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Das Reich des Pelagos
Ich lade Sie herzlich ein, zusammen mit mir in die Unterwasserwelt einzutauchen. Wir verabschieden uns vom Rauschen des Windes und der Wellen über uns und lassen uns in die Stille der Tiefe sinken.
Da ist das tiefe Blau: Die beherrschende Farbe eines Großteils unseres Planeten, denn 71 Prozent der Erdoberfläche sind mit Wasser bedeckt. Das unendliche Blau, dem wir unser Leben verdanken.
Merkwürdig, nicht wahr? Die Meere sind flächenmäßig der größte Lebensraum unseres Planeten, und doch schenken wir diesem Habitat nur relativ wenig Aufmerksamkeit. Oft beschränken wir uns darauf, seine unendliche Weite zu bewundern und mit einem Seufzer das spektakuläre Bild zu genießen, wenn die Sonne im Meer versinkt. Unser Blick bleibt jedoch an der Oberfläche.
Um unsere Reise zu beginnen, müssen wir deshalb unter Wasser tauchen. Nur so können wir die ganze Bedeutung des Meeres erkennen.
In der Tiefsee zeigt sich diese unbekannte Welt voller Geheimnisse am besten. Hier gibt es die weitesten und tiefsten Täler unseres Planeten, Seen, Flüsse und sogar Unterwasser-Wasserfälle. Zudem zigtausende aktive Vulkane, etwa entlang des Mittelatlantischen Rückens, der sich über etwa 16.000 Kilometer erstreckt und damit das längste Gebirgssystem unserer Erde darstellt. Insgesamt summiert sich die Längsausdehnung der mittelozeanischen Rücken auf mehr als 70.000 Kilometer. Sie bedecken etwa 23 Prozent der Gesamtoberfläche unseres Planeten.
Wir haben entdeckt, dass die Ozeane vor Lebewesen wimmeln, selbst in der dunkelsten Tiefsee, wo man weder Pflanzen noch Tiere vermutet hatte. Heute wissen wir, dass dort eine ebenso große, wenn nicht größere Biodiversität existiert wie im tropischen Regenwald. Allein schon die Entdeckung, dass Leben nicht nur dort möglich ist, wo es Sonnenlicht gibt, hat unser Verständnis über das Leben auf der Erde revolutioniert.
Mit der wissenschaftlichen Erforschung der Weltmeere wurde erst in jüngster Zeit begonnen, die meisten Entdeckungen datieren sogar erst nach der Mondlandung (1969). Kaum zu glauben, aber wahr: Von Mond oder Mars gibt es detailliertere Karten als von der Tiefsee. Und das ist kein Zufall, sondern spiegelt die Verteilung der Forschungsgelder wider: Mit dem jährlichen Budget der NASA könnte die NOAA (National Oceanic and Atmospheric Administration), die US-amerikanische Behörde für die Erforschung der Ozeane, ihre Aktivitäten sage und schreibe 1600 Jahre lang finanzieren!
Bahnbrechende Fortschritte der Tiefseetechnik haben es Forschern in jüngster Zeit ermöglicht, bis in die abgelegensten Bereiche der Weltmeere vorzudringen. Trotzdem stehen wir noch am Anfang eines unglaublichen Abenteuers, denn bis jetzt sind gerade einmal fünf Prozent des Lebensraums Tiefsee erkundet. Obwohl die Menschen bereits seit Jahrhunderten versuchen, immer weiter und tiefer vorzudringen, liegen die größten Herausforderungen noch vor uns.
Eine kurze Geschichte der Erforschung der Tiefsee
Die gewaltigen Dimensionen der Ozeane, die endlos scheinende Wasseroberfläche und die schwärzesten Untiefen haben seit jeher Mythen und Legenden genährt. Die Seeleute der Antike waren fest davon überzeugt, dass in den Tiefen der Meere Monster und Fabelwesen hausen. Schriftsteller haben darüber berichtet, Kartografen haben sie auf den Meereskarten verzeichnet.
In den letzten Jahrhunderten jedoch verschwanden die Mythen über Drachen und Meerjungfrauen. Die Vermessung der Meeresoberfläche und die Berechnung der Breiten- und Längengrade wurden präziser, und nach und nach wagte man sich an die Erforschung der Meeresböden und die Tiefenvermessung.
Bereits zu Beginn des 16. Jahrhunderts versuchte Fernando Magellan die Tiefen des Pazifischen Ozeans zu vermessen – mit einer 730 Meter langen Bleileine, die ganz offensichtlich nicht bis zum Meeresboden reichte. 200 Jahre später versuchte der Wissenschaftler Pierre-Simon Laplace die Tiefe des Atlantischen Ozeans auf der Grundlage der Bewegung der Gezeiten an der Westküste Afrikas und vor Brasilien zu berechnen. Aus den Wasserbewegungen schloss er, dass die durchschnittliche Tiefe etwa 4000 Meter betragen müsse. Dank unserer heutigen Messtechnik wissen wir, dass seine Berechnungen schon damals richtig waren!
Noch zu Beginn des 19. Jahrhunderts nahm man an, dass es in Tiefen von mehr als 300 Faden, etwa 500 Metern, kein Leben geben konnte, mit Ausnahme von Meeresungeheuern oder riesigen Walfischen. Kurz darauf begann die wissenschaftliche Erforschung der Tiefsee. Der Grundstein für die moderne Ozeanografie wurde mit der britischen Challenger-Expedition (1872–1876) gelegt. Dieses kleine Kriegsschiff der Marine war mit wissenschaftlichen Messinstrumenten und Laboratorien ausgestattet, um Daten über Temperatur, chemische Zusammensetzung, Strömungen, Tierwelt und Geologie der Tiefsee zu sammeln und auszuwerten. Während der vier Jahre dauernden Expedition wurden fast 70.000 Seemeilen zurückgelegt, 4717 neue Arten entdeckt und Hunderte von Proben gesammelt. Ein weiteres bedeutendes Ergebnis war die Vermessung der Tiefe des Marianengrabens, die mit etwa 8100 Metern berechnet wurde. Heute nennt man den tiefsten Punkt des Grabens Challenger Deep und wir wissen, dass er 10.994 Meter unter dem Meeresspiegel liegt. 1960 tauchten Jacques Piccard und Don Walsh als erste Menschen auf den Grund des Marianengrabens. Nach fünf Stunden Fahrt durch die Dunkelheit mit dem Tiefseetauchgerät Trieste erreichten sie ihr Ziel. Trotz des gewaltigen Wasserdrucks, tausend Mal höher als an der Wasseroberfläche, blieb das Tauchboot, bis auf einen Riss in der Glasscheibe, unversehrt. Auf ihrer langen Fahrt begegneten ihnen immer wieder Fische und andere Meeresbewohner, der Beweis, dass auch in den tiefsten Tiefen vielfältiges Leben zu finden ist. 2012 gelang dem Regisseur James Cameron mit dem Tiefsee-U-Boot Deepsea Challenger der erste Solo-Tauchgang zum Grund des Marianengrabens. Das Boot war mit zahlreichen Kameras ausgestattet, deren Aufnahmen Grundlage des 3D-Dokumentarfilms Deepsea Challenge wurden. Unglaublich, aber wahr: Bereits zwölf Menschen haben es bis auf den Mond geschafft, aber nur vier bis zum tiefsten Meeresgrund: Cameron, Piccard, Walsh und Victor Vescovo.
Die Hochsee ist eine weitgehend unbekannte Welt, unter der riesigen Wasserfläche verbergen sich viele Geheimnisse. Wir haben gerade erst mit ihrer systematischen Erforschung begonnen. Es entstand die Theorie der Plattentektonik, man bewies die Drift der Kontinente, wir haben Leben um hydrothermale Tiefseequellen entdeckt, an Stellen, wo unglaublicher Druck herrscht und kein Sonnenlicht für die Fotosynthese hingelangt. Das alles ist schwer zu verstehen, aber es ist so. Es kann sogar sein, dass es in den Tiefen der Ozeane mehr Pflanzen und Tiere gibt als in den höheren Wasserschichten.
Deshalb müssen wir genau dort ansetzen. Der Weg zu dem Ort, an den ich Sie mitnehmen möchte, ist weit. Bereiten Sie sich gut vor und machen Sie sich darauf gefasst, dass es Stunden dauert, bis wir wieder an der Oberfläche sind.
Die epipelagische Zone
Wir verlassen die Wasseroberfläche und tauchen in die Tiefe, das Blau unter uns wird noch immer von der Sonne durchflutet. Wir befinden uns im Epipelagial, der obersten Schicht des Meeres, die bis in eine Tiefe von 200 Metern reicht. Im Laufe unserer Reise fällt sofort auf, dass die Farben immer blasser werden; je tiefer wir kommen, desto mehr werden sie absorbiert. Als Erstes verschwinden die langwelligen Farben, wie Rot, Gelb und Orange, die kurzwelligen Farben, wie Violett und Blau, begleiten uns am längsten. Ein ähnliches Phänomen wie am Himmel: Obwohl das Wasser durchsichtig ist, wirkt das Meer für unsere Augen wie ein riesiges blaues Segel.
Diese Zone wird von der Sonne durchflutet und erlaubt Algen und anderen planktischen Organismen, Fotosynthese zu betreiben, genau wie über dem Wasser an Land. Deshalb ist die epipelagische Zone so wichtig für das Leben im Meer: Hier findet die Primärproduktion statt. Kaum zu glauben, dass mit bloßem Auge nicht sichtbare Organismen so wichtig und so zahlreich vorhanden sind, dass sie die Energiequelle und die Basis für das Leben von Millionen von Spezies darstellen: das Phytoplankton.
Plankton ist die Bezeichnung für die Gesamtheit der winzig kleinen Organismen, die frei im Wasser schweben und von Strömungen und Wellen bewegt werden. Der Begriff umfasst sowohl tierisches Plankton (Zooplankton) als auch pflanzliches Plankton (Phytoplankton). Darunter fallen Mikroalgen und Fotosynthese betreibende Cyanobakterien. Diese produzieren mehr als die Hälfte des Sauerstoffs, den wir atmen, und absorbieren und verbrauchen etwa ein Drittel des in der Atmosphäre vorhandenen Kohlendioxids. Zudem bilden sie als erste Stufe der maritimen Nahrungskette die Basis für die Gesundheit und Funktionalität des Meeres und die Nahrungsquelle unzähliger Lebewesen, von Mikroorganismen bis hin zu Walen.
Schauen wir uns einige dieser Organismen unter dem Mikroskop an, dann entdecken wir überraschende Farben und Formen, wie zum Beispiel die Kieselalgen. Sie kommen in Meeren gemäßigter Klimazonen vor und haben schalenartige Zellenhüllen, die wie Kunstwerke wirken.
Oder die Dinoflagellaten, die ihren Namen zwei mikroskopisch kleinen Flagellen verdanken, fadenförmige Gebilde, die wie Peitschen wirken und der Fortbewegung dienen. Sie sind so winzig und zahlreich, dass sich in einem Glas Meerwasser mehrere Millionen dieser Einzeller befinden können. Obwohl sie mit bloßem Auge nicht zu erkennen sind, können sie Bemerkenswertes leisten. Einige sind schädlich, wie die Karenia brevis, die sich in gigantischen Massen sammeln und so viel Gift produzieren, dass sie die Küstenfauna in wenigen Monaten erheblich dezimieren können. Andere, wie die Noctiluca scintillins, ein Dinoflagellat, der zur Biolumineszenz fähig ist, kann in Massenansammlungen nachts ganze Buchten zum Leuchten bringen.
Inzwischen sind wir tiefer getaucht. Nach und nach ist auch der letzte Lichtschein verschwunden und mit ihm die letzten Konturen der Welt, wie wir sie kennen. Wir sind in der nächsten Zone angekommen und bewegen uns unsicher und nahezu blind im diffusen Halbdunkel. Unter uns liegt die Tiefsee.
Die mesopelagische Zone
Wir haben das Licht hinter uns gelassen. Zwischen 200 und 1000 Metern Tiefe öffnet sich ein Reich, extrem und doch artenreich, das man Mesopelagial oder Dämmerzone nennt. Hierher dringt nur noch ein Prozent des Sonnenlichts durch, viel zu wenig, als dass die Primärproduzenten, das Phytoplankton, überleben könnten. Für die tierischen Organismen gilt das nicht. Es gibt Schätzungen, die davon ausgehen, dass 90 Prozent der Biomasse der Meeresfische in der mesopelagischen Zone anzutreffen sind. Eine enorme Menge, die sich gemäß einer kürzlich in der Wissenschaftszeitschrift Nature veröffentlichten Studie auf etwa zehn Milliarden Tonnen beziffert. Das entspricht etwa dem Hundertfachen dessen, was jährlich aus den Weltmeeren gefischt wird und dem Zweihundertfachen der Biomasse aller Haushühner, der weltweit größten Nutztierart.
Zum besseren Verständnis: Als Biomasse wird die Stoffmasse von tierischen oder pflanzlichen Organismen bezeichnet, die sich in einem bestimmten Moment in einer klar umrissenen Umgebung aufhalten.
Nur wenige Lebewesen der mesopelagischen Zone sind bekannt, wie zum Beispiel die Laternenfische oder die Borstenmäuler, die Gonostomatidae. Von diesen Tiefseebewohnern gibt es wahrscheinlich Trilliarden und alle hängen direkt oder indirekt von den Organismen der epipelagischen Zone ab. Jede Nacht kommt es in den Ozeanen zu der größten vertikalen Migration auf unserem Planeten: Die Bewohner des Mesopelagials folgen dem Zooplankton auf dem Weg zur Wasseroberfläche; während des Aufstiegs werden sie ihrerseits Teil der Nahrungskette und von Fischen gefressen, die weiter oben lauern, wie Thunfische, Schwertfische oder Haie.
Dieses Phänomen wurde während des Zweiten Weltkriegs durch Zufall entdeckt. Bei Sonarmessungen zur Ermittlung der Meerestiefe traute man seinen Augen nicht: Tagsüber zeigten die Instrumente eine Meerestiefe von 900 Metern an, nachts war die Tiefe an gleicher Stelle aber deutlich geringer. Es dauerte eine Weile, bis man das Rätsel lösen konnte: Die Instrumente hatten sich von den Laternenfischen verwirren lassen! Ihre mit Luft gefüllten Schwimmblasen hatten die Sonarwellen reflektiert. Die Messgeräte hatten die riesigen und dichten Schwärme dieser nur wenige Zentimeter großen Fische für den Meeresboden gehalten, der sich unerklärlicherweise nachts nach oben bewegte.
Seitdem haben die Biologen sehr viel gelernt. Heute wissen wir, dass die tägliche Vertikalwanderung zwischen Mesopelagial und Epipelagial einen fundamentalen Beitrag für den Klimaschutz leistet. Wenn die Fische nach oben schwimmen, um Plankton oder andere Mikroorganismen zu fressen, nehmen sie auch den in ihrer Nahrung gespeicherten Kohlenstoff auf und transportieren ihn in tiefere Gewässer. Dadurch wird er der Atmosphäre entzogen, wo er zum Treibhauseffekt und zum Klimawandel beitragen würde. Auch die nur wenige Zentimeter großen Salpen tragen ihren Teil dazu bei, in dem ihr Kiemendarm das Wasser auf der einen Seite einsaugt und auf der anderen wieder ausstößt. Während das Wasser durch ihren Körper fließt, bleibt das Plankton zurück, das ihnen als Nahrungs- und Energiequelle dient. Danach scheiden sie kugelförmige Exkremente aus, die sich rasch im Wasser verteilen und den Kohlenstoff in die Meerestiefe transportieren, wo er Tausende von Jahren verbleibt.
Die Dämmerzone ist also voller Leben und Ressourcen und trägt einen wichtigen Teil zur Verbesserung der Lebensqualität auf der Erde bei. Außerdem ist sie der sicherste Ort, an dem sich die Tiere aufhalten, die tagein, tagaus diese Vertikalwanderung unternehmen. Trotzdem ist Vorsicht geboten, denn auch das Verstecken in der Dämmerung kann problematisch sein. Wenn Sie vom Mesopelagial nach oben schauen, werden Sie es verstehen: In der Dunkelheit, in der wir uns befinden, genügt ein winziger Lichtstrahl, der durch die ferne Wasseroberfläche dringt, um eine Silhouette oder eine Bewegung der hier lebenden Tiere sichtbar zu machen. Die Natur hat für alles eine Lösung: In einer Welt der Dunkelheit kann das Licht zu einem Schlüssel für das Überleben werden.
Das Wunder der Biolumineszenz
Es gibt Hunderte Arten von Laternenfischen (Myctophidae), die die Dämmerzone bevölkern, aber sie haben alle eines gemeinsam: Ihr Körper ist mit Photophoren besetzt, Leuchtorganen, die nicht nur Licht erzeugen, sondern auch dessen Intensität je nach Bedarf regulieren können. Besonders wichtig ist das Nachahmen des Oberflächenlichts, wodurch die potenziellen Beutetiere für die Augen der Jäger fast unsichtbar werden. Eine wichtige Eigenschaft für Fischschwärme, die so groß wie ein Haus sein können. Mit den Photophoren lassen sich aber auch wichtige Botschaften übermitteln. Und genau dieses Phänomen hat seit langem die Neugier der Wissenschaftler geweckt.
Um die Tragweite dieser Problematik zu verstehen, muss man eines wissen: 76 Prozent aller Meerestiere sind biolumineszent. Diese Eigenschaft ist demnach ein vorherrschendes Charakteristikum und im Übrigen seit Langem bekannt. Der Erste, der diese wichtige Frage näher untersucht hat, war der französische Physiologe Raphael Dubois, der Ende des 19. Jahrhunderts über die Pholas dactylus geforscht hat, eine zweischalige Muschel, ähnlich einer Venusmuschel, die durch ihren Siphon einen leuchtenden Schleim ausstoßen kann. Dubois entdeckte, dass Biolumineszenz von bestimmten Bakterien erzeugt wird, die Licht produzieren können. Daraufhin untersuchte er weitere Meeresbewohner, wie zum Beispiel die Kammquallen, die nachts den Hafen von Menton erhellten. Dabei stellte er fest, da...