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Maigret und der einsame Mann
- 224 Seiten
- German
- ePUB (handyfreundlich)
- Über iOS und Android verfügbar
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Maigret und der einsame Mann
Über dieses Buch
Ein kleiner Junge vertreibt sich die Sommerferien damit, dass er sein Pariser Viertel erkundet. Als er eines Tages lose Bretter von einem leer stehenden Haus wegzieht, findet er die Leiche eines älteren Mannes: ein Clochard mit manikürten Fingernägeln. Bald ist auch Maigret zur Stelle. Der Mann, er trug den Spitznamen »Aristo«, ging regelmäßig zum Friseur, die anderen Clochards mied er. Woher kam er? Wie ist er auf der Straße gelandet? Und warum hat man ihn getötet?
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Information
1
Bereits um neun Uhr morgens spürte man die Hitze. Maigret hatte sein Jackett ausgezogen und sah lustlos die Post durch. Hin und wieder warf er einen Blick aus dem Fenster. Nicht der leiseste Windhauch fuhr durch die Blätter der Bäume am Quai des Orfèvres. Die Seine lag glatt und eben da wie Seide.
Es war August. Lucas, Lapointe und mehr als die Hälfte der Inspektoren waren in den Ferien. Janvier und Torrence hatten ihren Urlaub schon im Juli genommen, und Maigret wollte im September ein paar Wochen in seinem Haus in Meung-sur-Loire verbringen, das einem Pfarrhaus glich.
Seit fast einer Woche ging an jedem späten Nachmittag ein kurzes, aber heftiges Gewitter nieder, und der starke Regen zwang die Menschen auf der Straße, sich an den Häuserwänden entlangzudrücken. Die große Hitze neigte sich dem Ende zu, und gegen Abend kühlte die Luft ab.
Paris war wie leergefegt. Die Geräusche der Stadt klangen nicht wie sonst, manchmal war es totenstill.
Reisebusse sah man hingegen überall. In sämtlichen Farben und aus zahlreichen Ländern hielten sie an den immer gleichen Orten und spuckten ganze Ladungen von Touristen aus: bei Notre-Dame und am Louvre, an der Place de la Concorde, der Place de l’Étoile, am Sacré-Cœur und natürlich vor dem Eiffelturm.
Ging man durch die Straßen, überraschte es einen geradezu, wenn jemand Französisch sprach.
Auch der Direktor der Kriminalpolizei war in den Ferien, sodass einem die tägliche Plage des Rapports erspart blieb. Post gab es nur wenig, und wenn eine Straftat verübt wurde, war es ein Taschendiebstahl.
Das Telefon riss Maigret aus seinem Dämmerzustand. Er nahm den Hörer ab.
»Der Kommissar des 1. Arrondissements möchte Sie persönlich sprechen. Soll ich Sie verbinden?«
»Ja. Stellen Sie ihn durch.«
Maigret kannte ihn gut. Er war ein kultivierter Mann, ein wenig geziert und immer tadellos gekleidet. Er hatte mehrere Jahre als Anwalt gearbeitet, ehe er zur Polizei gewechselt war.
»Hallo? Ascan?«
»Störe ich?«
»Nicht im Geringsten.«
»Ich rufe Sie an, weil ich mich seit heute Morgen mit einem Fall herumschlagen muss, der Sie persönlich interessieren könnte …«
»Worum geht’s?«
»Um einen Mord. Aber keinen gewöhnlichen Mord. Es würde zu lange dauern, es Ihnen am Telefon zu erklären. Wann hätten Sie Zeit?«
»Sofort.«
»Verzeihen Sie, dass ich Sie in mein Büro bitten muss, aber es ist in der Nähe der Markthallen geschehen. In einer versteckten Sackgasse …«
Es war das Jahr 1965, und die Pariser Markthallen waren noch nicht nach Rungis verlegt worden.
»Ich bin in ein paar Minuten auf Ihrem Kommissariat.«
Es bereitete ihm Vergnügen, so missmutig zu klingen, als fühlte er sich gestört, aber in Wahrheit freute er sich, der Routine der letzten Tage zu entkommen. Er ging in das Büro der Inspektoren. Normalerweise hätte er Janvier mitgenommen, aber er brauchte einen verlässlichen und tatkräftigen Mann, der während seiner Abwesenheit am Quai des Orfèvres blieb.
»Kommen Sie, Torrence. Nehmen Sie einen der Wagen im Hof.«
Das Kommissariat des 1. Arrondissements lag in der Rue des Prouvaires, nicht weit entfernt vom Quai des Orfèvres. Maigret ging geradewegs in Kommissar Ascans Büro.
»Der Anblick, der sich Ihnen gleich bietet, ist das Seltsamste, was mir je unter die Augen gekommen ist. Ich möchte aber lieber nichts vorwegnehmen. Ah! Sie sind es, Torrence … Lassen Sie den Wagen besser stehen. Es ist gleich um die Ecke.«
Sie gingen um die Markthallen herum, in denen auch im August große Betriebsamkeit herrschte. Bei der Hitze strömte einem ein penetranter Geruch entgegen. Es waren kleine Seitenstraßen mit mehr oder weniger dubiosen Geschäften und anrüchigen Absteigen. Clochards trieben sich herum, darunter eine sturzbetrunkene Frau, die an einer Hauswand Halt suchte.
»Hier entlang …«
Von der Rue de la Grande-Truanderie bog Ascan in eine Sackgasse ein, die so schmal war, dass kein Lastwagen hätte hineinfahren können.
»Impasse du Vieux-Four«, sagte er.
Kaum ein Dutzend baufälliger Häuser standen dort in einer Reihe, und zwischendrin klaffte die Lücke eines bereits abgerissenen Gebäudes. Den anderen sollte es ebenso ergehen. Sie standen bereits leer.
Einige der Häuser waren mit Balken abgestützt, damit sie nicht einstürzten.
Das Haus, vor dem der Polizeikommissar stehen blieb, hatte keine Fensterscheiben mehr, und selbst einige der Fensterrahmen waren entfernt worden. Auch die Tür fehlte, und man hatte den Eingang mit Brettern zugenagelt. Ascan entfernte zwei Planken, die sich bereits gelöst hatten. Dahinter lag ein geräumiger Flur.
»Vorsicht auf der Treppe. Es fehlen ein paar Stufen, und die übrigen sind recht morsch.«
Es roch nach Staub, Moder und den Ausdünstungen der Markthallen.
Sie stiegen in den zweiten Stock hinauf. Ein Junge von etwa zwölf Jahren hockte vor einer nackten Wand, durch die sich große Risse zogen. Als er die drei Männer kommen sah, sprang er mit leuchtenden Augen auf.
»Sie sind doch Kommissar Maigret!«
»Ja.«
»Wenn mir jemand gesagt hätte, dass Sie eines Tages leibhaftig vor mir stehen würden … Ich schneide alle Ihre Fotos aus der Zeitung aus und klebe sie in ein Album.«
»Das ist Nicolier«, erklärte Ascan. »Dein Vorname ist Jean, nicht wahr?«
»Ja, Monsieur.«
»Sein Vater hat eine Metzgerei in der Rue Saint-Denis. Er ist der Einzige hier im Viertel, der sein Geschäft im August nicht schließt. Nun erzähl schon, Jean.«
»Es war so, wie ich es Ihnen schon gesagt habe. Meine Schulfreunde sind fast alle am Meer. Und ich kann ja nicht ganz allein spielen, also laufe ich durch das Viertel, suche Ecken und Winkel, die ich noch nicht kenne, auch wenn ich hier geboren bin. Heute Morgen habe ich dieses Haus entdeckt. Ich habe an den Brettern vor dem Eingang gerüttelt, und sie waren gar nicht festgenagelt. Ich bin hineingegangen und habe gerufen:
›Ist da jemand?‹
Aber da war nur mein Echo. Ich habe nichts Besonderes gesucht und bin einfach weitergegangen, wollte mich ein bisschen umschauen. Dann habe ich die klapprige Tür, die Sie da rechts sehen, aufgestoßen und den Mann gefunden. Ich bin die Treppe hinuntergerannt und ganz außer Atem beim Kommissariat angekommen.
Muss ich noch einmal da hinein?«
»Nein, das ist nicht nötig.«
»Soll ich hierbleiben?«
»Ja.«
Maigret stieß die hölzerne Tür auf, die so morsch war, dass man sie nicht einmal mehr als Brennholz benutzen konnte. Er blieb auf der Schwelle stehen und begriff, warum Ascan sich so geheimnistuerisch benommen hatte.
Der Raum war ziemlich groß. Die Fensterscheiben waren durch Pappe oder dickes Papier ersetzt worden. Zwischen den Dielen des unebenen Fußbodens taten sich mehrere Zentimeter breite Spalten auf. Überall häufte sich alter Plunder, zerbrochene Gegenstände, die zu nichts mehr taugten.
Doch dann fiel sein Blick auf den Mann, der angekleidet auf einem Strohsack auf einem alten Eisenbett lag. Offensichtlich tot. Seine Brust war bedeckt mit geronnenem Blut, doch sein Gesicht wirkte heiter.
Der Kleidung nach war er ein Clochard, aber Gesicht und Hände hoben sich deutlich von der restlichen Erscheinung ab. Er war schon ziemlich alt und hatte langes, silbergraues Haar, das bläulich schimmerte. Auch seine Augen waren blau. Maigret konnte den starren Blick nicht ertragen und schloss ihm die Lider.
Er trug einen weißen Schnurrbart mit leicht aufstrebenden Spitzen und einen ebenso weißen Kinnbart, wie Richelieu.
Die Wangen waren glattrasiert. Maigret war nicht weniger erstaunt, als sein Blick auf die sorgfältig manikürten Hände des Toten fiel.
»Er sieht aus wie ein alter Schauspieler in der Rolle des Clochards«, murmelte er. »Hatte er Papiere bei sich?«
»Nichts. Keinen Personalausweis. Keine alten Briefe. Meine Inspektoren, die für dieses Viertel zuständig sind, haben ihn sich angesehen. Aber keiner kennt ihn. Nur einer glaubt, er habe ihn einmal beim Durchwühlen einer Mülltonne gesehen.«
Der Mann war sehr groß und hatte auffällig breite Schultern. Seine zu kurze Hose hatte am linken Knie ein Loch, und auf dem staubigen Boden lag eine alte Jacke, die eher einem Lumpen glich.
»War der Gerichtsmediziner schon da?«
»Noch nicht. Er muss aber jeden Augenblick kommen. Ich wollte, dass Sie dieses Zimmer gesehen haben, bevor hier alles angerührt wird.«
»Torrence, gehen Sie ins nächste Bistro und rufen Sie den Erkennungsdienst an. Sie sollen so schnell wie möglich herkommen. Und benachrichtigen Sie auch die Staatsanwaltschaft.«
Noch immer fesselte ihn das Gesicht des Mannes auf dem alten Eisenbett. Schnurr- und Kinnbart waren sorgfältig gestutzt, und man hätte schwören können, dass das erst am Tag zuvor geschehen war. Die gepflegten Hände mit den lackierten Fingernägeln machten nicht den Anschein, in Mülltonnen zu wühlen.
Dennoch hatte es der Alte mit aller Wahrscheinlichkeit getan, denn in dem Zimmer häuften sich die absonderlichsten Gegenstände, von denen beinahe alle zerbrochen waren. Eine alte Kaffeemühle, gesprungene Emaillekrüge, zerbeulte oder löchrige Eimer, eine Petroleumlampe ohne Docht und Petroleum, einzelne Schuhe.
»Ich muss eine Inventarliste anfertigen lassen.«
An der Wand befand sich ein Waschbecken. Vergeblich drehte Maigret den Hahn auf. Er hatte sich bereits gedacht, dass es in Häusern, die darauf warten, abgerissen zu werden, kein Wasser gab. Ebenso wenig wie elektrischen Strom oder Gas.
Wie lange hatte der Mann hier gelebt? Vermutlich eine ganze Weile, bei all dem alten Krempel, den er zusammengetragen hatte. Man konnte weder eine Concierge noch Nachbarn befragen, es gab schlichtweg keine. Der Polizeikommissar ging auf den Treppenabsatz hinaus und sagte zu Nicolier:
»Willst ...
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