Lagune bei meinem letzten Besuch gut gefüllt mit Menschen, deren Köpfe wie die von Seehunden aus dem warmen Wasser ragten. Die Luft war an diesem Herbsttag schon sehr kühl, sodass sich besonders dicke Dampfschwaden über der undurchsichtigen Wasseroberfläche bildeten.
Ich habe die Blaue Lagune in den letzten Jahren nicht sehr oft besucht, was vor allem daran lag, dass es zur Hochphase des Tourismusbooms ein Buchungssystem für die begehrten Plätze gab und die Eintrittspreise von Jahr zu Jahr erhöht wurden. Das letzte Mal war ich vor etwas mehr als einer Dekade in dem Thermalbad, und schon damals fand ich es amüsant, zu sehen, wie die Badenden mit ihren weiß beschmierten Gesichtern langsam umherwateten und -schwammen. Es ist ein entscheidender Bestandteil des Besuches der Lagune, sich eine Maske aus Kieselsäureschlamm aufzutragen, die eine heilende Qualität haben soll und den badenden Besuchern aus einem großen Topf mit dem Löffel in die Hand gestrichen wird, was dem Ganzen den Charakter einer Kombination aus Kantinenspeisung und Kosmetikbehandlung gibt.
Als ich an diesem Oktobertag vor leicht beschlagenem Spiegel die weiße Paste großzügig in meinem Gesicht verteilte und dabei die Menschen im Bad hinter mir beobachtete, wie sie in den Dampfschwaden verschwanden und wieder auftauchten, begann ich über das Gesetz des sich beschleunigenden Nutzens nachzudenken, das von Vorstellungen eines exponentiellen technologischen Wachstums im Zeitalter der Digitalisierung entscheidend geprägt ist. Der Thermalbadbesuch, den ich eine Dekade zuvor noch als ausgesprochen körperliche und an den konkreten Ort gebundene Erfahrung wahrgenommen hatte, war mittlerweile zu einer Art Zwischenort zwischen dem realen und dem virtuellen Raum geworden – ein Zeichen des fundamentalen technologischen Wandels.
Bei meinem letzten Besuch in der Blauen Lagune war Instagram noch brandneu. Die Plattform wurde erst im Oktober 2010 auf den Markt gebracht, und auch die Handykameras waren damals noch nicht ansatzweise so gut, wie sie es heute sind. Man sagt, dass ein Menschenjahr sieben Hundejahren entspricht. Passt man diese lineare Gleichung auf eine als exponentiell gedachte technologische Entwicklung an, in der sich der technologische Fortschritt jedes Jahr verdoppelt, dann würden zehn Menschenjahre 1024 Technikjahren entsprechen. Ich befand mich also aus einer technologischen Perspektive betrachtet eine halbe Ewigkeit entfernt von meinem letzten Besuch an diesem Ort.
Das technologische Jahrtausend, das mich von meinen Erlebnissen in der Blauen Lagune eine Dekade zuvor trennte, erschien mir besonders deutlich, als ich die in Dampfschwaden umgebenden anderen Badenden betrachtete. Die allermeisten trugen Plastikschutzhüllen, in denen ihre Smartphones sicher verpackt waren, fotografierten und filmten sich fortlaufend. Eine junge Italienerin wandelte in dem brusthohen Wasser videochattend an mir vorbei und beschrieb enthusiastisch ihr Erlebnis für eine Person, die aus der Ferne zuschauen durfte.
Unter dem Hashtag #BlueLagoonIceland finden sich auf Instagram über 100 000 Bilder von Menschen, die sich in dem Thermalfreibad inszenieren. Auf Instagram verbreitete Aufnahmen aus der Blauen Lagune sind neben einigen anderen isländischen Schauplätzen entscheidender Bestandteil an der seit über einer Dekade anhaltenden Beliebtheit der Insel bei Reise-Influencern und Privatpersonen. Die isländische Natur ist auf Instagram außergewöhnlich attraktiv und motiviert immer neue Reisende, zu den beliebten Orten zu reisen, die sie bereits in den sozialen Medien kennengelernt haben.
Ungefähr eine halbe Milliarde Menschen öffnen täglich die Instagram-App und scrollen durch die Unmengen an Bildern, die ihre Timelines fluten. Da Menschen sich auf diesen Aufnahmen besonders gerne an aufregenden und ästhetisch beeindruckenden Orten inszenieren, ist in den letzten Jahren ein Phänomen entstanden, das als Instagram-Tourismus bezeichnet wird. Die auf der Plattform geteilten Bilder sind nicht nur das Geschäft zahlreicher Influencer oder das Privatvergnügen normaler User, sondern ein handfester Wirtschaftsfaktor und Teil der touristischen Markenbildung in den sozialen Medien.
Fotografie und Tourismus sind schon seit dem 19. Jahrhundert als Phänomene miteinander verknüpft, und es gibt zahlreiche Studien, die die Entstehung eines touristischen Blicks und seine Wechselwirkungen mit der frühen Fotografie untersuchen. Die visuelle Verarbeitung und Verbreitung ist Teil des touristischen Konsums dieser »sehenswürdigen« Orte. Der Soziologe John Urry hat dieses Phänomen in The Tourist Gaze 3.0 als eine Art hermeneutischen Zirkel touristischer Bildproduktion beschrieben, bei dem die Reisenden die Bilder vor Ort reproduzieren, die sie bereits zuvor konsumiert haben.
Auch bei meinem Besuch in der Blauen Lagune beobachtete ich interessiert, wie die Vielzahl der Anwesenden immer wieder ähnliche Aufnahmesituationen produzierte. Mit den Körpern bis zur Brusthöhe vom hellblauen Wasser verborgen, wird ein Bildausschnitt gewählt, der möglichst wenige andere Menschen beinhaltet. Die Blickachse wird soweit möglich abgewendet von den menschengemachten Gebäuden des Bades hin zu einem Hintergrund aus Lavasteinen.
Es ist in den letzten Jahren zu einem eigenen beliebten Online-Phänomen geworden, diese touristischen Selbstinszenierungen zu entlarven, wenn die Bilder einsamer Menschen in szenischer Landschaft Weitwinkelaufnahmen gegenübergestellt werden, die zeigen, wie unzählige Menschen versuchen, ähnliche Aufnahmen zu produzieren oder in langen Schlangen stehen, um sich nacheinander in scheinbar einsamer Natur abbilden zu lassen. Der populäre Account Boyfriends of Instagram zeigt beispielsweise nur Bilder und Clips, in denen die harte Arbeit der Bildproduktion für Instagram sichtbar wird.
Auch in der Blauen Lagune wirkte die fotografische Dokumentation des eigenen Erlebens auf mich teilweise ziemlich anstrengend. Immerhin mussten die in Plastik vor Spritzwasser geschützten Smartphones während des Besuches vorsichtig über der Wasseroberfläche gehalten werden, und auch die anhaltende Suche nach guten Bildausschnitten machte einen ganz anderen Eindruck, als die auf den Bildern inszenierte Tiefenentspannung suggeriert, die man unter dem Hashtag #BlueLagoonIceland auf Instagram finden kann.
Es wäre nun jedoch ein Leichtes, in kulturpessimistisches Händeringen zu verfallen und einen Schwanengesang auf ein vermeintlich authentisches Naturerleben zu komponieren, aber eine solche Litanei würde ignorieren, dass es bei touristischem Erleben schon immer auch darum ging, die Vergänglichkeit kurzer Momente durch ihre Dokumentation in Bildern und Videoaufnahmen dem Lauf der Zeit zu entreißen. Erinnerst du dich noch an damals, als wir die Tauben auf dem Trafalgar Square gefüttert haben, oder an diese Pizza in Capri? Solche auf das rein Dokumentarische reduzierten Vorstellungen touristischer Fotografie sind inzwischen in der Tourismusforschung zugunsten einer performativen Wende verabschiedet worden. Der Kulturanthropologe Orvar Löfgren schreibt in On Holiday. A History of Vacationing bereits 1999, dass die kreative Produktion der touristischen Bilder ein eigener Teil des Erlebens ist. Der Akt des touristischen Fotografierens wird aus dieser Perspektive zu einem Freude auslösenden Selbstzweck. Die Suche nach guten Bildausschnitten, die performative Umsetzung des touristischen Blickes ist für den touristischen Genuss zentral.
Die Dokumentation des individuellen Reiseerlebnisses und das theatrale Spektakel touristischer Selbstinszenierung sind also nicht neu. Aber warum wirkt mein Erleben der Blauen Lagune im Jahr 2021 auf mich so, als würde zwischen meinen Besuchen nicht eine Dekade, sondern ein technologisches Jahrtausend liegen? Der für mich auffälligste Unterschied war, dass die Dokumentation und die Inszenierung mittlerweile in einem Moment drastischer Verdichtung quasi zeitgleich stattfanden. Die touristischen Bilder werden simultan zur Inszenierung im eigenen Account abgespeichert. Das Erlebte wird nicht erst verzögert nach der Reise präsentiert, sondern im Moment des Erlebens in Livestreams oder Videochats geteilt.
Mit dem Reinszenieren populärer Bildmotive positionieren sich die Badenden, noch während sie sich am realweltlichen Ort befinden, direkt im sozialmedialen Bedeutungsgewebe. Die Blaue Lagune wird zeitgleich zu einem virtuellen Erlebnisort. Während die Nebelschwaden in der Realität noch um die schwimmenden Besucher wabern, ist ihre virtuelle Repräsentation bereits in den globalen Fluss der Timelines eingegangen.
INTERMEZZO
Wann sind Sie einmal eine ungewöhnliche Koalition eingegangen?
Konstanze Marx
Hier kann ich es ja sagen: Ich habe einen HACA-Leiterschein. Er bestätigt, dass ich die damals geltenden Normen für sichere Leitern kannte: Trittprofil und -breite, Handläufe, Verbindungsstücke, Höhe, Befestigung. Auch mit Schrauben kenne ich mich aus, und vor allem mit Muttern, sechskantigen Sicherungsmuttern etwa, die mit dem elastischen Klemmteil. Man darf sie nur einmal verbauen. Der Wartungszyklus von Feuerlöschern oder Fahrstühlen?
Fragen Sie mich einfach. Verlegt jemand Kabel quer durch den Raum oder sind Stolperfallen in Gebäuden nicht markiert, läuten bei mir nach wie vor die Arbeitssicherheitsglocken. RAL-Töne in verschiedenen Grautönen (Loriot lässt grüßen) – und Rotabstufungen? Kann ich zuordnen. Ich kann bis heute an keiner Windmühle vorbeifahren, ohne Hersteller- und Betreibernamen zu eruieren oder Turmhöhe und Rotorblattlängen abzuschätzen. Und wie man Blitzschäden repariert, vergesse ich schon allein deswegen nicht, weil sich der aminische Geruch von Epoxydharzhärter in mein olfaktorisches Gedächtnis eingetragen hat.
Ich bin einmal eine Koalition mit dem Wind eingegangen, besser mit dessen Kraft.
Der Grund dafür ließe sich aktuell leicht unter #IchbinHanna subsumieren. Nach meinem Germanistikstudium – ich belasse es einmal bei der Benennung meines Hauptfachs, weil sich so die vielfach kolportierte Brot- und Aussichtslosigkeit prototypisch akzentuieren lässt – und meiner Promotion stand mir, gerade Mutter geworden, die Welt gar nicht mehr so offen. Mein Stipendium war beendet, das Wissenschaftszeitvertragsgesetz just in Kraft getreten. Auf minimale Zeiträume befristete Verträge schienen mir keine Option, wenn ich gut für mein Kind sorgen wollte, und am Ende zeichnete sich aufgrund der nun gesetzlich festgeschriebenen Perspektivlosigkeit ohnehin der Weg heraus aus dem akademischen Umfeld ab. Geisteswissenschaftler*innen – so war mir damals natürlich noch ohne Genderstern im Studium sehr häufig gesagt worden – verfügten jedoc...