Die Germanistik und ihre Mittelalter
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Die Germanistik und ihre Mittelalter

Textwissenschaftliche Interventionen

  1. 247 Seiten
  2. German
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Die Germanistik und ihre Mittelalter

Textwissenschaftliche Interventionen

Über dieses Buch

Die Studie wirft die Frage auf, welche Folgen es für die Mittelaltergermanistik hätte, von den Paradigmen »Philologie« und »Literatur« auf das Paradigma »Text« umzustellen. Sieben Kapitel spüren dieser Frage nach, erproben ihre Potentiale und bieten disziplingeschichtlich informierte Antworten. Anhand des »Nibelungenlied« werden Möglichkeiten synoptischer Textlektüren diskutiert. An die Stelle des Gegensatzes von Minnesang und Sangspruchdichtung tritt die Suche nach dem Politischen der Lyrik. Mit »Inschriftlichkeit« und »Urkundlichkeit« werden lang übersehene Formen von Schriftlichkeit ins Rampenlicht gerückt. Historisch orientierte Erzählungen lassen eingespielte disziplinäre Grenzziehungen fragil erscheinen. Netzwerkanalysen visualisieren Personenbeziehungen und machen die Prominenz mittelalterlicher Autoren sichtbar. Ein Rückblick auf die Fiktionalitätsdebatte eröffnet Räume, um über mittelalterliche Erzählwelten nachzudenken – und die Unterscheidung von Text und Literatur bietet schließlich den Anlass für die Frage, was eine mediävistische »Textwissenschaft« sein könnte. Auf breiter Grundlage wird also Grundlegendes verhandelt und werden Optionen gesucht für eine Mittelaltergermanistik des 21. Jahrhunderts.

Dieser Band wird 36 Monate nach Erscheinen mit der Lizenz CC BY Open Access gestellt.

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Information

1 Interventionen

Ich möchte in und mit diesem Buch die recht grundsätzliche Frage stellen, ob und inwieweit es möglich ist, von gängigen Paradigmen wie „Philologie“ und „Literatur“ auf das Paradigma „Text“ umzustellen – und ich möchte darüber nachdenken, welche Folgen sich daraus ergeben. Eine solche Umstellung scheint mir schon deshalb nahezuliegen, weil die älteren Paradigmen nicht nur in die Jahre gekommen sind, sondern auch auf Voraussetzungen beruhen und mit Anschlusskonzepten einhergehen, die aus verschiedenen Gründen problematisch geworden sind. Um solche inzwischen problematischen Voraussetzungen und um Argumentationsstränge, die zur Routine geworden sind, um leerlaufende Begriffe und um mittlerweile unplausible disziplinäre Ein- und Ausschlüsse wird es in diesem Buch gehen.
Dass ich eine solche Frage stellen und eine kritische Perspektive einnehmen kann, ist keineswegs selbstverständlich, aber auch schon seit Längerem nicht mehr ungewöhnlich. Spätestens seit den 1960er-Jahren gehört es zum grundlegenden Repertoire universitärer Wissenschaftsdisziplinen, sich die eigene Geschichte zu vergegenwärtigen sowie die eigenen methodischen und epistemologischen Grundlagen zu reflektieren und gegebenenfalls neu zu justieren. Dementsprechend befindet sich auch die Disziplin, die ich – zumindest für den Moment – als Mittelaltergermanistik bezeichnen will, in einem beständigen Prozess der selbstreflexiven Diskussion und der disziplinären Rekonfiguration.
In der Öffentlichkeit werden solche selbstreflexiven Prozesse vor allem im diskursiven Modus der Krise sichtbar und die Krisen der Germanistik, die ausgerufen wurden, sind mittlerweile Legion. Dass dies aber überhaupt passiert, dass also überhaupt ein öffentlicher Diskurs geführt wird, ist bisher noch stets ein Zeichen dafür gewesen, dass der Germanistik der Status einer Leitdisziplin zukommt, die von vielen studiert und in der Öffentlichkeit breit wahrgenommen wird. Kritische Diskussionen über den Status der Germanistik, über Sinn und Funktion dieses Faches, werden oft unter dem Stichwort der „Krise“ geführt, finden noch immer auch außerhalb der Universitäten statt und in der Regel mit reger Beteiligung der universitären Vertreter*innen des Faches. Es ist deshalb schwer zu sagen, wann die auch öffentlich vernehmbare Selbstkritik tatsächlich Zeichen der immer wieder beschworenen Krise der Germanistik (gewesen) sein wird.
Einen solchen Krisendiskurs möchte ich allerdings gar nicht führen. Mir ist es mit diesem Buch darum zu tun, mich – als einen konkreten Akteur – innerhalb selbstreflexiver Diskussionen und disziplinärer Veränderungsprozesse zu positionieren. Schon seit Längerem frage ich mich nämlich, wie man die Mittelaltergermanistik als Forschungsgebiet aus unserer Gegenwart heraus denken und konzipieren sollte, was man aus heutiger Sicht als bloßen Ballast abwerfen könnte und was man – hier und heute – neu oder erneut hinzunehmen müsste. Ich glaube, dass diese Fragen und die Folgerungen, die ich daraus ziehe, relevant und interessant genug sind, um zum Gegenstand eines Buchs zu werden.
Wenn ich frage, vor allem auch mich frage, wie man die Mittelaltergermanistik aus meiner Gegenwart heraus konzipieren sollte, dann ist mir durchaus bewusst, dass wir Vergangenheiten ohnehin immer von unserer jeweiligen Gegenwart her denken und konzipieren. Die Mittelaltergermanistik ist – will man es pointiert formulieren – mit der Gegenwart befasst, anhand und mittels älterer Texte. Das ist unvermeidbar und gilt auch dann, wenn dieser Gegenwartsbezug nicht ausdrücklich thematisiert wird oder auch überhaupt nicht thematisiert werden kann, weil nämlich die Denkvoraussetzungen der jeweiligen Gegenwart erst später – und also immer zu spät – sichtbar werden. Dieser nicht zu verhindernde Gegenwartsbezug einer jeden Beschäftigung mit der Vergangenheit dürfte mittlerweile, zumal innerhalb der seit dem späten 19. Jahrhundert so genannten Geisteswissenschaften, weitgehend unstrittig sein, auch wenn gerade in der deutschsprachigen Forschung immer noch gerne so getan wird, als könne man mit einer objektiven, zeitenthobenen Stimme über die Vergangenheit und deren Zeugnisse sprechen und schreiben, weil nämlich die Vergangenheit aus den „Quellen“ fließe.
Zu den Folgen des Einsatzes einer solchen Stimme, zugleich auch zu den Voraussetzungen ihrer Verwendung, zählt der weitgehende Verzicht auf das Personalpronomen der ersten Person Singular in wissenschaftlichen Texten insbesondere der deutschsprachigen Wissenschaftstradition. Damit geht ein Unbehagen der Autor*innen einher; ein Unbehagen, sich selbst ausdrücklich zu ihren Fragen und Herangehensweisen zu positionieren. Gerade aber wenn man aus der Beschäftigung mit der Geschichte der eigenen Disziplin weiß, wie viel von Traditionen, Wissenschaftsstrukturen und kulturellem Hintergrund abhängt, wird man die Ausstellung von Objektivität nicht nur kritisch, sondern auch mit einer gewissen Nervosität und einem gewissen Misstrauen betrachten. Und das zu Recht: Objektive Stimmen haben keine Körper, keine Karrieren, kein Begehren; Wissenschaftler*innen aber schon. Statt der Idee einer beobachterunabhängigen wissenschaftlichen Objektivität nachzuhängen, muss es darum gehen, denke ich, die eigene Verflechtung mit den Gegenständen des Interesses und mit den verwendeten Methoden, Theorien und Verfahren zu beschreiben. Wer will, kann dies anhand ethnologischer und kulturanthropologischer Arbeiten lernen oder auch in Arbeiten der jüngeren Wissenschaftssoziologie sowie anhand von Büchern der englischsprachigen „Humanities“, wo die Selbstverortung der Schreibenden schon seit Längerem zum Standard gehört.
Ich möchte dieses Buch als Gelegenheit nutzen, meine Überlegungen zu dem Forschungsfeld, das sich mit „mittelalterlichen“ deutschsprachigen Texten befasst, ausdrücklich und ausführlich zu formulieren und meinen Standort innerhalb dieses Forschungsfeldes auszuloten. Ein solches Forschungsfeld – eine mediävistische „Textwissenschaft“ – gibt es nicht als etablierte Disziplin und wird es vermutlich auch nie geben. Die disziplinäre Konfiguration derjenigen Fächer, die im späten 19. Jahrhundert begonnen haben, sich als Geisteswissenschaften zu verstehen, ist institutionell so fest gefügt und wirkt für viele so selbstverständlich, dass es schwerfällt, sich Alternativen zu überlegen – von der Umsetzung solcher Alternativen ganz zu schweigen.
Aber auch wenn es schwerfällt, sich Alternativen zur aktuellen disziplinären Situation zu überlegen, müssten wir, wie mir scheint, mehr über eine Entdisziplinierung der Universitäten nachdenken. Es ist schließlich keinesfalls gesagt, dass die „disziplinisierte“ Universität (also eine nach Disziplinen sortierte Universität), wie sie sich im 19. Jahrhundert herausgebildet und im 20. Jahrhundert stabilisiert hat, das richtige Modell für das 21. Jahrhundert bietet. Universitäre Disziplinen errichten Grenzen, sorgen für klare Ein- und Ausschlüsse, tendieren dazu, möglichst autonome Institutionen zu schaffen. Was wir aber meines Erachtens bräuchten, sind fließendere Übergänge, durchlässigere Ränder, multiple Zugehörigkeiten, flexiblere Strukturen und temporäre Allianzen. Interdisziplinarität wäre dann keine Forderung mehr, sondern lediglich der Ausgangspunkt für eine strukturelle Reorganisation, die zur Folge hätte, dass man die Forderung nach Interdisziplinarität gar nicht mehr verstehen könnte, weil nämlich die Voraussetzungen für diese Forderung – eben die disziplinisierte Universität – gar nicht mehr gegeben wären.
Auch derartige Überlegungen hinsichtlich einer Reorganisation der Universitäten in einer Zeit nach den Disziplinen, in einem postdisziplinären Zeitalter, bilden den Hintergrund für mein Nachdenken über eine Textwissenschaft. Dieser Begriff, der mir in letzter Zeit verschiedentlich begegnet ist – manchmal mehr, manchmal weniger programmatisch –, dient mir außerdem als Kontrastfolie zur eingeschliffenen Rede von „Literatur“ und zum gar nicht allzu alten Etikett einer „Literaturwissenschaft“. Ich denke, dass wir mit diesen Begriffen vorsichtig sein sollten, wenn wir über Texte aus der Zeit vor dem 18. Jahrhundert nachdenken, vorsichtiger, als wir dies in aller Regel sind. Auch sollten wir noch intensiver, als wir das sowieso schon getan haben, nach den Implikationen fragen, die eine Rede von „Literatur“ mit sich bringt, wenn von Texten vor der Neuzeit die Rede ist.
Das Etikett „Literatur“ führt eine schier unendliche und unüberblickbare Menge an Traditionszusammenhängen, Diskursen und Emotionen mit sich, die sich auch dann nicht so ohne Weiteres ignorieren und zur Seite schieben lassen, wenn man unter „Literatur“ in einem älteren, grundlegenderen Wortsinn alles Geschriebene versteht. Abgesehen davon, dass die Mittelaltergermanistik zumindest seit der Wende zum 20. Jahrhundert unter Literatur gerade nicht (mehr) alles Geschriebene versteht, ändern derartige begriffliche Präzisierungen nichts an der Situation: „Literatur“ ist und bleibt ein hochgradig besetzter Begriff – und das lässt sich nicht einfach wegdefinieren. Würde man heute vor der Aufgabe stehen, vor der die sich etablierende Germanistik des frühen 19. Jahrhunderts stand, vor der Aufgabe nämlich, mit der mittelalterlichen Überlieferung akademisch, mithin wissenschaftlich umzugehen, immer mit Rücksicht auf die jeweilige Gegenwart – ich glaube nicht, dass man zum Begriff der „Literatur“ greifen würde, um diese neue akademische Disziplin zu bezeichnen. Auch die frühen Germanisten des 19. Jahrhunderts kamen ja nicht auf diese Idee, sondern sprachen von Philologie und von einem „deutschen Altertum“. Zwar hat auch der Begriff des Textes seine Tücken, aber er lässt sich immerhin, denke ich, als allgemein verständlicher Oberbegriff verwenden, der auch das umfasst, was wir gewöhnlich und in der Regel ganz automatisch und selbstverständlich als „Literatur“ bezeichnen. Während nämlich mit „Literatur“ ein Ausschnitt des gesamten textuellen Feldes bezeichnet wird, meint „Text“, so wie ich den Begriff verstehe, den übergeordneten Phänomenbereich. Und von diesem übergeordneten Phänomenbereich möchte ich zuallererst ausgehen, bevor ich anfange, einzelne Texte daraus zum Gegenstand der Beschäftigung zu erklären.
So gut es ging, habe ich in den folgenden Kapiteln meine kritischen Standortbestimmungen – also die Bestimmung meines Standorts – um möglichst konkrete Alternativen und Vorschläge ergänzt, auch um paradigmatische Lektüren und um Forderungen, die die Grenzen des etablierten Gebiets der Mittelaltergermanistik mitunter überschreiten. Meine Überlegungen und Vorschläge möchte ich als Interventionen verstanden wissen, so wie man im englischsprachigen Raum, zumal auch im akademischen Umfeld, von Interventionen spricht, wenn man gezielt in den zur Routine gewordenen („routinisierten“) Lauf der Dinge eingreift, um Veränderungen anzuregen und herbeizuführen. Die Spannweite meiner textwissenschaftlichen Interventionen umfasst textnahe Analysen, die hoffentlich ein wenig überraschend und vielleicht sogar innovativ sind, aber meine Interventionen umfassen auch Arbeit am disziplingeschichtlichen Gedächtnis und disziplingeschichtliche Rekonstruktionen grundlegender Begriffe. Dieses Buch ist deshalb keine Darstellung geworden, die einen einzelnen, konkreten Gegenstandsbereich umkreist und zu durchdringen versucht. Dennoch widerstrebt es mir, davon zu sprechen, dass es sich um „Studien“ handele oder dass „Aspekte“ oder „Überlegungen“ vorgestellt würden. Ich möchte die einzelnen Kapitel eher als Module verstehen, die zwar unterschiedliche Themen diskutieren und unterschiedliche Funktionen übernehmen, aber dennoch Teile eines Systems sind: eines Systems, das vor allem auch durchgehend auf dem postmodernen Anspruch und Ansporn beruht, konsequent konstruktivistisch zu denken, die Disziplingeschichte zu berücksichtigen, Binarismen zu hinterfragen sowie kulturwissenschaftlich informiert und gesellschaftlich engagiert zu sein.
Konstruktivistisch zu denken, das heißt, Was- durch Wie-Fragen zu ersetzen, anstelle des Seins das Werden zu betonen und über Geschichte und Geschichtlichkeit nachzudenken, statt über die Essenz, über das „Wesen“ der Dinge. Besonders wichtig ist mir deshalb, möglichst alle Begriffe und die hinter ihnen stehenden Konzepte und Theorien historisch zu denken. Bezeichnungen, etwa diejenige der „Literatur“, stehen immer im Zusammenhang mit je spezifischen Problemlagen, mit je verfügbaren Argumenten, mit Theorien und mit weiteren Begriffen; und da ich davon überzeugt bin, dass Begriffe von der Kultur ihrer Zeit geprägt sind, spiegeln sie dementsprechend auch das Begehren, die Ziele sowie die Ansichten derjenigen wider, die diese Begriffe benutzen. Einige der Überlegungen, die ich vorstellen werde, speisen sich aus dieser Überzeugung. Mir ist bewusst, dass ich damit – mit meiner historisch und disziplingeschichtlich orientierten Begriffskritik – auf Widerspruch stoßen mag, zumal es einer geruhsamen Kommunikation nicht gerade zuträglich ist, wenn etablierte Begriffe, überhaupt unsere historisch bedingte Terminologie, auf ihre Herkunft und Funktion, ihre Mängel und Alternativen hin befragt werden. Zugleich ist mir aber sehr bewusst, dass auch meine eigenen Argumente und Begriffe vorläufig sind und dieser historisch-kritischen Perspektive unterliegen, auf die ich Wert lege. Ich sehe allerdings nicht, dass man sich deshalb davon abbringen lassen müsste, radikal gegenwärtig sein zu wollen, also Wissenschaft zu betreiben aus dem – und für das – Hier und Jetzt.
Was mich indes angesichts der Zeitgebundenheit meiner eigenen Argumentationen tröstet (falls Trost denn überhaupt notwendig ist), ist eine Vorstellung, die wohl der Geschichtsphilosophie des 19. Jahrhunderts und nicht zuletzt Hegel geschuldet ist: die Vorstellung nämlich, dass die Dinge schon irgendwie vorangehen, dass die Argumente irgendwie besser, die Editionen angemessener, die Analysen dichter und die Lektüren mutiger werden – auch wenn dahinter wohl eher Paradigmenwechsel stehen und kein Weltgeist. Zwar fühle ich mich etwas unwohl bei einer solchen schon sehr abgehangenen Vorstellung von Fortschritt, aber ich ziehe einen solchen Fortschrittsglauben jeder unkritischen Bewahrung von Traditionsbeständen und jeder Form von Nostalgie allemal vor; und ich weiß wenig anzufangen mit denjenigen, die die Geschichte der Germanistik, oder wenigstens bestimmte Phasen dieser Geschichte, als Verfallsgeschichte erzählen oder sich nach vergangenen disziplinären Konstellationen zurücksehnen. Ich weiß damit schon deshalb wenig anzufangen, weil es mir in diesem Buch auch darum geht, zu zeigen, dass Forschungsdiskussionen einen historischen Ort haben, den man rekonstruieren kann und auch rekonstruieren sollte, weil man sich ansonsten in Diskussionen begibt, ohne deren Grundlage und Funktion zu reflektieren. Das aber kann dazu führen, dass Diskussionen nur noch um und in sich selber kreisen, weil Anlass und Funktion verschütt’ gegangen sind. Das scheint mir tatsächlich ein Problem zu sein gerade in Zeiten einer wachsenden Zahl von Forscher*innen,die unter erheblichem Publikationsdruck stehen und auch deshalb darum bemüht sind, etwas zu den „üblichen“ und „aktuellen“ Diskussionen zu sagen zu haben.
Damit soll natürlich nicht einer Ignoranz gegenüber früherer Forschung das Wort geredet werden. Immerhin sind die meisten Forderungen, die ich in diesem Buch vertreten, und viele der Kritikpunkte, die ich vorstellen werde, so oder so ähnlich bereits von anderen vertreten und präsentiert worden. Ich versuche vor allem, zielgerichtet zu kompilieren, zu verknüpfen und konsequent weiterzudenken. Auch ist mir sehr bewusst – und das ist auch eine der Beobachtungen, auf die ich meine Argumentation bauen werde –, dass die Germanistik ein weites Feld ist und eine komplexe akademische Institution mit unterschiedlichen Interessen, Arbeitsfeldern, Gegenstandsbereichen und Vorgehensweisen. Meine Sicht dieses Feldes ist notwendigerweise eingeschränkt und nicht immer treffen meine Beobachtungen und Beschreibungen auf jede und jeden zu. Manche Kolleg*innen werden sagen, dass das, was ich präsentiere, nicht neu sei und dass das, was ich vorschlage, so (oder so ähnlich) bereits betrieben werde. Und natürlich haben sie recht. Zugleich aber ist die Sache so einfach nicht. Nur weil jemand schon seit Längerem ein bestimmtes Thema bearbeitet oder eine bestimmte Vorgehensweise pflegt, heißt das noch lange nicht, dass hinter der gepflegten Praxis auch eine taugliche und überzeugende Theorie steht. Da ich an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main studiert habe, bekanntlich einer jungen und theorieinteressierten Universität, überzeugt mich selbst eine funktionierende Praxis nur dann, wenn sie auch in der Theorie funktioniert.
Was nun die Germanistik als universitäre Disziplin anbelangt, so ist die Situation ja einigermaßen klar: Die Germanistik zerfällt, ganz so wie das alte Gallien, in drei Teile, in die ältere deutsche Literaturwissenschaft, in ihr neueres Pendant und in die Linguistik. Zumindest hat man mir das zu Beginn meines Studiums so erklärt. Doch auch wenn man mir damals diese Vielheit als Einheit präsentiert hat, war die Germanistik schon zu dieser Zeit, im Jahr 2002, nur noch eine begriffliche Hülle für einen damals und auch heute noch ziemlich erfolgreichen Studiengang, der von unterschiedlichen (also hinreichend voneinander abgegrenzten) Fächern „bespielt“ wird. Hinter diesem Studiengang standen drei sogenannte „Abteilungen“, von denen in Frankfurt eine Abteilung bald zu einem eigenen Institut gehören sollte. Ulrich Wyss, neben Andreas Kraß einer der beiden mittelaltergermanistischen Professoren, bei denen ich studieren durfte, hat darüber einmal einen Aufsatz geschrieben mit dem schönen Titel „Entphilologisierung. Aderlaß in der Mediävistik und Neubegründung durch den Auszug der Linguisten“. Er sieht die Situation entspannter als ich, der ich glaube, dass der Auszug der Linguistik wenigstens für die Germanistik in deutschsprachigen Ländern eine auch methodische Trennung markiert, die nicht überall so stark ausgeprägt sein mag wi...

Inhaltsverzeichnis

  1. Title Page
  2. Copyright
  3. Contents
  4. 1 Interventionen
  5. 2 Nibelungenlieder
  6. 3 (Sang-)Spruch(dichtung)
  7. 4 Schriftlichkeitsforschung
  8. 5 Geschichtsgermanistik
  9. 6 Prominenzanalysen
  10. 7 Erzählweltenbauer
  11. 8 Textwissenschaft
  12. 9 Schluss
  13. Abkürzungsverzeichnis
  14. Abbildungsnachweise
  15. Allgemeiner Index
  16. Index der Forschenden
  17. Dank