Litiotopia
eBook - ePub

Litiotopia

  1. 412 Seiten
  2. German
  3. ePUB (handyfreundlich)
  4. Über iOS und Android verfügbar
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Über dieses Buch

Berlin, 2029. Amaru Federmann, Sohn eines deutschen Neokolonialisten und Erbe des größten Lithium-Imperiums der Welt, kommt in seiner Wohnung zu sich. Sein Gedächtnis ist verwüstet, sein Glaube an sich und an die Zukunft ist erschöpft. Aber ein wiederkehrender Traum ruft etwas in ihm wach: Tika. Diese längst vergessene Gefährtin seiner Kindheit und Jugend lockt ihn nach Bolivien und erinnert ihn daran, wozu ein Mensch fähig sein kann.Während er nach Tika und seiner Vergangenheit sucht, begehrt sie gegen die Machenschaften der Federmänner auf und strebt mit ihrer in Europa wütenden Bewegung 3. Juli einen revolutionären Wandel an – »das gute Leben«. Dabei durchschreiten Amaru und Tika die letzten Möglichkeitsräume utopischen Denkens: Traum und Rausch. Wahn und Tod.Poljak Wlassowetz erzählt von einer existenziellen und psychedelischen Reise durch das seit Jahrhunderten ausgebeutete Bolivien und dessen Mythen. Ein Roman über die Kraft des Einzelnen, das Verlangen nach einer lebenswerten Zukunft und die Abscheulichkeit der Welt.

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Kapitel 1

Europa. Berlin. 2029.
Ich versinke in meinen Erinnerungen. Amaru und Tika.
Ihre Wünsche. Ihre Utopien. Ihr Wahn.
Alles, was ich weiß, weiß ich von ihnen.
Tika und Amaru. Unteilbar. Jedes Wort und jede Lüge. Ihre Hinterlassenschaften, meine Vermutungen und Schlussfolgerungen sind nur kaleidoskopische Verwerfungen und zugleich alles, was mir von ihnen geblieben ist.
Mein Körper wird schläfrig.
Der fantasierende Geist erwacht.
*
Sieben Tage und sieben Nächte plagte Amaru ein wiederkehrender Traum, bis er sich dazu entschied, diese taumelnde, diese aus ihrer Bahn geglittene Welt zu verlassen. Eine mysteriöse Müdigkeit, eine fundamentale und einsame Erschöpfung hatte ihn zuvor befallen, und so hatte er sich seinem Traum, von dem er nach jedem Erwachen etwas mehr zu verstehen glaubte, wehrlos hingegeben. Erst am achten Tag war es Amaru möglich, sich von seiner Lethargie zu befreien, die Überreste seiner Existenz in seinen Manteltaschen zu verstauen und dem im Schlaf vernommenen Hilferuf zu folgen. Niemals war er sich eines Vorhabens so sicher gewesen, denn noch nie hatte er ein derartiges Verlangen empfunden.
Nachdem ihn sein Traum das erste Mal heimgesucht hatte und Amaru zu sich kam, streifte ein von Sonne und Mond geschaffener Lichtstrahl über sein entgeistertes Gesicht. Das trübe Licht, das die in Größe und Leuchtkraft sich gleichenden Himmelskörper in seine Wohnung warfen und das weder dem Tag noch der Nacht klar zuzuordnen war, hielt Amaru in einem Dämmerzustand zwischen Wachen und Träumen gefangen. Wahllos rauschten Sequenzen an ihm vorüber, Fragmente, deren Bedeutung er nicht erfassen konnte. Für gewöhnlich mochte Amaru diesen Moment der Unentschlossenheit, der vom Zwang, sich entscheiden zu müssen, befreit war, dieses für wenige Sekunden anhaltende Schweben, wenn der Körper selbst bestimmt, ob er auflebt oder der Realität fernbleibt, und das sich mit den ersten Lidschlägen oder Störgeräuschen verflüchtigt. Aber diesmal breitete sich eine Unruhe in seinem Körper aus, die ihm klar werden ließ, dass er aufwachen musste.
Vergeblich versuchte Amaru, die ihn durchdringenden Bruchstücke seines Traumes zu ordnen. Je mehr er sich bemühte, desto stärker sträubte sich sein Körper. Seine Glieder verkrampften. Sein gehetzter Atem drang durch Mund und Nase aus, wie ein wild schnaubendes Tier rang er nach Luft. Amaru spuckte und stöhnte. Er stammelte Worte in einer Sprache, die er nicht kannte, und warf seinen dröhnenden Kopf hin und her. Als es ihm gelang, die Bewegung seiner Augen zu kontrollieren und sie auf seine schmerzenden Fersen zu richten, sah er offenes Fleisch. Er spürte die Wärme des blutgetränkten Lakens, Panik befiel ihn und er betastete seinen Körper. Hämatome. Kratzer. Überall. Amaru drückte seine Handflächen auf seinen Brustkorb und dämpfte damit den Widerhall seines Herzens, das sich verlangsamte und nach einigen Schlägen stillzustehen schien. Seine Atmung verflachte. Das Sonnenmondlicht versiegte. Während er dalag, hilflos wie ein Sterbender, überfielen ihn Erinnerungen, die nicht von dieser Welt waren.
Amaru fror im Wind, der über die karge Ebene zog und unter der schwarz gewordenen Sonne zwei Menschen ausformte. Er hörte das schrille Gelächter der Gold fressenden Götter, sah ihre von Gier entstellten Gesichter. In einer weißen Salzwüste zuckte eine amputierte Zunge vor seinen Füßen und färbte die Landschaft dunkelrot. Ein Prozessionszug pilgerte einen Vulkankrater hinauf, wo eine Frau von einer Menschenmenge gesteinigt wurde und im letzten Augenblick nach ihm rief: »AMARU!«
Ihr Todesschrei, der so energisch war, dass Amaru das Zerreißen der Stimmbänder hören konnte, und der unter dem dumpfen Ton der aufschlagenden Steine hätte verstummen sollen, ließ ihn aufschrecken. Ein Echo hallte durch seine Wohnung, und Amaru drosch auf seine Ohren ein, woraufhin sein Name in ein monotones Pfeifen zerfiel. Das durch die Wucht seiner Schläge einsetzende Stechen war ihm Beweis genug, dass er wach lag. Ein verstörender Traum hatte ihn übermannt, ein willkürliches Spiel der Gedanken. Er selbst musste im Halbschlaf seinen Namen gebrüllt haben. Die übrigen Verletzungen konnten allein die Folgen eines Sturzes sein, an den er sich nicht mehr erinnerte. Womöglich hatte der zu einer Gehirnerschütterung geführt und seine körperlichen Symptome verursacht. Amaru war froh, nun halbwegs klare Gedanken fassen zu können. Er konzentrierte sich und versuchte, sich zu entsinnen, was er vor dem Schlafengehen getan hatte. Ohne Anhaltspunkt driftete er durch einen uferlosen Nebel. Das Einfühlen in seine innere Leere strengte ihn zu sehr an und deshalb gab er es in der Hoffnung, dass ihn das Geschehene von selbst einholen würde, wieder auf.
Mit der Zeit ließ der Schmerz in seinen Gehörgängen nach. Ein leichtes Schwindelgefühl blieb übrig. Amaru wollte sich aufrichten, aber sein Körper war schlaff und ausgezehrt, als ob er überhaupt nicht geschlafen hätte, sondern unablässig gerannt wäre. Er dehnte seinen Kiefer und streckte seine geschwollene Zunge heraus. Sein Mund und seine Kehle waren ausgetrocknet, zu sprechen war ihm unmöglich. Den unsinnigen Impuls, um Hilfe zu schreien, hätte er ohnehin unterdrückt. Er war ein Mann von fast 45 Jahren, der allein zurechtkam und schon lange keines anderen mehr bedurfte. Mühsam drehte er seinen Kopf zur Seite und schaute durch die offen stehende Flügeltür ins Wohnzimmer. Sein Blick verharrte minutenlang. Dann nahm er zögerlich die Bewegung eines durch den Raum gleitenden Schattens wahr.
Amaru kniff die Augen zusammen. Die Konturen verdichteten sich. Der vage Umriss gewann an Gestalt. Amaru erschrak, als er erkannte, dass jemand in seiner Wohnung umherschlich. Er war sich bald sicher, dass die Schattengestalt sich allein glaubte und nach irgendetwas suchte. Immer wieder verschwand sie aus seinem Blickfeld. Ihre Bewegungen wurden hektischer, wodurch der Holzboden laut knarrte. In Amaru stieg Zorn auf, als er sah, wie der Eindringling seine Aufzeichnungen vom Schreibtisch wischte, die Schubladen seiner Kommoden öffnete und sie auf dem Boden zertrümmerte. Amaru rief ihm zu, er solle aufhören und abhauen, doch er war bloß zu einem unverständlichen Lallen imstande, das dieser tobende Mensch nicht hörte. Ungestört riss er die Bücher und Schallplatten aus den Regalen, zerrte die Gardinen aus ihren Halterungen und ging auf den Balkon. Amaru wollte die Gelegenheit nutzen, ihn überraschen und niederschlagen, aber bevor er sich regen konnte, kehrte der Eindringling bereits zurück.
Er setzte sich aufs Parkett, lehnte seinen Rücken gegen die Wand und begann vor sich hinzureden: »Ama qhilla. Ama llulla. Ama suwa.«
Wieder und wieder flüsterte er diese Worte, deren Klang Amaru vertraut erschien, obwohl er die Bedeutung des Gesagten nicht verstand. Die Langsamkeit, mit der er sprach, und das fehlende Volumen seiner Stimme verrieten Amaru zumindest, dass dort ein alter Mann hockte. Amaru seufzte vor Erleichterung, denn er war sich sicher, dass er einen Alten, trotz seiner Erschöpfung, überwältigen konnte. Mit den Unterarmen stemmte er sich von der Matratze hoch. Mehrmals atmete er ein und aus, um dem Schwindel entgegenzuwirken. Dann wankte er auf den Alten zu, der sein Kommen nicht registrierte. Eine Armlänge von ihm entfernt, dazu bereit, über ihn herzufallen, musterte Amaru sein Gegenüber genauer.
Das ledrige Gesicht des Alten war von Furchen durchzogen. Es war abgemagert und mit den hohen Wangenknochen glich es einem Totenschädel. Ein Wollumhang bedeckte seinen buckligen Körper. In seinem Schoß lag ein entwurzelter Kaktus. Seine schmutzigen Finger umgriffen die Dornen, zupften sie heraus, und er schälte das Gewächs mit den Nägeln. Er zog Faser um Faser ab, und als er das Fruchtfleisch freigelegt hatte, biss er wie ein Ausgehungerter hinein.
Dies war nur ein verwirrter Greis, und Amaru empfand Mitleid mit ihm, der taub und blind zu sein schien. Nachsichtig strich er ihm über die pochenden Adern auf seinen Handrücken.
Der Greis hob den Kopf. In seinem Mund hechelte ein Zungenstumpf. Er stierte Amaru an, fletschte die Zähne und stürzte auf seine Kehle zu.
Knöcherige Finger quetschten Amarus Luftröhre zusammen. Überrumpelt ging er zu Boden. Unter der Wucht des Aufpralls und dem nicht nachlassenden Würgegriff des Alten verlor er das Bewusstsein.
Am Ufer einer öden Insel kam Amaru zu sich. Er war von einem See umgeben, den schneebedeckte Berge am Horizont begrenzten. Kein Wesen kreuzte den dämmrigen Himmel oder kroch über den steinigen Grund. Nichts verleitete das Wasser zu einer Regung. Amaru war, als hielte die Natur inne, als nähme sie sich eine Auszeit von der Last, ständig sein zu müssen. In der Annahme, er könnte diesen Ort durch sein Handeln wiederbeleben, stieg er die Böschung hinauf. Aber diese Welt verlangte nach keiner Reanimation. Ihr lag vielmehr daran, aus dem Zustand der Reglosigkeit heraus, in jenem Moment Neues zu gebären.
Jenseits des Ufers erblickte Amaru eine Ebene, auf der sich Sonne und Mond, in ihrer Mächtigkeit gleichend, einander näherten und sich Seite an Seite niederließen. Ein grelles Licht blendete Amaru. Die Gluthitze der Sonne vermengte sich mit der trockenen Kälte des Mondes, der einen verführerischen Duft verbreitete. Das Aroma von verbranntem Schießpulver lag in der Luft. Sein Gegenüber konnte nicht anders, als ihm zu verfallen. Die Sonne schlang ihre Plasmastrahlen um ihn, zog den Trabanten zu sich heran, sodass sie aufeinanderlagen und eins wurden. Der Himmel verdunkelte sich. Die Welt geriet in Bewegung. Der scharfkantige Fels erzitterte und schlitzte Amaru die Fersen auf.
Kosmisch kalte Böen rauschten über das Land. Auf dem in Erregung geratenen See türmten sich Wellen auf, rollten heran, schlugen gegen das Ufer und ihr Schaum spritzte über die Insel. Wo der glühende Kranz der schwarzen Sonne die Erde berührte und auf die Gischt traf, erhoben sich zwei Felsen, die der Wind zu Menschen ausformte. Ihre im Schein der Korona glänzende Haut schmiegte sich um ihren vollkommenen Körper, sinnlich und rein. In ihrer Haltung drückten sich eine Erhabenheit und eine Zuversicht aus, die Amaru kaum ertragen konnte. Sein Glied schwoll an und er lechzte danach, mit diesen Menschen zu verschmelzen. Mit ihm. Mit ihr. Gemeinsam. Sich seiner Lust schämend presste er die Handflächen auf seine Augenhöhlen. Doch seine Begierde zwang ihn dazu, dieses orgastische Ereignis zu betrachten. Seine Finger schoben sich auseinander.
Die neuen Menschen sahen sich an, neugierig, was ihre Schöpfer mit ihnen vorhatten. Sonne und Mond verströmten im Gleichklang Worte, die Amaru nicht einschätzen konnte, da er die Sprache dieser Welt nicht beherrschte. Die von den Urgewalten Gezeugten, Mann und Frau, Bruder und Schwester, Liebender und Liebende zugleich, verstanden hingegen und unterwarfen sich den Weisungen. Sie wagten erst aufzustehen und sich in Bewegung zu setzen, als sich die Himmelskörper aus ihrer Umschlingung gelöst und einen ebenbürtigen Platz am Himmel eingenommen hatten. In ihren Händen hielten die Menschen einen goldenen Stab, mit dem sie die Festigkeit des Untergrunds prüften. Nach drei Schritten wiederholten sie diesen Akt, nur um festzustellen, dass der Boden zu hart war und ihr Stab nicht eindringen wollte.
Amaru folgte ihnen im Abstand eines Ergebenen, und so liefen sie über die Insel, bis sie irgendwann müde wurden und am Eingang einer Erdspalte rasteten. Eine Wolkenwand rauschte vom Himmel herab. Unter ihrem Donnern schliefen sie ein. Der Andenwind peitschte über die Hochebene und über Amarus spröde Lippen. Auch er war erschöpft. Er schlich zu ihnen und zwängte sich zwischen die beiden nackten Körper. Haut an Haut. Die Umgebung zerrann im Regen, und Amaru fiel in einen Traum.
Vom Balkon blies ein Luftstrom in die Wohnung herein, der Amaru weckte. Auf dem Boden liegend griff er sich an den Hals. Die Atemnot und die ihn erdrückende Schwere hatten sich gelöst. Er stand wie ein Neugeschaffener auf und durchsuchte seine verwüstete Wohnung nach dem Einbrecher. Das Ausmaß seiner Zerstörungswut war irrsinnig. Die Bilder waren von den Wänden gerissen, eine einzige Malerei hing noch an ihrem Platz. Der Greis hatte alle elektronischen Apparaturen in ihre Einzelteile zerlegt und das Badezimmer zerschmettert. Amaru betrat die demolierte Küche. Ein Fliegenschwarm schwirrte ihm entgegen. Irgendetwas Fauliges verpestete die Luft, und Amaru trank unter dem lästigen Surren der Insekten am Wasserhahn. Fassungslos und den Alten verfluchend eilte er zur Wohnungstür. Die Kette war eingehängt, das Schloss von innen zugesperrt. Wie immer. Sicherheitshalber lugte er durch den Türspion. Der rote Samtteppich und das Geländer des Treppenaufgangs füllten seinen gewölbten Blick. Sonst war nichts und niemand zu sehen.
Amaru boxte gegen die Tür und beschimpfte sich als weltentrückten Schwachkopf, weil er den Überfall des Greises für real gehalten hatte. Er öffnete das Schloss, um in die Wirklichkeit zurückzukehren, ging einen Schritt nach draußen und stolperte über ein auf der Schwelle liegendes Paket. Ein Wachssiegel hielt den vergilbten Einband zusammen, der mit Amarus kalligrafisch gezeichnetem Namen versehen war. Mit dem Paket unter dem Arm verriegelte er die Tür und setzte sich an seinen Schreibtisch.
Was hatte ihn nur dazu getrieben, seine Wohnung kurz und klein zu schlagen? Hatte er getrunken? Seine Notizen waren zu Schnipseln zerkleinert. Was er noch lesen konnte, erschien ihm bedeutungslos. Ein paar Zahlenreihen und Graphen, bezeichnet mit Wasserstoff, Erdgas, Gold und Lithium. Mehr war von seinen Papierstapeln nicht übrig. Amaru durchstöberte die Unordnung und fand zwei Schatullen mit Rauchutensilien und Medikamenten. Er drehte sich eine Zigarette, nahm ein paar Züge und schaltete die Tischlampe ein, die nicht aufleuchtete. Sämtliche Glühbirnen in seiner Wohnung lagen in Scherben.
Über sich selbst im Halbdunkel den Kopf schüttelnd inspizierte Amaru das Paket. Das silberne Siegel hatte die Form eines Berggipfels, darunter stand eine Inschrift. Amaru schwenkte sein Feuerzeug, um die Buchstaben zu entziffern. »Ich bin das reiche Potosí, Schatzkammer der Welt, den Königen diene ich zum Neide«, las er mit schwacher Stimme vor. Potosí wusste er nicht zu verorten. Er bezweifelte sogar, wie er es immer tat, wenn er etwas nicht kannte, dass es existierte. Amaru wendete das Paket und begutachtete die Rückseite. In feinen Linien, als hätte man sie mit einer Tintenfeder aufgetragen, standen dort Worte aneinandergereiht, dicht an dicht, unzertrennlich, in sich geschlossen: »Ama qhilla. Ama llulla. Ama suwa.«
Amaru stieß das Paket von sich, rieb über sein kurz geschorenes Haar und kam zu dem Schluss, dass er träumte. Anders war dies alles nicht zu erklären. In der Erwartung, dass irgendetwas passieren würde, saß er da und rauchte. Das Chaos in seiner Wohnung löste sich nicht auf, noch geschah sonst etwas, also verwarf er diesen Gedanken wieder. Sein Körper fühlte sich sowieso viel zu lebendig an. Zu deutlich atmete er den hereinwehenden Wind ein, als dass er nicht wach sein konnte.
Amaru trat auf den Balkon. Seine Pflanzen waren allesamt entwurzelt. Beim Hinübergehen weichte die nasse Erde den Schorf an seinen Fersen auf. Er beugte sich über das Geländer und besah die totenstille Stadt. Die ihm vertrauten Plätze und Kreuzungen, an denen sich üblicherweise Menschen und Straße...

Inhaltsverzeichnis

  1. Cover
  2. Titel
  3. Impressum
  4. Widmung
  5. Karte
  6. Inhalt
  7. Kapitel 1
  8. Kapitel 2
  9. Kapitel 3
  10. Kapitel 4
  11. Kapitel 5
  12. Kapitel 6
  13. Kapitel 7
  14. Kapitel 8
  15. Kapitel 9
  16. Kapitel 10
  17. Kapitel 11
  18. Glossar