1. MEISTER UND SCHÜLER
M.s erster Besuch beim Meister – Formalitäten und Grundlagen der Religion – Zweiter Besuch – Die Liebe des Meisters für Keshab – Sri Ramakrishna über M.s Hochzeit – Gott mit und ohne Gestalt – Gott und die Tonstatue – Gott, der einzig wahre Lehrer – Die Notwendigkeit von heiliger Gesellschaft – Meditation in der Einsamkeit – Gott und die weltlichen Pflichten – Die Übung der Unterscheidung – Wie man Gott schaut – Verlangen und Sehnen – Dritter Besuch – Narendra – Wie der spirituell Gesinnte den Weltlichen betrachten soll – Gott ist in jedem Lebewesen – Das Gleichnis vom „Elefantengott“ – Wie man mit den Bösen umgehen soll – Das Gleichnis von der Schlange – Vier Arten von Menschen – Die erlösende Kraft des Glaubens – Das Gleichnis vom Homa-Vogel – Der Meister lobt Narendra – Vierter Besuch – Der Pfau und das Opium – Hanumans Hingabe an Rama
ABBILDUNG 19: M. (MAHENDRA GUPTA) (1854-1932)
März 1882
Es war an einem Sonntag im Frühling, einige Tage nach Sri Ramakrishnas Geburtstag, als M. ihn zum ersten Mal traf. Sri Ramakrishna lebte im Kalibari, dem Tempelgarten der Mutter Kali am Ufer des Ganges in Dakshineswar.
M., der sonntags frei hatte, war mit seinem Freund Sidhu ausgegangen, um mehrere Gärten in Baranagore zu besuchen. Als sie in Prasanna Bannerjis Garten spazieren gingen, sagte Sidhu: „Es gibt einen bezaubernden Ort am Ufer des Ganges, wo ein Paramahamsa lebt. Willst du dorthin gehen?“ M. war damit einverstanden, und sie machten sich sofort auf den Weg zum Tempelgarten in Dakshineswar. Zur Abenddämmerung kamen sie am Haupttor an und gingen direkt in Sri Ramakrishnas Zimmer. Dort trafen sie ihn auf einem hölzernen Sofa sitzend und nach Osten blickend an. Mit einem Lächeln auf seinem Gesicht sprach er über Gott. Der Raum war voller Leute, die alle auf dem Boden saßen und seine Worte in tiefer Stille aufnahmen.
M. stand sprachlos da und schaute zu. Es war ihm, als stünde er an dem Ort, wo sich alle heiligen Orte treffen, und als würde Sukadeva selbst das Wort Gottes verkünden oder Sri Chaitanya mit Ramananda, Swarup und den anderen Verehrern den Namen und das Lob des Herrn in Puri singen.
Sri Ramakrishna sagte: „Wenn du beim Hören des Namens von Hari oder Rama Tränen vergießt und dir die Haare zu Berge stehen, dann kannst du dir sicher sein, dass du keine solche Andachten wie das Sandhya mehr ausführen musst. Erst dann hast du das Recht, den Ritualen zu entsagen, oder vielmehr werden die Rituale von selbst von dir abfallen. Dann genügt es, wenn du den Namen von Rama oder Hari wiederholst oder einfach nur OM.“ Er fuhr fort: „Das Sandhya geht ins Gayatri ein und das Gayatri in OM.“
M. sah sich erstaunt um und dachte: „Was für ein schöner Ort! Was für ein bezaubernder Mann! Wie schön seine Worte sind! Ich will mich nicht mehr von der Stelle bewegen.” Nach einigen Minuten dachte er: „Ich will zuerst den Ort sehen. Dann komme ich zurück und setzte mich hin.”
Als er das Zimmer mit Sidhu verließ, hörte er die liebliche Musik des Abendgottesdienstes mit Gong, Glocke, Trommel und Zimbeln, die im Tempel erklang. Er konnte auch am südlichen Ende des Gartens Musik aus dem Nahabat hören. Die Klänge reisten über den Ganges, trieben davon und verloren sich in der Ferne. Es blies ein sanfter Frühlingswind, der vom Duft der Blumen erfüllt war. Der Mond war soeben aufgegangen. Es war, als würden Natur und Menschen sich zusammen auf den Abendgottesdienst vorbereiten. M. und Sidhu besuchten die zwölf Siva-Tempel, den Radhakanta-Tempel und den Tempel von Bhavatarini [Kali]. Als M. den Gottesdienst vor den Statuen beobachtete, wurde sein Herz von Freude erfüllt.
Auf dem Rückweg zu Sri Ramakrishnas Zimmer unterhielten sich die beiden Freunde. Sidhu erzählte M., dass der Tempelgarten von Rani Rasmani gegründet worden war. Er sagte, dass Gott dort täglich als Kali, Krishna und Siva verehrt wurde und dass innerhalb der Tore viele Sadhus und Bettler gespeist wurden. Als sie wieder Sri Ramakrishnas Tür erreichten, fanden sie sie verschlossen vor. Brinde, die Magd, stand draußen. M., der nach englischer Sitte erzogen worden war und keinen Raum ohne Erlaubnis betreten würde, fragte sie: „Ist der heilige Mann drinnen?“
Brinde antwortete: „Ja, er ist im Zimmer.“
M.: „Seit wann lebt er hier?”
Brinde: „Oh, schon lange.”
M.: „Liest er viele Bücher?“
Brinde: „Bücher, oh nein. Sie sind alle auf seiner Zunge.“
M. hatte soeben sein Studium am College beendet. Es verwunderte ihn zu hören, dass Sri Ramakrishna keine Bücher las.
M.: „Vielleicht ist es Zeit für seinen Abendgottesdienst. Können wir hineingehen? Sagst du ihm, dass wir ihn gern sehen möchten?“
Brinde: „Geht hinein, Kinder. Geht hinein und setzt euch.”
Als sie hineingingen, trafen sie Sri Ramakrishna alleine an. Er saß auf dem hölzernen Sofa. Soeben war Weihrauch entzündet worden, und alle Türen waren geschlossen. Als sie eintraten, grüßte M. den Meister mit gefalteten Händen. Dann setzten er und Sidhu sich auf seine Bitte hin auf den Boden. Sri Ramakrishna fragte sie: „Wo lebt ihr? Was ist eure Beschäftigung? Warum seid ihr nach Baranagore gekommen?“
M. beantwortete die Fragen, bemerkte aber, dass der Meister hin und wieder geistesabwesend zu sein schien. Später erfuhr er, dass diese Stimmung Bhava, Ekstase, genannt wird. Es ist wie der Zustand des Anglers, der mit seiner Rute dasitzt. Der Fisch kommt und verschlingt den Köder. Der Schwimmer beginnt zu zitternd. Der Angler ist auf der Hut. Er ergreift die Angel und beobachtet beständig und erwartungsvoll den Schwimmer. Er spricht mit niemandem. Solcherart war der Zustand von Sri Ramakrishnas Geist. Später hörte M. und beobachtete selbst, dass Sri Ramakrishna nach der Abenddämmerung oft in diese Stimmung geriet und sich manchmal der äußeren Welt überhaupt nicht mehr bewusst war.
M.: „Vielleicht willst du deinen Abendgottesdienst verrichten. Sollen wir dann lieber gehen?“
Sri Ramakrishna (immer noch in Ekstase): „Nein – Abendgottesdienst? Nein, das ist es nicht.“
Nachdem sie ein wenig miteinander gesprochen hatten, verabschiedete sich M. vom Meister und ging. Sri Ramakrishna sagte: „Komm wieder.“
Auf seinem Heimweg begann M. sich zu fragen: „Wer ist dieser gelassen aussehende Mann, der mich an sich zieht? Ist es möglich, dass ein Mensch groß ist, ohne ein Gelehrter zu sein? Wie wundervoll ist das! Ich werde ihn gern wieder besuchen. Er selbst hat gesagt: ‚Komm wieder.‘ Ich werde morgen oder übermorgen zu ihm gehen.“
M.s zweiter Besuch bei Sri Ramakrishna fand auf der südöstlichen Veranda um acht Uhr morgens statt. Der Meister war gerade dabei, rasiert zu werden. Der Barbier war soeben gekommen. Da es immer noch die kalte Jahreszeit war, hatte er sich einen Baumwollschal mit einer roten Bordüre umgelegt. Als der Meister M. sah, sagte er: „Also bist du gekommen. Das ist gut. Setz dich hier hin.“ Er lächelte. Er stotterte ein wenig, wenn er sprach.
Sri Ramakrishna (zu M.): „Wo lebst du?”
M.: „In Kalkutta, Herr.”
Sri Ramakrishna: „Wo wohnst du hier?“
M.: „In Baranagore bei meiner älteren Schwester – in Ishan Kavirajs Haus.“
Sri Ramakrishna: „Oh, bei Ishan? Wie geht es Keshab. Er war sehr krank.“
M.: „Das habe ich auch gehört, aber ich glaube, es geht ihm jetzt gut.“
Sri Ramakrishna: „Ich habe ein Gelübde abgelegt, die Mutter mit grünen Kokosnüssen und Zucker für Keshabs Genesung zu verehren. Manchmal wache ich in den frühen Morgenstunden auf und rufe Sie an: ‚Mutter, bitte mach Keshab wieder gesund. Wenn Keshab nicht mehr lebt, mit wem soll ich dann reden, wenn ich nach Kalkutta gehe?‘ Und deshalb habe ich beschlossen, Ihr eine grüne Kokosnuss und Zucker darzubringen.
Sag, kennst du einen Herrn Cook, der nach Kalkutta gekommen ist? Stimmt es, dass er Vorträge hält? Einmal nahm mich Keshab auf einem Dampfschiff mit, und dieser Herr Cook war in der Gruppe.“
M.: „Ja, Herr, ich habe so etwas gehört. Aber ich war nie bei seinen Vorträgen. Ich weiß nicht viel über ihn.“
Sri Ramakrishna: „Prataps Bruder hat mich besucht. Er ist einige Tage geblieben. Er hatte keine Beschäftigung und sagte, er wolle hier leben. Ich habe erfahren, dass er seine Frau und seine Kinder bei seinem Schwiegervater zurückgelassen hat. Er hat eine ganze Horde von ihnen! Also habe ich ihn zur Rede gestellt. Stell dir nur vor, er ist der Vater von so vielen Kindern! Werden die Leute aus der Nachbarschaft ihnen zu essen geben und sie großziehen? Er schämt sich nicht einmal dafür, dass jemand anderer seiner Frau und seinen Kindern zu essen gibt und dass er sie im Haus seines Schwiegervaters zurückgelassen hat. Ich habe ihn sehr gescholten und ihn gebeten, sich nach Arbeit umzusehen. Dann war er bereit wegzugehen. Bist du verheiratet?“
M.: „Ja, Herr.”
Sri Ramakrishna, mit einem Schauder: „Oh Ramlal! (Neffe von Sri Ramakrishna und Priester im Kali-Tempel). Ach, er ist verheiratet!“
M. saß bewegungslos da, als habe er sich eines schrecklichen Vergehens schuldig gemacht. Seine Augen starrten zu Boden. Er dachte: „Ist es denn so schlimm zu heiraten?“
Der Meister fuhr fort: „Hast du Kinder?”
M. konnte dieses Mal sein Herz klopfen hören. Er flüsterte mit zitternder Stimme: „Ja, Herr, ich habe Kinder.“
Sehr traurig sagte Sri Ramakrishna: „Ach, er hat auch Kinder!”
M. war sprachlos über den Tadel. Sein Stolz war verletzt. Nach wenigen Minuten sah Sri Ramakrishna ihn freundlich an und sagte mitfühlend: „Siehst du, du hast gewisse gute Eigenschaften. Ich erkenne sie, wenn ich die Stirn eines Menschen, seine Augen und so fort sehe. Sag mir, was für eine Art Person ist deine Frau? Hat sie spirituelle Eigenschaften oder steht sie unter der Macht von Avidya?“
M.: „Sie ist in Ordnung, aber ich fürchte, sie ist ungebildet.“
Meister (mit offensichtlichem Missfallen): „Und du bist ein Mann des Wissens!“
M. musste noch den Unterschied zwischen Wissen und Unwissenheit lernen. Bis dahin war es seine Auffassung gewesen, dass man aus Büchern und in Schulen Wissen erhielt. Später gab er diese falsche Sichtweise auf. Er wurde belehrt, dass Gott zu erkennen Wissen bedeutet, und Ihn nicht zu erkennen Unwissenheit. Als Sri Ramakrishna ausrief: „Und du bist ein Mann des Wissens!“, war M.s Ego erneut schwer erschüttert.
Meister: „Glaubst du an Gott mit oder ohne Gestalt?”
M. sagte ziemlich überrascht zu sich selbst: „Wie kann man an Gott ohne Gestalt glauben, wenn man an einen Gott mit Gestalt glaubt? Und wenn man an Gott ohne Gestalt glaubt, wie kann man dann glauben, dass Gott eine Gestalt hat? Können diese beiden sich widersprechenden Vorstellungen gleichzeitig wahr sein? Kann eine weiße Flüssigkeit wie Milch schwarz sein?“
M.: „Herr, ich gehe davon aus, dass Gott gestaltlos ist.”
Meister: „Sehr gut. Es genügt, wenn man an einen der beiden Aspekte glaubt. Du glaubst an Gott ohne Gestalt. Das ist in Ordnung. Aber glaube nicht für einen Moment, dass das allein wahr und alles andere falsch ist. Denke daran, dass Gott mit Gestalt so wahr wie Gott ohne Gestalt ist. Halte jedoch an deiner eigenen Überzeugung fest.“
Die Versicherung, dass beides gleich wahr ist, verwunderte M. Das hatte er aus seinen Büchern nicht erfahren. Somit erhielt sein Ego einen dritten Dämpfer. Aber da es noch nicht völlig zerstört war, debattierte er mit dem Meister noch ein wenig weiter.
M.: „Herr, nehmen wir an, man glaubt an einen Gott mit Gestalt. Bestimmt ist Er nicht die Tonfigur!“
Meister (ihn unterbrechend): „Warum aus Ton? Es ist ein Bild des Geistes (Spirit).“
M. konnte die Bedeutung dieses „Bildes des Geistes“ nicht ganz verstehen. „Aber Herr“, sagte er zum Meister, „man sollte denen, die eine Tonfigur verehren, erklären, dass sie nicht Gott ist und dass sie Gott im Blick haben sollten und nicht die tönerne Statue, wenn sie sie verehren. Man sollte keinen Ton verehren.“
Meister (scharf): „Das ist das Hobby von euch Leuten aus Kalkutta – Vorträge zu halten und anderen die Erleuchtung zu geben! Keiner hält jemals inne, um darüber nachzudenken, wie er selbst erleuchtet wird. Wer seid ihr, um andere zu belehren?
Er, der der Herr des Weltalls ist, wird jeden belehren. Er allein belehrt uns, der dieses Weltall erschaffen hat, Er, der die Sonne und den Mond erschaffen hat, die Menschen, die wilden Tiere und alle anderen Lebewesen, der für ihren Unterhalt sorgt, der den Kindern Eltern gegeben hat und Liebe, um sie großzuziehen. Der Herr hat so vieles getan – wird Er dann nicht auch den Menschen zeigen, wie sie Ihn verehren sollen? Wenn sie Unterweisung brauchen, dann wird Er der Lehrer sein. Er ist unser i...