Werte-Showdown
Wer das Graue sieht, geht ins Licht.
Ein Showdown ist nicht nur das Duell zwischen Held und Widersacher (Antiheld), er kennzeichnet auch die endgültige Niederlage nach dieser Auseinandersetzung. Dabei siegt so gut wie immer »Gut« und fast nie »Böse«. Der Ausgangbeim Showdown ist somit nahezu immer gewiss: Am Schluss besiegt das Gute das Böse – der Held Bruce Willis die bösen Terroristen in »Stirb langsam« oder James Bond die Schurkinnen. Showdown bezeichnet aber auch allgemeiner einen wichtigen Kampf, etwa im Boxen, wenn danach ein Weltmeister abgelöst wird.
Die Helden der neuen Welt sind gesunde, lebendige und humane Systeme.
Ich benutze den Begriff Showdown, um den Kampf der alten gegen die neue Welt ad absurdum zu führen. Meine Botschaft ist: Die Helden der neuen Welt sind gesetzt. Es sind gesunde, lebendige und humane Systeme. Wirtschaftssysteme, die nicht nur den Gewinn im Blick haben. Politische Systeme, die Komplexität bewältigen und wirtschaftliche Weichen neu stellen können. Rechtssysteme, die Möglichkeiten schaffen und nicht unterbinden, etwa durch Gesellschaftsformen, die Reize zur Wertesicherung setzen. Arbeitswelten, die wie fruchtbare Gärten sind, in denen individuelle und gemeinsame Stärken wachsen. Bildung, die den kreativen Wesenskern fördert. Organisationen, die sich der Zukunft zuwenden und die Herausforderungen lösen, die im Zusammenhang mit sozialen Verwerfungen, Migration, Klimakrise und Pandemien entstanden sind und sich gerade enorm verstärken.
Das alles braucht Führung im Sinne des Leadership – also nicht der formalen Position, sondern des Vorangehens und Gestaltenwollens. Leader in Umbruchzeiten sind Beleuchterinnen. Sie hellen auf, was dunkel scheint. Das tun sie, indem sie auf etwas deuten, das andere nicht sehen. Indem sie erklären, anregen, Unterschiede machen und abgrenzen. Sie müssen dafür den Graubereich zwischen zwei Polen erkennen, den andere nicht sehen. Sie müssen herausfinden, wer im Showdown auf der Bühne steht. Das Showdown-Skript ist allerdings verworren. Dunkel und Hell, Schwarz und Weiß changieren je nach Perspektive. Entscheidend für die Wahrnehmung:
der Hintergrund, die Frage also, in welchen Zusammenhang wir etwas stellen, die jeweilige Beleuchtung, die Frage also, was wir sehen können und was nicht, unser Mindset, die Frage also, welche Aspekte wir – beispielsweise aufgrund vorherigen Trainings – überhaupt aufnehmen und verarbeiten können und welche nicht. Tertium non datur – etwas Drittes gibt es nicht. Der Satz des ausgeschlossenen Dritten bedeutet in der formalen Logik, dass nur ein Teil oder sein Gegenteil gelten kann. Die Bedeutung, die wir einer Sache geben, erschließt sich über das Gegenteil. Der Unterschied, den wir machen, auch. Wollen wir Hierarchie oder Gleichheit, Autonomie oder Bindung? Aber ist das so? Etwas Drittes kann es aus einer anderen Perspektive sehr wohl geben: Wir können erstens Dinge miteinander verbinden und dadurch Neues entstehen lassen. Wir können zweitens Schattierungen sehen oder das Eine und das Andere verändern. Wir können drittens durch einen kreativen Prozess Gegensätze verbinden, aber auch neue Zusammenhänge entstehen lassen. Auch das ist Co-Kreation.
Auf der gesellschaftlichen Bühne spannen große Ideen ebenso mächtige Pole und damit Spannungsfelder auf: Freiheit gegen Autokratie, Mensch gegen Maschine oder auch Emotionen wie Hoffnung gegen Angst. Auf der unternehmerischen Bühne könnte Management gegen Leadership antreten oder Hierarchie gegen Gleichheit. Diese Pole sind Konstrukte, die wir in unserem metaphysisch geprägten Denken erschaffen haben. Wir müssen sie jetzt wieder auflösen. Das geht nur mit Fantasie und der Vorstellung von dem, was wir schaffen können. Fahren Sie gern im Nebel? Wissen Sie, worauf es da wirklich ankommt? Sie brauchen eine Vorstellung, wie es weitergeht, selbst wenn Sie gar nichts sehen. Sie brauchen den Mut zu kleinen Schritten. Und die Bereitschaft, nicht nur am Steuer zu sein, sondern auch einmal auszusteigen und anzuhalten. Im Graubereich bewegt man sich langsam und sieht nichts richtig. Man tastet sich vor, sucht Farblichter im Grau – und die Verbindung von etwas, das nicht zusammenzupassen scheint.
Du bist nicht committet«, sagte Paula. »Was können wir tun, damit du ein Commitment zu unserem Vorhaben abgibst?« Tim räusperte sich: »Ihr müsstet akzeptieren, dass ich nicht überzeugt bin. Aber ich werde das Vorhaben mittragen. Ihr werdet nicht merken, dass ich zweifle.«
Commitment ist einer der fünf agilen Werte im Scrum. In einer zu engen metaphysischen Denkwelt wäre ein gemeinsames Commitment nötig, um etwas umzusetzen. Man müsste Teammitglieder so lange bearbeiten oder so lange Kompromisse eingehen, bis alle »ja« sagen. Das ist nicht ohne sozialen Druck denkbar, Gruppendenken wäre die Konsequenz, Kreativität erstickt. Vielleicht würde Tim sich für seine Zweifel schämen, vielleicht »undercover« für seine eigene Überzeugung eintreten oder auf Dienst nach Vorschrift schalten. Notwendige Entscheidungen würden damit blockiert.
Es braucht die Fähigkeit, die andere Seite mitzutragen, die, von der man selbst nicht überzeugt ist.
Um sich in der BANU-Welt zu bewegen, braucht es jedoch die Fähigkeit, die andere Seite mitzutragen, die, von der man nicht überzeugt ist. Das setzt die Einsicht voraus, dass die eigene Überzeugung nicht maßgeblich ist. Maßgeblich ist vielmehr die Rolle, für die man sich entschieden hat. Und die erfordert möglicherweise, etwas im Sinne von Team, Organisation oder einer übergeordneten Idee mitzutragen. Dies gilt besonders für Entscheidungen, die unter ungewissen Bedingungen getroffen werden. Wenn also alles beleuchtet worden ist – und der Graubereich immer noch grau ist. Das gilt dort, wo der Widerspruch auch bestehen bleibt, wenn wir die Lampe anmachen. Wo das notwendig folgende Dilemma jede Entscheidung ohnehin zur falschen macht.
Dafür hilft Ihnen die Fähigkeit, die beiden Enden von etwas zu sehen. Diese Enden sind zugleich Pole, die zunächst wie Held und Gegenspieler aussehen, in einem anderen Licht betrachtet aber einen kreativen Spannungsbogen ergeben oder auch verschmelzen können. Schicken wir nun also einige Pole auf die Bühne der Transformation. Der erstgenannte Pol verkörpert jeweils etwas, was wir in unserer derzeitigen Welt meist bevorzugen, für richtig erachten oder höher bewerten. Der zweitgenannte stellt ein Gegengewicht dar, das wir in unserer aktuellen Gegenwart oft nicht sehen oder sogar negativ bewerten.
Chronos gegen Kairos
Wir sollten an viele Götter glauben, aber keinem verfallen.
Chronos | Kairos |
Plan, Ziel, erreichen, Ergebnis, linear, effizient, effektiv, sensitiv | treiben lassen, Chancen, Zufälle, Möglichkeiten, non-linear, entstehen, intuitiv |
Samuel hatte alle Ideen immer schon vor den anderen gehabt. Das iPhone hatte er lange vor Steve Jobs erfunden. Ihm war klar gewesen, dass man mit sozialen Netzwerken ein Digitalimperium aufbauen könnte – und er hätte natürlich neben der Idee auch gleich die Technologie von Facebook, XING oder TikTok parat gehabt. Während der Corona-Pandemie wusste er, wie er Masken produzieren könnte, und danach, wohin sich globale Trends entwickeln würden.
In seinem Hauptberuf ist Samuel kein Seriengründer, sondern seit vielen Jahren angestellt in einer Marketingagentur. Das ist nicht seine Leidenschaft, denn eigentlich könnte er so viel mehr bewegen als die Ideen von anderen. Die Gelegenheit beim Schopf gepackt hat er allerdings nie. Zu sehr war er mit den verpassten Chancen beschäftigt. Zu sehr hinderten ihn auch kleine Details daran, den großen Schritt zu gehen: erst seine Freundin, dann die Eltern, schließlich die fehlenden Kontakte in die Fernsehshow »Höhle der Löwen«.
Ehe Sie jetzt den Kopf schütteln und sagen »Ist ja klar«, frage ich Sie, wie viel Samuel in Ihnen steckt. Ich jedenfalls oute mich: Ich bin schon ein wenig wie Samuel. Bereits vor zwanzig Jahren wusste ich, dass man unbedingt in Amazon investieren müsse, was ich lauthals kundtat. Aber am Ende verkaufte ich meine Aktien bereits nach dem ersten kleinen Beben. Ich hatte auch viele Geschäftsideen, realisierte jedoch nur wenige – einige gute möglicherweise nicht. Mir war klar, dass Podcasts kommen würden, aber den richtigen Zeitpunkt, damit zu starten, habe ich verpasst. Viele Ideen hatte ich, bevor sie andere umsetzten: Die Idee für ein Portal für edle Second-Hand-Mode kam mir, bevor Vinted online ging. Ein Portal für Gründergeschichten hatte ich direkt nach der Dotcom-Blase realisiert. Wer weiß, was daraus geworden wäre, hätte ich einen Investor gesucht und mich noch mehr reingehängt. Aber da war kein Ruf, also bin ich auch keinem gefolgt und habe dichtgemacht.
Wer begreift, dass er Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft gestalten kann, sieht Kairos ins Gesicht.
Rückblickend war die Entscheidung richtig gewesen – so wie alle Entscheidungen rückblickend richtig sind, weil wir ihnen Sinn schenken, wenn wir Abstand gewonnen haben. Mein Portal »Gründerreports« verschwand vom Markt, obwohl bei mir heute renommierte Firmen wie Jimdo und MyMüsli ihre ersten kommunikativen Auftritte hatten. Auch in anderen Bereichen habe ich Chancen verpasst – gleichzeitig aber genau dadurch neue geschaffen. Große Publikumsverlage waren schon nach meinen ersten Büchern auf mich aufmerksam geworden. Ich bekam einige Angebote, auch von Fernsehanstalten. Ich habe sehr oft »nein« gesagt. Intuitiv habe ich gespürt, dass bestimmte Entscheidungen meine Möglichkeiten in der Zukunft nicht etwa vergrößern würden, sondern verkleinern. Vielleicht war das die Gegenwart von Aion, vom dritten Zeitgott, der nach Sinn und Transzendenz sucht. Denken Sie mal an eine sehr bekannte Person aus den Medien, einen Autor oder Influencer: Natürlich kann aus einem Beauty-Einflüsterer eine Politik-Influencerin oder ein Hausmann werden, doch meist klebt die Vergangenheit wie Kaugummi an einem. Möglichkeiten reduzieren sich, wenn man sie ergreift: Das ist ein guter Grund, sich gegen die Realisierung eigener Ideen zu entscheiden.
Das Thema ist ein anderes: Es geht um den Ruf, den man nicht nur zur richtigen Zeit hört, sondern dem man dann auch folgt. Die Chance, die man genau jetzt und in diesem Moment hat – und vielleicht übermorgen noch. Wir warten aber oft so lange, bis sie vergangen ist, weil allein die Frage »Ist das jetzt der richtige Zeitpunkt?« schon die ganze Energie auffrisst. Und vielleicht auch, weil wir mit Aion und damit dem eigenen Sinnempfinden noch keinen Kontakt hatten. Dabei könnten wir einmal stoppen, uns verlangsamen, so, als wären wir oben auf dem Berg, wo auch die physikalische Zeit schneller vergeht. Und so Kairos eine Chance geben.
Chronos, der Gott der Planung mit seinen Stunden, Minuten, Sekunden, prägt unser Zeitempfinden so, dass wir solche Langsamkeit vermeiden. Wir erdrücken sie geradezu, hecheln weiter und glauben, Moment reihe sich an Moment. Aber ist es so oder nur ein gelerntes Gefühl? Wer dagegen begreift, dass er Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft gestalten kann, sieht Kairos ins Gesicht.
Theoretisch, also in der Chronos-Planungskultur, sollte alle Zeit gleich vergehen. Aber haben Sie nicht auch öfter mal ewig lange auf etwas gewartet? Haben Sie nicht auch immer wieder versucht, Momente festzuhalten? Um festzustellen, dass alles eigentlich immer Vergangenheit ist, wenn man diesen Gedanken zulässt? Die Zukunft ist zugleich schnell wieder Vergangenheit. Wie lange es doch dauert, bis die ersehnte Reise startet! Aber ist sie erst mal Gegenwart geworden, dann ist sie ganz schnell wieder vorbei.
Kairos wird oft dargestellt mit einem Schopf vor der Stirn: Wann greife ich danach? Wann erkenne ich, dass es nicht nur eine Möglichkeit, sondern die Gelegenheit ist, die zu meiner gelebten und nicht nur zur verpassten Vergangenheit werden soll? Wieso ist in unserer schnellen Welt von Kairos nicht viel mehr geblieben als die Redewendung »die Gelegenheit beim Schopf packen«? Dabei merken wir gar nicht, dass wir auch diese Aussage chronologisch betrachten. Wir haben das Gefühl für echte Gelegenheiten verloren. Und das ist kein Wunder: Denn dass etwas wirklich die Gelegenheit für einen selbst ist, sagt einem allein die innere Stimme in der Interdependenz mit dem Außen. Doch die hat seit Jahrhunderten keiner mehr so richtig geschult – manche halten das für spirituellen Unsinn. Doch es ist Intuition. Intuition ist nichts anderes als die Erfahrung mit sich selbst und anderen, einschließlich früherer Generationen, vielleicht auch der Kontakt zu Aion. Sie zeigt sich daran, dass man nicht nur weiß, sondern fühlt – ohne jede Begründung: Das muss ich tun. Und es ist eben kein chronologischer Punkt, sondern gar kein Punkt. Es ist etwas, das geboren wird u...