Ändere deine Welt
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Ändere deine Welt

Wie ein Bauer zum Fluchthelfer wurde

  1. 264 Seiten
  2. German
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Ändere deine Welt

Wie ein Bauer zum Fluchthelfer wurde

Über dieses Buch

Dieses Buch ist das außergewöhnliche und bewegende Zeugnis eines Mannes, der sich gegen den Zynismus der Behörden auflehnt. Eigentlich wollte Cédric Herrou, der Welt überdrüssig, ein einfaches und zurückgezogenes Leben als Olivenbauer im abgeschiedenen Royatal führen. Doch dann sah er immer mehr Geflüchtete an der französisch-italienischen Grenze stranden, wenige Kilometer von seinem Hof entfernt. Er sah, wie die Polizei sie systematisch – und widerrechtlich – an der Weiterreise hinderte. Und er sah das Elend und Leid in den Augen dieser Menschen. Wie viele andere hätte er seine Tür geschlossen halten und wegschauen können, entschied sich aber dafür, im Namen der Menschenwürde diesen Vertriebenen und Misshandelten zu helfen. Er brachte sie auf seinem Hof unter und fuhr sie zum nächstgrößeren Bahnhof, von wo aus sie ins Landesinnere gelangen konnten. Schritt für Schritt baute er seine Aktivitäten aus. Zunächst sammelte er im Internet Spenden für den Kauf eines größeren Autos, dann verwandelte er sein Zuhause in ein improvisiertes Empfangszentrum, wo Geflüchtete dank seines hartnäckigen juristischen Kampfes schließlich auch ein Asylgesuch stellen konnten. Sein Engagement, über das immer mehr nationale wie internationale Medien berichteten, trug ihm zahllose Verhaftungen und Prozesse ein. Gleichzeitig machte es ihn zum Gesicht des zivilgesellschaftlichen Widerstands gegen die unmenschliche Abschiebungspraxis des französischen Staates im Royatal. "Ändere deine Welt" liest sich spannend wie ein Krimi. Die Autobiografie zeichnet die persönliche Entwicklung Herrous vom apolitischen Punk über den eremitischen Bauern zum Migrationsaktivisten in den Jahren 2015 bis 2020 nach.

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1. Primavera

Das Motorrad rast die Talstraße hinab, legt sich in die Kurven. Es röhrt auf Hochtouren wie ein alter Traktor, und das Echo hallt von den mit jungen Flaumeichen- und Pinienwäldern, Olivenbäumen und Ginster bewachsenen Felsen wider. Dann, an der Fassade baufälliger Gebäude, so grau wie der Fels im Bett der Roya, sind ein paar fast unleserliche Buchstaben zu erkennen, »Zoll«. Der Mann auf dem Rücksitz klammert sich an die Jacke des Fahrers. Sie kommen aus dem Royatal in den Alpes Maritimes mit ihren schneebedeckten, fast dreitausend Meter hohen Gipfeln.
Sie haben Breil-sur-Roya durchquert, wo an den Ästen der Olivenbäume, im Widerspruch zu den verschneiten Gipfeln, schon kleine Trauben weißer Blüten hängen. Manche beginnen sich bereits zu öffnen und einen milden, süßen Duft zu verströmen, der ein nach Mandeln, Artischocken, frisch gemähtem Gras oder, je nach Reife, nach Heu schmeckendes Öl verspricht. Dieses schöne Tal verbindet die verschneiten Berge im südlichen Piemont mit dem Mittelmeer, Frankreich mit Italien. Zwei Staatsgebiete, die sich dieselbe Landschaft teilen, dieselben Wege benutzen, dasselbe Wasser trinken, denselben Boden nach denselben Riten kultivieren. Der Mond, der Herrscher über die Kulturen, hat dort mehr Macht als die Schrift.
Das Motorrad hat seit ein paar Kilometern die Grenze passiert und befindet sich im Niemandsland, wo alte Gebäude, italienische wie französische, von einer vergangenen Epoche zeugen. Es fährt weiter die Roya entlang bis zu ihrer Mündung in Ventimiglia, einem Touristenstädtchen an der Küste, das für seinen Schmugglermarkt bekannt ist, und wendet sich dann nach Westen in Richtung Menton. Etwa hundert Meter vor der Grenze an der Küste ertönt plötzlich die schrille Stimme des Mitfahrers: »Pass auf, da sind Bullen!«
Auf den Buhnen, Felsblöcken, die die Wellen brechen sollen, stehen etwa hundert ebenholzschwarze Menschen und auf beiden Seiten der vorbeiführenden Straße italienische und französische Polizisten, reglos wie Statuen, die diese Menschen blockieren. Die Atmosphäre ist bedrückend. Der Motorradfahrer meint die sich mischenden Sprachen zu erkennen: Französisch, Italienisch, Englisch, Arabisch. Er erkennt auch Gesichter aus seinem Tal, fragt sie, was los ist, und erfährt, die Menschen mit ebenholzschwarzer Haut sind »Migranten«, die weder Italien noch Frankreich haben will. Sie haben sich auf die Felsen im Meer gestellt und drohen, sich ins Wasser zu stürzen, wenn die Polizei versucht, sie abzutransportieren, und sie können nicht schwimmen. Auf dem Trottoir türmen sich Wasserflaschen und die allernötigsten Dinge zum Leben. Ein Stromaggregat speist eine ganze Reihe von Steckerleisten, an denen dutzende Mobiltelefone aufgeladen werden.
Etwas Derartiges sieht der Motorradfahrer zum ersten Mal in Europa. Er begegnet dem Blick eines etwa zwanzigjährigen Mannes. Eine Narbe unter dem rechten Auge, das etwas gelbliche Weiß der Augen, er flößt ihm kein großes Vertrauen ein. Der junge Mann lächelt ihn an. Verlegen deutet der Motorradfahrer ein leichtes Nicken an und setzt seinen Helm wieder auf. Nach ein paar Metern wird er von italienischen Polizisten kontrolliert, die seine Papiere fotografieren und fragen, was er hier tue.
»Nichts.«
»Ok, buona giornata.«
Als der Motorradfahrer weiterfährt, fühlt er sich unwohl. Der Mann auf dem Rücksitz scheint eine Tonne zu wiegen. Widersprüchliche Gefühle beherrschen ihn, eine Mischung aus Empathie und Verständnislosigkeit. Wer sind diese Leute? Woher kommen sie, wovor fliehen sie? Warum haben sie eine so gefährliche Reise gemacht, um dann auf diesen Felsen zu stranden? Was wollen sie, was erwarten sie? Was für Pläne haben sie, haben sie überhaupt welche?
So, wie sie da standen, so viele auf einmal, sieht er keine Einzelnen mehr, er sieht eine Gruppe – und eine Gruppe macht Angst. Er schafft es nicht, diese Menschen als Einzelne zu sehen, er sieht eine Masse unter dem Oberbegriff »Migranten«. Wie kann man gegenüber einer solchen Menschenmenge Empathie empfinden? All diese Fragen erschrecken ihn. Er fährt nach Hause; dann vergisst er sie.

2. Mein erstes Mal

Ein Jahr später, im Frühjahr 2016. Diesmal sitze ich nicht auf dem Motorrad, sondern in meinem Kastenwagen C15; ich fahre dieselbe Strecke in umgekehrter Richtung, von Ventimiglia nach Breil-sur-Roya. Ich kenne die kurvenreiche Straße in- und auswendig und habe die schlechte Angewohnheit, die Kurven mit einem Bier in der einen und einer Zigarette in der anderen zu nehmen. Plötzlich tauchen in der Dunkelheit Gestalten vor mir auf, die die Straße entlanglaufen. Aus meinen Träumereien aufgeschreckt, reiße ich das Steuer herum, um ihnen auszuweichen. Mit einem Kloß im Hals drücke ich meine Kippe aus und fahre weiter.
Es ist Donnerstagabend; wie jede Woche habe ich meine Eier, meine Pasta und mein Olivenöl in Nizza ausgeliefert. Vor ein paar Jahren habe ich dort Kunden gefunden, die Achtung vor der Landwirtschaft haben, keine Massenkonsumhändler. Wenn es wegen des Wetters oder eines Fuchsüberfalls weniger Eier gibt, haben sie Verständnis; in der einen Woche bekommen sie kaum etwas, die nächste ist besser, das sind eben die Wechselfälle der Landwirtschaft.
Aber was tun diese Leute auf der Straße? Ich meine, Kinder gesehen zu haben … Die Nacht ist so dunkel, und sie haben keine Lampe – ich habe Angst, dass sie überfahren werden. Ich bin genervt. Kehre um. Auf ihrer Höhe angekommen, erkenne ich zwei Kinder und ihre Eltern. Es muss Mitternacht sein. Ihre Haut ist so dunkel wie die Nacht, die von meinen Scheinwerfern nur schwach erleuchtet ist. Ich schlage ihnen vor, hinten einzusteigen, sich zwischen die leeren Eierkartons zu setzen. Sie wollen zu einem Bahnhof. Aber zu dieser späten Stunde fährt kein Zug mehr. Ich lade sie zu mir ein und biete ihnen an, sie am nächsten Tag zu begleiten.
Unten an dem steilen Pfad, der zu meinem Haus führt, spüre ich, dass sie Angst bekommen. Weiter unten die etwas bedrohlichen Fluten der Roya. Gegenüber an der Gebirgsflanke steigt der Hang steil an, und man sieht praktisch nichts durch die dichte Vegetation. Dort hinauf sollen sie. Nicht sehr beruhigend. Dieser Bärtige mit der runden Brille könnte sie entführen, ausrauben oder Schlimmeres, wie das auf den Wegen des Exils oft genug passiert …
Nur die beiden Kinder scheinen vertrauensvoll; das ist das Gute mit Kindern: nicht nötig zu reden, Blicke genügen. Die Mutter wirkt erschöpft und hinkt; der Vater, ernst, bleibt stumm. Wir steigen im Gänsemarsch hinauf, einen Jungen habe ich auf dem Arm, der größere geht im Schein meiner Stirnlampe hinterher.
Ich habe dieses verwilderte Stückchen Land 2002 gekauft, wieder urbar gemacht und hergerichtet. Seit dem Krieg nicht mehr genutzt, war das weite Gelände am Hang ein Dschungel, das Haus fast eine Ruine. Ich habe mich um die Olivenbäume gekümmert und meine Hühner aufgezogen. Ich bin glücklich hier oben, weit weg von der Welt, die mir oft unerträglich ist. Jetzt holt sie mich ein.
Wir essen schnell eine Kleinigkeit. Der Mann legt sich aufs Sofa, die Frau mit den beiden Kindern auf eine Matratze auf dem Boden, unter ein paar Decken. Ich klettere in mein Zimmer auf der Galerie hinauf, direkt über ihnen, voller Unbehagen, aber beruhigt, sie nicht mehr am Straßenrand zu wissen. Nachdem ich selbst schon Tausende Kilometer per Anhalter gefahren bin, kann ich doch niemanden am Straßenrand stehen lassen.
Am Morgen weckt mich Kaffeeduft, die Matratze ist weggeräumt, die Decken zusammengefaltet, alle vier sind draußen auf der kleinen Terrasse. Ich radebreche die paar Brocken Arabisch, die ich während meiner Afrikareise gelernt habe, und sage, dass ich Brot kaufen gehe. Ein Vorwand, um fünf Minuten allein zu sein und nachzudenken.

3. Persona non grata

Auf dem Weg zur Bäckerei rufe ich eine Freundin an, Françoise Cotta, halb Punk, halb Bourgeoise, exzentrisch und anständig und eine angesehene Pariser Strafverteidigerin. Sie hat ein Haus in Breil, wo sie sich oft aufhält. Sie nimmt ab und erklärt mir ohne die geringste Verlegenheit, dass ich sie störe. Für diese Unverblümtheit ist sie bekannt. Sie geht ihr zufolge auf einen Herzanfall zurück, den sie vor ein paar Jahren hatte; seither nimmt sie kein Blatt vor den Mund. Aber dann antwortet sie wie aus der Pistole geschossen: Sie wird mir helfen, die kleine Familie aus dem Tal zu bringen.
Sie könnten problemlos in Breil-sur-Roya den Zug nehmen, der Bahnhof liegt nur fünf Autominuten von mir entfernt. Aber da würden wir sie in die Falle laufen lassen, denn am nächsten Bahnhof, in Sospel, wird systematisch kontrolliert und sie würden wahrscheinlich verhaftet und nach Italien zurückgeschoben werden. Ich hatte auch an manche Aktivisten gedacht, die ich letztes Jahr bei den Buhnen in Menton gesehen hatte, Mitglieder der Bürgerinitiative Roya citoyenne, die die Talbewohner zu überzeugen versuchen, ebenfalls Essen an die in Ventimiglia festsitzenden Migranten zu verteilen oder diejenigen zu beherbergen, die sich ins Tal verirren. Aber die rief ich lieber nicht an aus Angst, sie würden mir auf den Wecker gehen und verlangen, dass ich mich an ihren Aktionen beteilige und mehr Leute bei mir aufnehme.

Der »autorisierte« Checkpoint

Das Royatal zu verlassen ist nicht einfach, denn seit ein paar Monaten sprießen Polizeisperren aus dem Boden. Die erste sah ich auf Höhe des Pont de Nice, wo die Straße nach Sospel abzweigt. Auf dem einsamen Fleckchen hoch oben, wo mein Bruder wohnt, machten wir uns manchmal einen Spaß daraus, die Gendarmen unten zu beobachten. Zwischen zwei Kontrollen langweilten sie sich und spielten mit ihren Maschinengewehren Krieg wie die Kinder. Sie stoppten jedes Auto und fragten nach den Papieren. Aber die Leute aus dem Tal, nicht von der disziplinierten Sorte, begannen einen anderen Weg zu nehmen, weiter unten, um sie zu umgehen. Als die Gendarmen das begriffen, verlegten sie die Sperre weiter in Richtung Sospel. Diese Checkpoints heißen unter uns PPA (point de passage autorisé); »autorisiert« ist natürlich Ironie. Die Kontrollen sind gezielt und aus ihrer Sicht pragmatisch: Man verlangt nur die Papiere von Personen, deren Aussehen auf eine ausländische Herkunft hinweist. Der Kofferraum wird geöffnet, nicht auf der Suche nach Waffen oder Drogen, nur »Migranten« interessieren sie.
Dann wurden weitere Sperren errichtet, an der alten Grenze in Menton an der Küste, an der Mautstelle der Autobahn A8 bei La Turbie zwischen Ventimiglia und Nizza, in den Bahnhöfen von Menton-Garavan, Breil und Sospel. Wir erlebten die »Wiedereinführung der Grenzkontrollen«; die theoretisch seit Jahrzehnten abgeschafften Sperren wurden wiedererrichtet. Derartige Kontrollen hatte es 2001 während des G-20-Gipfels in Genua schon gegeben, aber danach nicht mehr. Im Herbst 2015 glaubten wir, sie würden auch diesmal wieder verschwinden. Irrtum. Die Sperren sind nie mehr verschwunden. Und sie richteten sich gegen uns, die Bewohner des Royatals. Seither sind wir alle potenzielle Schleuser.
Die erste Polizeisperre tauchte um den 10. November 2015 auf, kurz vor der Pariser Klimakonferenz, auf der die großen Industrienationen des Planeten Maßnahmen gegen die Klimakrise beschließen sollten. Sie zielte auf mögliche Störenfriede unter den Aktivisten, vor allem den deutschen und italienischen. Doch nach den Attentaten im Bataclan und im Stade de France am 13. November wurde die Schließung der Grenzen, die nur während der Klimakonferenz gelten sollte, aufrechterhalten, offiziell, um die terroristische Bedrohung zu bekämpfen. In Wirklichkeit dienen diese Checkpoints dazu, Migranten fernzuhalten. Frankreich sieht sie lieber auf der anderen Seite festsitzen. Pech für Italien, das damals Hunderttausende aufnahm, die die Überfahrt übers Mittelmeer geschafft hatten, und diesen Zustrom nicht bewältigen konnte.

Das Gefühl, etwas nicht zu Ende gebracht zu haben

Ich kehre mit frischem Brot zu der kleinen Familie zurück, dann kümmere ich mich um die Hühner und den Gemüsegarten. Als ich gegen Mittag wiederkomme, wirkt die Frau glücklich, für ihre Kinder kochen zu können, ein Ratatouille auf sudanesische Art mit Reis. Lachend gebe ich ihr zu verstehen, dass wir dieselbe Diät befolgen. Die Kinder wirken entspannt, nur der Vater bleibt ernst und ängstlich. Die Mutter fühlt sich wohl, sie inspiziert lächelnd das kleine Bauernhaus. Sie hatte nicht geglaubt, dass Leute in Frankreich in solchen Behausungen leben: ein circa dreißig Quadratmeter großes altes Gemäuer, das nur auf einem schmalen Fußweg zu erreichen ist, weit weg von allem, gedeckt mit antiken Marseiller Tonziegeln. Der Boden hat neue Dielen aus Lärchenholz bekommen, der auf den Gipfeln hier vorherrschenden Baumart. Stromleitungen in den Zimmerecken speisen zwei Glühbirnen und eine Steckdose. Die Küche beschränkt sich auf einen Gasherd; das Bad, ausgestattet mit einem holzbeheizten Warmwasserboiler, ist durch einen Vorhang vom winzigen Wohnzimmer getrennt, das auch als Büro dient. Durch ein Fenster, dessen altes Holz sich wegen der Trockenheit verzogen hat, fällt Tageslicht herein.
Mit Françoise hatte ich ausgemacht, die Familie zwei Tage später wegzubringen. Die Strategie war einfach: Ein Wagen fährt voraus und sondiert, der zweite folgt mit der Familie. Wenn das Vorausfahrzeug auf eine Kontrolle stößt, warnt es das folgende, das dann einen anderen Weg nimmt. Am Tag der Abfahrt sind wir alle etwas gestresst, nur Françoise ist zuversichtlich und aufgeregt. Wir fahren durchs Tal der Bévéra, um nicht durch Italien zu müssen. Im Auto herrscht Schweigen. Sie haben Angst, und ich schäme mich der verstörenden Situation, Leute verstecken zu müssen, damit sie aus dem Tal fliehen können, in dem ich so gern lebe.
Wir bringen sie ohne Probleme zu einem Bahnhof hinter Nizza. Als sie in den Zug steigen, weint Françoise. Ihre Tränen zeigen ihre Verletzlichkeit, die sie von da an nicht mehr wird verbergen können. Mich bedrückt das Gefühl, etwas nicht zu Ende gebracht zu haben: so viel Stress und Logistik, um ihnen zu ermöglichen, weniger als hundert Kilometer weiterzukommen, aber nicht zu wissen, was aus ihnen werden wird? Ein neues Gefühl steigt in mir auf, etwas zwischen Angst und Abscheu, Mitgefühl und Widerstandsgeist. Ein Kloß im Hals hindert mich daran, es in Worte zu fassen. Mein Körper ertrinkt in ungeweinten Tränen.

4. Zweifeln

Ich war durcheinander, weil ich die kleine Familie beherbergt hatte, obwohl ich sie vermutlich nicht einmal angeschaut hätte, wenn ich sie bei den »Migranten« auf den Wellenbrechern von Menton gesehen hätte. Ich lebte mein Leben weiter wie gehabt. Wenn ich Leuten begegnete, die das Royatal hinaufliefen, hielt ich nicht an. Es war zu schwierig, ihnen zu helfen; ich hatte Angst, dass jene neuen Gefühle wieder hochkämen und ich mir womöglich verdammten Ärger einhandelte.
Dabei hatte meine Jugend mich das Gegenteil gelehrt. Ich bin in Nizza geboren, im Arianeviertel, das gern als populaire, »volkstümlich« bezeichnet wird. Aber dort leben nicht Menschen aus dem ganzen Volk, sondern Menschen am Rand der Gesellschaft, die aufgrund ihrer sozialen Klasse, Hautfarbe oder Herkunft dort zusammengepfercht sind. Volkstümlich nennt man es, um nicht Schwarzenghetto, Araberghetto oder Armenghetto zu sagen. Dort habe ich sehr früh gelernt, mich nicht um die Unterschiede zwischen den Menschen zu kümmern. Wir waren »wir«, die black-blanc-beur1. Es waren Töchter und Söhne von Einwanderern, ich war es auch. Und stolz auf meine Freunde, ihre Familien, ihre Wurzeln und ihre Geschichte.
Als ich sieben war, wurden wir eine Pflegefamilie. Meine Mutter arbeitete für den Kinderschutz. Meine Eltern nahmen Kinder auf, die nicht die ihren waren. Sie brachten uns bei, unser Spielzeug, unsere Süßigkeiten, unsere Zimmer, unsere Eltern, unser Leben zu teilen. Durch Teilen habe ich Brüderlichkeit gelernt. Ganz gleich, ob die Kinder von hier oder von anderswo waren, sie gehörten zu unserer Familie, eine Zeitlang oder für immer.
Hortense haben wir aus dem Säuglingsheim geholt, sie war erst ein paar Monate alt. Morgan und ich haben sie gleich freudig akzeptiert, als große Brüder. Sie blieb bei uns, bis sie zwanzig war, und meine Eltern boten ihr an, unseren Namen anzunehmen. Sie wurde meine Schwester. Ich bin mit Kindern aufgewachsen, die Sicherheit brauchten, die sie in ihrer Herkunftsfamilie nicht hatten. Meine Mutter hat mich gelehrt, dass Erwachsene ihnen gegenüber eine Schutzpflicht haben. Das war ihre Art, die Welt zu verändern.
Als Jugendlicher sah ich plötzlich, wie die Welt wirklich war: kaum zu ertragen. Um nicht an der Wut zu ersticken, habe ich mich schließlich fürs Exil in den Bergen entschieden. Weit weg von der Welt der »anderen«, der Welt der Gefühllosen und Gleichgültigen, die unbekümmert direkt neben dem Elend le...

Inhaltsverzeichnis

  1. Cover
  2. Titel
  3. Impressum
  4. Inhalt
  5. Vorwort
  6. 1. Primavera
  7. 2. Mein erstes Mal
  8. 3. Persona non grata
  9. 4. Zweifeln
  10. 5. Die Kirche Sant’Antonio
  11. 6. Das aufgegebene Royatal
  12. 7. Meine »Mission«
  13. 8. Petit Bouddha
  14. 9. Olivenfest
  15. 10. Kalt und pragmatisch
  16. 11. Über die Grenze
  17. 12. Schleuser
  18. 13. Die Lage kippt
  19. 14. Zurück zum Ausgangspunkt
  20. 15. Demütigen
  21. 16. Der Panzer
  22. 17. »Three days!«
  23. 18. Das Arianeviertel
  24. 19. Milet, ein Tod zu viel
  25. 20. Nicht nur Gehässigkeit und Denunziation
  26. 21. Die amerikanische Zeitung
  27. 22. »Help me!«
  28. 23. Paranoid
  29. 24. Wir besetzen Les Lucioles
  30. 25. Ende der Immunität
  31. 26. »Côte-d’Azur-Bürger des Jahres«
  32. 27. Der Prozess
  33. 28. Ein Sieg für die Minderjährigen
  34. 29. Feinde der Republik
  35. 30. Der Brief an den Staatsanwalt
  36. 31. Die Schöne mit dem strahlenden Lächeln
  37. 32. Asyl, hast du es geschafft?
  38. 33. Der gesetzlose Präfekt
  39. 34. Campingplatz Unterpräfektur
  40. 35. Die zwei Cédric
  41. 36. Der lange Marsch
  42. 37. Hochsicherheitscamping
  43. 38. Die Falle
  44. 39. Die Razzia in Cannes
  45. 40. Zusammengepfercht wie Vieh
  46. 41. Vorgeladene Kunden und Peilsender
  47. 42. Ein »Fürstentum« in Gefahr
  48. 43. Der Hütten-Jackpot
  49. 44. Humanitäre Touristen
  50. 45. Ein schick angezogener Schleuser
  51. 46. Die Niedergeschlagenheit der shebabs
  52. 47. Ismaël oder die libysche Hölle
  53. 48. Gesetzlich anerkannte Brüderlichkeit
  54. 49. Die Erfindung einer »Gegenleistung für Aktivisten«
  55. 50. »Juristische Belästigung«
  56. 51. Libre, der Film
  57. 52. Emmaüs Roya
  58. 53. Das Land den Bauern
  59. 54. Das Bol d’air
  60. 55. Ändere deine Welt