Das Versteck des Eremiten
it der Erstürmung Magdeburgs im Mai 1631 zeigte der dreißigjährige Krieg seine grausamste Fratze. In der dreitägigen Orgie aus Blut und Gewalt verloren mehr als 25.000 Männer, Frauen und Kinder der Stadt ihr Leben durch das katholische Heer unter Tilly. Von den einst 35.000 Einwohnern Magdeburgs lebten danach noch etwa 400 in den Ruinen rund um den unzerstörten Dom.
Barbara und Anna, die Töchter eines Kaufmannes, können dem Gemetzel zwar entkommen, doch in Sicherheit sind sie deswegen noch lange nicht. Rings um die Stadt fallen die kaiserlichen Truppen mordend, raubend und vergewaltigend über die Bewohner der kleinen Dörfer her. Können die beiden Schwestern die Grausamkeiten des Krieges überleben?
Die handelnden Figuren sind zu großen Teilen frei erfunden, aber die historischen Bezüge sind durch archäologische Ausgrabungen, Dokumente, Sagen und Überlieferungen belegt.
1. Kapitel
Waldidyll des Todes
unkle Wolken ziehen von Norden her über das Land. Sie treiben den Rauch von Magdeburg nach Süden. Es war ein Fanal für alle Menschen in der Gegend. Es zeigte mehr als deutlich, dass selbst eine so große, mächtige und gut beschützte Stadt, wie das reiche Magdeburg es war, dem Wüten der kaiserlichen Truppen nichts entgegenzusetzen hatte.
Angst ergriff jeden, der diese Wolken sah und die sich in Windeseile verbreitenden Nachrichten über die Gräueltaten der Landsknechte verstärkten diese Furcht nur noch zusätzlich.
Dieses Grausen trieb zwei junge Frauen vor sich her, die über eine offene Fläche irgendwo zwischen der Stadt und dem südlich gelegenen Harzvorland eilten.
Barbara rannte keuchend einen Weg entlang und sie hoffte, dass die schnaufenden Geräusche hinter ihr von ihrer Schwester Anna kamen. Allerdings wollte sie weder anhalten noch sich zu ihr umdrehen. Hier auf dem offenen Gefilde war es viel zu gefährlich und erst im nächsten Waldstück konnten sie wieder eine kleine Rast machen.
Die schützenden Bäume schienen hingegen kaum näherzukommen. Jeder Atemzug schmerzte und es rasselte in ihrer Brust vom schnellen Lauf. Sie hatte keine Ahnung, wie lange sie hier nun schon dahineilte. Barbara wusste nur, dass ihr mittlerweile alles wehtat. Aber die Angst trieb sie unerbittlich vorwärts.
Sie durfte nicht stehen bleiben, denn dann würde sie vermutlich nicht mehr weiterlaufen können.
Seit zwei Tagen waren sie nun schon unterwegs. Ihr Ziel war es, so weit wie nur irgend möglich von Magdeburg fortzukommen, bloß wohin? Der Weg führte nach Süden, darauf hatten sie sich zu Beginn ihrer hektischen Flucht noch geeinigt. Das genaue Ziel wussten weder Anna noch Barbara.
Nachdem ihre ganze Familie in Magdeburg ausgelöscht worden war, hatten sie beide nur noch sich selbst.
Endlich kam der erste Baum auf sie zu. Noch ein paar letzte Schritte, dann brach Barbara zusammen und das Moos fing sie auf.
Neben ihr fiel Anna mit rasselndem Atem zu Boden und rollte sich auf den Rücken. Schnaufend lagen die beiden Schwestern auf dem Waldboden und versuchten wieder zu Luft zu kommen.
Es war Anna, die dann zuerst die Kraft hatte, sich aufzurichten.
Zurückblickend sagte sie: „Uns ist keiner gefolgt!“
Nun konnte sich auch Barbara auf den Rücken drehen. Durch den schnellen Lauf taten ihr die Seiten und die Beine weh.
„Lass uns tiefer in den Wald gehen!“, sagte sie schnaufend.
Mühsam zog sie sich an einem Baum hoch und stolperte tiefer in das Waldstück hinein. Ob ihr Anna folgte, war ihr im Moment egal, aber die jüngere Schwester musste sich ihr einfach anschließen.
Barbara torkelte von Baum zu Baum. Gerade war sie achtzehn Jahre alt geworden. Anna war ein Jahr jünger und Barbara liebte ihre Schwester, aber im Moment musste sich jede der beiden jungen Frauen um sich selbst kümmern.
Nach wenigen Schritten stand sie plötzlich vor einem größeren Teich, der mitten im Wald lag. Die eine Seite des Gewässers war mit Schilf bewachsen, an der anderen grenzte das Gras einer Lichtung an das Ufer. Dorthin steuerte Barbara, kniete sich hin und löschte ihren Durst mit dem kühlen Nass, das durch einen kleinen Bach in den Teich lief.
Über ihre Hände hinweg betrachtete Barbara furchtsam ihre Umgebung, aber keine Menschenseele war zu sehen. Ein kleines hölzernes Wehr versperrte dem Wasser den Ausgang auf der anderen Seite. Dieses Gewässer war offensichtlich ein Fischteich. Direkt dahinter stieg ein kleiner bewaldeter Hügel an.
Vielleicht war der Fischer auch schon vor dem Krieg geflohen. Barbara setzte sich an den Teich, zog ihre Schuhe und Strümpfe aus und streifte sich Rock und Unterkleid bis übers Knie nach oben.
Seufzend ließ sie ihre schmerzenden Beine in das erfrischende Wasser hängen. Das tat so gut, nach dem anstrengenden Lauf. Einen Augenblick später tauchte Anna neben ihr auf und blickte ebenfalls auf das Wasser, das grünlich in der Sonne glänzte.
„Ich werde dort hineingehen und mich schwimmend erfrischen“, erklärte Anna, legte den Gürtel ab und drückte diesen Barbara in die Hand. Wenig später hatte sie Schuhe, Strümpfe und das Kleid ausgezogen und stand im leinenen Unterkleid am Ufer.
„Sei vorsichtig!“, sagte Barbara und setzte hinzu: „Ich kann im Moment nicht schwimmen. Meine Beine tun zu sehr weh.“
Anna nickte und stieg bedächtig in den Teich, dann schwamm sie langsam los.
Barbaras Blick fiel auf den Gürtel der Schwester mit dem Dolch daran. Ihre Finger glitten über die Waffe. Vor einer Woche hatte die Mutter ihnen diese gegeben und ihr eigener hing noch an ihrem Gürtel. Langsam zog sie den Dolch aus der Scheide und strich nun mit den Fingerspitzen über die blanke Klinge.
Ein Schutz sollte er sein, aber wofür hätte der wohl genutzt? Es war lächerlich! Ein Dolch gegen Schwerter und Musketen der kaiserlichen Truppen?
Eine Träne fiel auf die Klinge. Alle waren Tod! Von den zwölf Personen, die ihre Familie vor einer Woche noch gezählt hatte, waren nur sie und Anna übrig geblieben.
Wütend rammte Barbara den Dolch zurück in die Scheide. Die Einzige, der diese Waffe etwas genutzt hatte, war ihre Schwester Susanna gewesen. Sie hatte sich die Klinge in die Brust gestoßen, um den wütenden Soldaten zu entgehen. Mutter, Vater, Großmutter, drei Brüder und vier Schwestern waren tot. Ganz zu schweigen von den Mägden und Knechten, die auf ihrem Kontor gearbeitet hatten.
Vor einer Woche war Barbara noch die reiche Tochter einer noch reicheren Patrizierfamilie gewesen und nun?
Anna kam zurück, schwamm direkt vor sie und sagte: „Da vorn sind Fische in einer Reuse!“
Ein lecker gebratener Fisch wäre jetzt sicher nicht zu verachten, aber wo sollten sie die zubereiten? Barbara blickte sich um, fand aber nichts. Feuer wollte sie auch nicht machen, denn wer wusste schon, wen der Rauch anlocken würde!
Aber bei der Erwähnung der Fische hatte ihr Magen angefangen zu knurren.
„Sollen wir die roh essen?“, fragte Barbara zweifelnd.
Anna holte ihren Dolch, klemmte ihn sich zwischen die Zähne und schwamm abermals hinaus.
Mühsam stemmte sich Barbara hoch, um einen besseren Überblick zu bekommen. Noch einmal sah sie sich um und bemerkte nun ein eingefallenes Dach, das durch die Gebüsche fast vollständig verdeckt war.
Langsam und vorsichtig ging sie darauf zu. Vermutlich wohnten dort die Fischer oder hatten mal dort gewohnt.
Sie zog ihren Dolch und umrundete misstrauisch das Gebüsch. Die Hütte schien schon eine ganze Weile unbewohnt zu sein, aber Barbara rief trotzdem an der Tür: „Ist hier jemand?“ Doch sie erhielt keine Antwort.
Sie schob sich mit voran gehaltener Klinge wachsam in die Ruine. Vielleicht war hier noch etwas zu finden, dass die Bewohner zurückgelassen hatten. Doch sie fand nichts Brauchbares, sondern stieß schon nach zwei Schritten auf ein paar Skelette. Zwei davon waren offensichtlich Kinder gewesen. Also war auch das ein Platz des Todes.
Schnell ging sie wieder nach draußen, sprach ein Gebet und lief zum Teich zurück.
Dort kletterte Anna gerade nackt aus dem Wasser und steckte den Dolch fort. Sie hatte zwei große Karpfen getötet und zum Transport in ihr Unterkleid gewickelt.
Schnell nahm Anna die beiden Leckerbissen heraus, wusch das Kleid noch einmal durch, wrang es aus und zog es sich eilig über.
„Und nun?“, fragte sie.
Barbara hob die Schultern.
„Ich esse keinen rohen Fisch, aber ich habe Hunger!“, sagte Anna und bemerkte nun ebenfalls die Hütte.
„Da ist nichts zu holen, nur ein paar Skelette“, entgegnete Barbara.
Anna lief trotzdem hin. Wenig später war sie mit einem Feuerzeug und Zunder zurück und schon nach ein paar Minuten brannte ein kleines Feuer, über dem sie die Fische am Stock brieten.
Es lag etwas Friedliches darin und doch war der Tod nur wenige Schritte entfernt.
2. Kapitel
Ängste im Mondlicht
er Fisch hatte sehr gut geschmeckt und Anna leckte sich alle Finger ab, nachdem sie ihn gegessen hatte. Ein paar Tage hatte sie schon nichts Richtiges mehr im Bauch gehabt.
„Können wir heute Nacht hier bleiben?“, fragte sie ihre Schwester und blickte zum Teich hinüber.
Sie hatte die zwei größten Karpfen aus der Reuse genommen, aber für das Frühstück am nächsten Morgen waren noch ein paar kleinere darin geblieben.
Dann sah sie zurück zu Barbara und legte bittend den Kopf schief. Sie wusste, dass die Schwester diesem Blick nicht widerstehen konnte.
Schließlich stimmte Barbara zu, setzte aber zugleich hinzu: „Ich schlafe aber nicht hier auf der freien Lichtung. Vielleicht ist dort drüben im Schilf ein besserer Platz zu finden.“
Anna nickte erleichterte und erhob sich. Mittlerweile war das Unterkleid durch das Feuer wieder trocken und sie konnte sich das Kleid darüber ziehen. Dann legte sie sich den Gürtel mit der Waffe um.
Schwer drückte der Dolch auf ihre Hüfte. Während des ganzen Rennens hatte er immer wieder gegen ihre Hüfte geschlagen, doch sie wollte sich nicht davon trennen, selbst wenn er sie noch mehr behindert hätte, denn er war nun die einzige Erinnerung an die Mutter.
Fast zärtlich strich sie über den hölzernen Griff, der nach dem Bade immer noch etwas nass war. Es war eine gute Waffe, die ihr die Mutter da gegeben hatte. Italienische Klingenschmiede hatten sie gefertigt und doch war sie zur Vert...