„DER MENSCH VOR DEM GEHEIMNIS”
Die mystagogische Struktur der Theologie Karl Rahners1
I. Rahners Theologie als „Grundkurs" auf der „ersten Reflexionsstufe“
Karl Rahner hat im Jahre 1969 eine kleine Schrift mit dem Titel „Zur Reform des Theologiestudiums“ 2 veröffentlicht, die aus manchen Vorarbeiten hervorgewachsen ist. Wer mit dem Lebenswerk Rahners ein wenig vertraut ist, kann in diesem Titel - weit genug gefasst - jenes Leitmotiv wiedererkennen, welches, geführt von spirituellen Erfahrungen, Rahners theologisches Denken zutiefst geprägt hat und bis heute charakterisiert. In der genannten Schrift skizziert Rahner seinen eigenen Beitrag zur Deutung jenes „Einführungskurses“ in das „Mysterium Christi“, den das letzte Konzil für das Theologiestudium als dessen Beginn gefordert hat. Bestimmt ist es kein Zufall, wenn Rahner in seiner Schrift einmal beiläufig feststellt, eine von ihm in München (später auch in Münster) gehaltene Vorlesung „Einführung in den Begriff des Christentums" sei trotz mancher Vorbehalte „doch etwas Ähnliches“ gewesen wie der geforderte Einführungskurs - „wie ich hinterher bemerkte“ (fügt Rahner hinzu).
In nachträglicher (Selbst-) Reflexion erscheint Rahners Theologie ja doch als groß angelegter Versuch, das Theologiestudium selbst, sowie Art und Methode dieses Studiums, von Grund auf zu reformieren. Titel und Inhalt dieser Vorlesung „Einführung in den Begriff des Christentums“ ergaben sich nicht zufällig aus äußeren Umständen, sondern wuchsen gleichsam zwangsläufig aus Ansatz und Eigenart des Denkens von Rahner hervor. Mit Recht macht er in seiner Schrift darauf aufmerksam, dass die Orientierung des vom Konzil verordneten Einführungskurses auf „das Geheimnis Christi" hin die tiefste und innerste Einheit der verschiedenen theologischen Fächer anvisiere.3
Rahners eigener Beitrag beginnt da, wo er sich die unvermeidliche Frage stellt, wie denn - über die inhaltliche Festlegung (Mysterium Christi) hinaus - die innere Einheit der theologischen Wissenschaften formal begründet werden könne. Er verweist hier kritisch auf das Scheitern der sogenannten „theologischen Enzyklopädien“ im 19. Jahrhundert. Diese hatten nach der ursprünglichen, lebendigen, organischen Einheit der theologischen Wissenschaften gesucht, um sich vor der kritischen Fragestellung der Neuzeit (z. B. Lessings!) verantworten zu können: vor der Frage nämlich, wie überhaupt „das äußerlich Gegebene innerlich verständlich, das Zufällige notwendig und somit verpflichtend werden könne und wie überhaupt das Einzelne zum Ganzen sich verhielte“.4 Doch diese Versuche scheiterten schließlich an dem Fehler, dass sie das Einheitsprinzip der Theologie seines Inhalts vollständig entleerten, den Inhalt der Theologie gegenständlich auslegten und doch wieder auf die verschiedenen Fächer verteilten; so blieb für den Grundkurs de facto nur noch die Funktion einer Einführung in wissenschaftliches Arbeiten mit theologischen Gegenständen übrig - eine reine, inhaltlose Formalität, die das Bedürfnis nach intellektueller Rechenschaft über den Glauben (verstanden als existentielles Engagement) genauso unbefriedigt lassen musste, wie es für ähnliche Erwartungen heute etwa die (fachlich gewiss berechtigten) „Einleitungen“ in manche wissenschaftliche Spezialfächer tun. Von dieser Gefahr, im rein Formalen zu erstarren und so fast zwangsläufig zu scheitern, oder von der anderen Gefahr, den projektierten Einführungskursus wiederum nur als Überblick - bestehend aus Inhaltsangaben zu den theologischen Fächern - zu verstehen, kommt man nach Rahner nur los, wenn man als Theologe „selber zurück zur Sache findet" und, statt bloß wissenschaftlich, detailliert und informiert über einen theologischen Gegenstand zu reden, sich dafür interessiert, „was dieser in sich eigentlich bedeutet“.5 Worauf Rahner mit dieser Kritik eigentlich hinzielt, wird klarer im Zusammenhang mit der von ihm neu eingeführten Bezeichnung „erste Reflexionsstufe“.
In einer Anmerkung wird diese von Rahner in der Weise erklärt, dass hier „nach den (transzendentalen) Bedingungen des möglichen Glaubensvollzugs hinsichtlich eines bestimmten Inhalts“ geforscht werde.6 Zwei mögliche Missverständnisse dieses Ansatzes müssen gleich abgewehrt werden: Es geht Rahner weder um eine missionarische Glaubensbegründung - Einführung in den Glauben für Nichtchristen - noch um eine Art Cursus Minor, der die Darbietung eines theologischen 'Existenzminimums' für Studenten ohne wissenschaftliche Ambitionen wäre. Die Voraussetzung, die Rahner ausdrücklich macht, hilft sein Anliegen klarer zu erkennen, die Voraussetzung nämlich, dass „ich aus irgendeinem faktischen Grund Christ bin ... und dann frage, aus welchen Gründen ich mit intellektueller Redlichkeit ein Christ sein kann", und zwar ohne vorher und hierzu ein umfassendes Studium der theologischen Fächer durchlaufen zu haben, was ohnedies ein lebenslanges Bemühen bliebe.7
Rahner grenzt dann das von ihm gemeinte Verfahren dialektisch weiter ab. Die „erste Reflexionsstufe“ des Glaubens ist zwar „unwissenschaftlich“ (weil nicht Ergebnis einer systematischen Aufsammlung der Erkenntnisse und Untersuchungen der einzelnen Fächer), sie erhebt aber doch, indem sie intellektuell redliche Verantwortung des Glaubens sein will, Anspruch darauf, „eine eigene erste Wissenschaft“8 zu sein. Rahner versucht noch mehr zu verdeutlichen: Die 'Unwissenschaftlichkeit' dieser andersartigen Disziplin liegt im Gegenstand, nicht im Subjekt und seiner Methode“. (Ebd., 73f)
Was Rahner damit sagen will, ist dies: Es soll in dieser Disziplin nicht reflektiert werden über einen der Gegenstände der sog. „wissenschaftlichen Theologie", sondern - aber durchaus in methodischer Strenge - über das glaubende „Subjekt“ selbst und dessen innere Strukturen, insoweit als sie den Vollzug des Glaubens im Sinne der „totalen Entscheidung“ (ebd., 76) ermöglichen und tragen. Dies versteht Rahner unter der „ersten Reflexionsstufe“.9
Der von Rahner anvisierte „Einführungskurs in das Geheimnis Christi" müsste dieser Art von „erster Reflexion" vollziehen und einüben.
Erst diese (transzendentale) Reflexion könnte auch das neuzeitliche Problem beantworten, „wie das äußerlich Gegebene innerlich verständlich, das Zufällige notwendig und somit verpflichtend werden könne und wie überhaupt das Einzelne zum Ganzen sich verhielte".10
Das 'Lernziel' dieses Grundkurses ist Rahner von seinen früheren Arbeiten her vorgegeben; es muss gezeigt werden: wenn „der alles menschliche Erkennen gründende und umfassende Horizont seiner Existenz von vornherein das Geheimnis ist (und so ist es), dann hat der Mensch durchaus eine positive, mindestens mit der Gnade gegebene Affinität zu jenen strikten Geheimnissen, die den Grundinhalt des Glaubens ausmachen“.11 Diese Feststellung enthält jedoch nur in „existentialontologischer“ Formulierung jene „Grundüberzeugung“, die Rahner in einem Brief an den Verfasser dieses Beitrags einmal so formulierte: „Kein Mensch kann das Ganze seines Lebens, seiner Grundentscheidung voll zu einer ausdrücklichen Aussage bringen.
Er lebt immer aus mehr, als er sich selbst und anderen reflex sagen kann. Er kann sein Tun trotz aller notwendigen Reflexion und reflexen Rechenschaft, die er sich und anderen über sein Handeln gibt und geben muss, nie adäquat reflektieren ...Das gilt für alle Lebensbereiche. Das gilt darum auch für das christliche Leben und Glauben.
Die reflektierte und reflektierende Theologie holt nie den im Leben vollzogenen Glauben ein. Theologie als argumentierende Reflexion muss sein ...Aber das Christsein und sein Glaube ist immer mehr, als was bei solcher Theologie zum Vorschein kommt“.12
In diesem Zusammenhang ist darauf aufmerksam zu machen, dass Rahner im Sinne der „ersten Reflexionsstufe“ seine sog. spirituellen Aufsätze und Betrachtungen unbefangen unter seine „Schriften zur Theologie“ rechnet, und zwar deswegen, weil in ihnen allen über „das Ganze des Christseins“ nachgedacht wird; die Unterschiede zwischen seinen Schriften sind nur äußerlich, durch den jeweils angezielten Leserkreis bedingt.13
Beispielhaft lässt sich das illustrieren an einem Aufsatz Rahners über das Beten, wo sich das Nachdenken über das Thema von selbst auf das Ganze des Christ-seins, einschließlich der Gnadenerfahrung, entwickelt.
Insofern die „erste Reflexionsstufe’' des Glaubens die Reflexion über die „unterste Stufe" der Gnadenerfahrung notwendig einschließt, hat Rahners theologisches Denken, das eine „Einführung in das Mysterium Christi" sein will, naturgemäß eine mystagogische Struktur.14
II. Beten als „ Grundakt” des Menschen15
Schon der erste Teil des Aufsatzes - überschrieben „Hinführung zur Frage“ (nämlich, ob Beten heute möglich sei, ist in sich höchst aufschlussreich. Vorangestellt werden drei Vorbemerkungen: „Beten als Grundakt der menschlichen Existenz“; „Beten als geschichtliche Konstante der Menschheit“, „Beten und exakte Wissenschaft“. Rahner fügt jedoch gleich hinzu, es handle sich hierbei nicht um Vorbemerkungen „im Vorfeld des Betens“, sondern um eine Art „Generalprobe des einen großen Themas 'Gebet';16 somit führen nach Rahners Absicht diese Vorbemerkungen bereits mitten in den wesentlichen Inhalt, das Beten selbst, hinein.
In diesem Sinne ist die These zu verstehen, die Rahner mit der ersten Vorbemerkung: Beten ist nicht eine Handlung, die der Mensch neben vielen anderen auch noch vollzieht (oder vielleicht noch öfter unterlässt, obwohl er sie 'praktizieren' sollte), und die so bloß an der Peripherie, an der Oberfläche (statt im Kern) seines Wesens 'passieren' würde. Beten ist vielmehr ein „Grundakt“, eine Tat, an welcher der Mensch als ganzer, mit Herz und Seele, in vollmenschlichem Einsatz beteiligt ist. Diese These Rahners hat eine polemische Stoßrichtung. Sie geht aber nicht, wie man vermuten könnte, im Sinne des biblischen Tadels gegen die 'Gebetsmühle', oder gegen das bloße Beten „mit den Lippen“ (während das Herz fern ist von Gott). Rahner formuliert hier vielmehr eine Gegenthese gegen das moderne Vorurteil, wonach Beten entbehrlich, überflüssig sei, weil darin eigentlich nichts geschehe, weil dadurch nichts verändert werde, obwohl doch gerade heute die Christen allen Grund hätten (schon um kreditwürdig zu bleiben), durch „Taten“ der Liebe an der Veränderung der Welt mitzuwirken. In einem Brief an holländische Karmelitinnen hat Rahner die polemische Richtung seiner These noch deutlicher anklingen lassen: „Das Beten ist
auch eine Tat“.17 Di...