Sein und Wohnen
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Philosophische Streifzüge zur Geschichte und Bedeutung des Wohnens

  1. 288 Seiten
  2. German
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Philosophische Streifzüge zur Geschichte und Bedeutung des Wohnens

Über dieses Buch

Mit der Coronavirus-Pandemie und den Lockdowns wurde noch einmal klar, dass die Wohnung ein entscheidender Lebens- und Rückzugsort, aber auch ein Gefängnis ist. Obgleich der Mensch ein wohnendes Wesen ist, haben sich nur wenige Philosophen damit beschäftigt. Florian Rötzer unternimmt einen erstaunlichen Streifzug durch die Kulturgeschichte des Wohnens und wirft einen Blick in die digitale Zukunft, die das Wohnen radikal verändert. Denn unsere Wohnung von morgen ist nicht länger ein privater Rückzugsraum, sondern kann von überall gesteuert, eingesehen und gehackt werden.

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Information

Nach dem Schmutz: Aufklärung, Entlüftung und die große Reinigung

Wohnarchitektur, so das gewöhnliche pragmatische Verständnis jenseits von Heimatideologien und modischen Vorstellungen des »Schöner Wohnens«, soll der Form nach ästhetisch ansprechende, möglichst funktionale, meist immobile Behälter mit Innenräumen für Menschen und Dinge schaffen, um sie vor unerwünschten Einflüssen der Umwelt, des Wetters und des Klimas sowie fremden Blicken und Eindringlingen zu schützen. Das Leben in den Räumen soll für den Menschen gedeihlich und angenehm sein, wozu unter anderem die Größe der Räume und der Behausung selbst mitsamt Zuschnitt, Beleuchtung, Klima, Sanitäranlagen, Wasserversorgung, Hygiene, Lärmschutz, Temperaturregulierung, Technik und die erforderliche Infrastruktur gehören – und nicht zuletzt alle Mittel, den Zugang zu den Wohnräumen zu sichern und zu kontrollieren, wozu neben Türen und Fenstern heute auch zunehmend die elektronischen Überwachungs- und Steuerungstechniken oder Roboter gehören, mit denen sich die Smart Homes auch aus der Ferne beobachten und wie eine Maschine bedienen lassen. Selbst bei Abwesenheit kann so in Echtzeit erfasst werden, wenn jemand das Haus oder die Wohnung betritt oder in sie eindringt. Smart Homes machen schließlich aus den Wohnungen, die bislang eher als Gehäuse oder auch als materieller Schutz wie eine Kleidung zu verstehen waren, Verlängerungen oder Prothesen des Körpers, wodurch die Kontrolle darüber, wem sie sich öffnen und wer sich in ihnen aufhält, noch wichtiger als zuvor wird, da Körper und Wohnung durch die interaktiven Schnittstellen für den Bewohner zunehmend verschmelzen und sich das körperliche Immun- und Aufmerksamkeitssystem auf die smarte Wohnung oder das intelligente Haus erweitert, die ihre Bewohner kennen.
Der umbaute Raum ist aus der Perspektive der Bewohner ein erweiterter, auch kollektiver Körper, der sich aufgrund von Energiespar- und Klimaschutzmaßnahmen zur Optimierung der Gesamtenergieeffizienz durch eine wärmebrückenfreie und luftdichte Bauweise Schritt für Schritt weiter von der Außenwelt isolieren muss und sich wohl auch im Zuge dessen durch Form und Materialien eine zunehmend abweisende Fassade zulegt. Noch im 19. Jahrhundert, als mit Holz und Ziegeln gebaut wurde, nahm man an, dass Gebäude auch durch die Wände »atmen« und dadurch für ausreichend Sauerstoff beziehungsweise den Abzug von CO2 sorgen. Mit der Ära der Hygiene, die nach dem europäischen Zeitalter des Schmutzes anbrach, kam auch die Frage nach der richtigen Belüftung und der Kontrolle der Luftströme oder des atmenden Gebäudes auf. So musste sichergestellt sein, dass genügend Sauerstoff eindringen und gleichzeitig schlechte Luft abziehen konnte. Max von Pettenkoffer, ein Vertreter der »atmenden Wände«, beschrieb in seiner bereits 1858 verfassten Schrift »Über den Luftwechsel in Wohngebäuden« diesbezügliche Beobachtungen und Experimente etwa mit Ziegelsteinen. Ausgehend von der Beobachtung, dass CO2 aus der Raumluft wieder verschwindet und es daher einen Luftwechsel geben müsse, schloss er sich in ein kleines Zimmer ein, verklebte die Fugen des Fensters und der Türen, inklusive Schlüssellöcher, »mit gut geleimten Schreibpapier und Kleister« und zündete dann ein Feuer im Ofen an, das trotz des »sorgfältigsten Verschlusses aller Öffnungen […] sehr lebhaft« brannte. Das bewies für ihn, dass die Luft, »welche durch den Aschenfall nach dem Kamin strömte, jeden Augenblick von außen wieder ersetzt werden musste«, nämlich durch die »Porosität des Baumaterials«, die einen wichtigen Beitrag für die »natürliche Ventilation« der Wohnungen leistet. Es sei daher von vorneherein anzunehmen, dass ein »luftdichter Verschluss gegen die äußere Atmosphäre« deswegen nicht möglich sein könne.
Diese Annahme ließ sich aber nicht halten, auch wenn sie noch Jahrzehnte Bestand haben sollte. Experimente zeigten, dass insbesondere Wände, die verputzt sind oder aus Stahlbeton bestehen, tatsächlich luftundurchlässig sind, während Holz- oder Metallkonstruktionen mit einer luftdichten Schicht versehen werden müssen. Durch undichte Stellen und Fugen in Fenstern, Rollladen­kästen, Türen und Schlüssellöchern kann Luft zirkulieren und insbesondere warme Luft aus dem beheizten Inneren der Räume austreten. Seitdem versucht man, Gebäudehüllen und Räume luftdicht abzuschließen, indem die betroffenen Stellen von größeren Bauteilen oder Bauteilübergängen verschlossen werden. Neben Wärmeisolierung geht es dabei auch um den Schutz vor Schall und eindringendem Wasser, auch in Form von Feuchtigkeit. Der Wärmeschutz von außen hingegen erfolgt – ohne Klimaanlagen – durch Abschattung der Fenster, intelligentes oder thermochromes Glas, begrünte Fassaden oder Luftbrunnen.
Bei luftdicht abgeschlossenen Räumen entsteht beispielsweise das bekannte Problem, dass sich bei unzureichender Belüftung Kondenswasser an Wänden und Bauteilen niederschlägt und Schimmel verursacht. Sind Flächen und Fugen nicht abgedichtet, kann durch Risse oder Kapillarwirkung Kondenswasser ins Innere der Bauteile eindringen und dort Schäden anrichten. Die Energieeinsparverordnung (EnEV 2002) schreibt vor, dass ein neues Gebäude »dauerhaft luftundurchlässig entsprechend dem Stand der Technik abgedichtet« sein muss, aber gleichzeitig ein Mindestluftwechsel durch freie oder mechanische Lüftung zu gewährleisten ist. Statt der atmenden Gebäude müssen nun also Maschinen oder Bewohner für die Lüftung sorgen. Für den hygienischen Mindestluftwechsel in bewohnten Räumen ist nicht nur die Luftfeuchtigkeit zu kontrollieren, sondern auch darauf zu achten, dass sich nicht zu hohe und für den Menschen gefährliche Mengen an CO2, Schadstoffen oder Gerüchen ansammeln. Luftwechselrate und Mindestluftvolumenstrom pro Person in Räumen sind vorgeschrieben. Auch für die Größe der Fenster gibt es klare Richtlinien und fensterlose Küchen, Kochnischen, Bäder und Toiletten erfüllen nur dann die Auflagen, wenn sie hinreichend belüftet werden können.
Der Trend zu luft-, wasser-, wärme-, feuchtigkeits- und schalldichten Wohnräumen geht notwendig hin zu Wohnzellen, die abgesehen von Türen und Klimaanlagen, Strom, Wasserinstallationen und natürlich einem High-Speed-WLAN keinen direkten Austausch mit der Außenwelt mehr haben. Die appbasierten, in Innenstadtlagen befindlichen Boxhotels – unter den Slogans »Sleep smarter« und »Schlafen muss nicht teuer sein« –, die es in Göttingen und Hannover gibt und die in Leipzig, Hamburg und Bielefeld entstehen sollen, sind Paradebeispiele für minimalistisches Wohnen – »effiziente Raumnutzung« – in einer Gesellschaft, die zwischen Arm und Reich auseinanderbricht. Das wird auch mit Nachhaltigkeit schöngeredet: »Der zur Verfügung stehende Raum wird optimal ausgeschöpft und auf ungenutzte Freiflächen größtenteils verzichtet.«
Die Boxhotels bieten fensterlose Einzelzimmer ab 24,99 Euro, Größe: 4 Quadratmeter. Für einen Aufpreis gibt es auch 6 Quadratmeter mit zwei Betten auf unterschiedlichen Stockwerken, einem Waschbecken und – natürlich nicht umsonst – einer Dusche. Die Toiletten sind immer im Gemeinschaftsbad. In der Lounge kann man sich aufhalten, Wasser und Kaffee gibt es kostenlos. Die Fensterlosigkeit soll einem regelrecht schmackhaft gemacht werden: »Unsere Boxen verfügen über ein spezielles Belüftungssystem. Auch ohne Fenster kannst du bei uns immer durchatmen! 1 000 000 Liter Frischluft am Tag – so viel, wie du in 100 Tagen einatmest.« Anstatt eines Fensters gibt es ein Foto, man könnte sich auch einen Bildschirm vorstellen, der einen Ausblick simuliert oder aber wahlweise alles andere zeigt, was weltweit als Foto oder Video zirkuliert, wodurch die Zelle zu einer von der lokalen Umgebung isolierten, aber global vernetzten Raumkapsel oder Monade würde.
Nun gibt es in den Landesbauordnungen eigentlich die Vorschrift, dass Wohnräume, wozu auch Hotelzimmer zählen sollten, Fenster haben müssen, um sie mit Tageslicht zu versorgen. Die Stadt Hannover wollte im Unterschied zur Stadt Göttingen deswegen das Boxhotel verbieten lassen. Vor Gericht scheiterte Hannover, hat aber nun zur Auflage gemacht, dass Gäste dort aus gesundheitlichen Gründen nur drei Tagen wohnen dürfen. Darüber hinaus sorgt sich die Stadt um das »psychische und physische Wohlbefinden« der Gäste. Der Betreiber der Boxhotels klagt derzeit gegen die Auflagen und könnte damit eine neue minimalistische Wohnkultur von Höhlenbewohnern durchsetzen, in der Fenster, Tageslicht und die Anbindung an die lokale Umgebung obsolet wären.
Ob die fensterlosen, luftdichten Wohnhöhlen kommen werden, ist fraglich, und wer es sich leisten kann, wird sich wohl beim Wohnen nicht in eine solche Zelle einschließen. Aber auch die neuen luftdicht und wärmetechnisch ausgelegten Gebäude zeigen in der Fassadengestaltung, dass sie nicht offen sind, sondern verschlossen, abwehrend und in sich zurückgezogen. Als Vorbilder stehen hierfür Bunker und bunkerähnliche Fahrzeuge wie diesen nachempfundene SUVs, massive, höher gelegte, meist schnelle Fahrzeuge mit kleinen und getönten Fenstern, um die Insassen besser zu schützen, was diese zum aggressiveren Fahren provoziert. Für den Fahrer ist das Fahrzeug wie auch die Wohnung ein erweiterter Körper, für die Mitfahrer hingegen – im Unterschied zum offenen Fahr- oder Motorrad – ein kollektiver. Die Auffassung, dass der Körper selbst wiederum als Wohnung der Seele gilt, komplettiert schließlich das komplexe metaphysische Zusammenspiel, das anhand einer etwa 300 Jahre währenden Zeit in Europa deutlich wird, als dieses aufgrund seiner überlegenen (Waffen-)Technik sowie grenzenlosen Gier und Aggressivität zur Weltmacht geworden war, während es gleichzeitig im Gestank und Schmutz versank. Eine interessante, die Moderne prägende Epoche, die wir uns näher ansehen wollen.

Angst vor dem Porösen

Viele Menschen in der Welt sind saubere, trockene, möglichst staubfreie, mehr oder weniger helle und gut belüftbare oder klimatisierte Wohnungen gewöhnt oder streben zumindest danach. Sie sollen geruchsneutral und frei von Schmutz sein sowie dem »Ungeziefer«, letztlich allem Lebendigem, abgesehen von erwünschten Haustieren, möglichst wenig, am besten überhaupt keinen Lebensraum bieten. Das war lange Zeit aber keineswegs die Lebenswirklichkeit der meisten, vornehmlich ärmeren Menschen, die sich mit Staub, Dreck, Ungeziefer und Gestank konfrontiert sahen und oft in dunklen, feuchten und kalten Unterkünften hausten. Das Ideal der Reinheit hatte schon für die Stoiker, aber insbesondere für die frühen Christen eher mit dem Seelenheil und dem »Schmutz« der Laster als mit dem der Lebenswelt und des eigenen Körpers zu tun, radikalisierte sich aber mit dem jahrhundertelangen Durchgang Europas durch Schmutz und Gestank, um schließlich die geistige Reinigung im Gegenzug mit bislang unerhörter, teils technikgetriebener Radikalität auch auf den Körper und die gebaute Umwelt zu übertragen. Im 15. und 16. Jahrhundert kam es bekanntlich zu einem großen kulturellen Bruch, Wasser wurde auch bis in den höchsten Adel hinein verabscheut, Waschen war weitgehend verpönt, es galt gar als gefährlich und sollte möglichst vermieden werden.
Diese Zäsur mitten im Prozess der Aufklärung und des rationalen Denkens, des Fortschritts der Wissenschaft und der Rationalität wie auch der Explosion an technischen Neuerungen ist immer noch erstaunlich und kaum nachvollziehbar. Es ging keineswegs um einen Rückfall in das »dunkle Mittelalter«, welches zumindest in den europäischen Städten in der Nachfolge der Kultur des antiken Roms noch ziemlich sauber war, sondern um eine kuriose wissenschaftliche Exkursion oder Abweichung, die ausgerechnet im Zeitalter der Seuchen erfolgte und diesen begegnen sollte – durch Verschluss von Öffnungen für gefährliche Dünste, von denen man glaubte, dass sie Krankheiten übertragen, durch Einschränkung letztlich des freien Flusses der Luftzirkulation in den Wohnungen und an den Körpern.
Diese scheinbar wissenschaftlich begründete Verirrung führte schließlich zu einer massiven Revolution der Lebensführung und des Wohnens durch moderne Technik: Das Bauen wurde wie auch das Selbstverständnis der Menschen radikal dem Imperativ der Sauberkeit oder Hygiene unterworfen. Mit der im 18. Jahrhundert beginnenden Entwicklung der Chemie, der steigenden Sensibilität für Gase und der zunehmenden sozialen Ächtung der üblen Gerüche niederer Kreise durch die empfindlichen Nasen des neuen Bürgertums setzt dann, unterstützt durch die Entdeckung mikrobieller Krankheitserreger, im 19. Jahrhundert das ein, was man die »große Reinigung« nennen könnte, die bis heute anhält. Parallel wurden die konventionellen Quellen unliebsamer Ausdünstungen in Form des Zerfalls organischer Materie durch die Schornsteine der Fabriken und Häuser sowie die giftigen Schlacken und Gase der chemischen Industrie ersetzt. Letztere vertrieb vor der Ankunft des elektrischen Lichts mit Leuchtgas und Gasanstalten die Dunkelheit aus Städten und Häusern und sorgte mit der massenhaften Herstellung von Chlor, Soda und Schwefelsäure für die Reinigung von Textilien auch zur besseren Desinfektion.
Die erleuchteten Wohnungen gaben den Blick auf Schmutz, Dreck und Staub frei, was allmählich auch zu deren Entrümpelung, später gipfelnd im Bauhausstil, führte. Die Umwelt- und Luftverschmutzung des Industriezeitalters wurde lange Zeit geduldet, auch wenn diejenigen, die es sich leisten konnten, aufgrund der Motorisierung, zunächst mit Zügen und dann Autos, aus den Städten zogen, sich in neuen Villensiedlungen und Gartenstädten niederließen und die Suburbanisierung einleiteten. Damit kehrte sich erstmals der Zuzug aus dem Land in die Städte um, indem urban geprägte Siedlungen in Form der Vorstädte wuchsen, die Dörfer überwucherten oder umgestalteten: eine Ruralisierung der Städte oder eine Urbanisierung des Landes.

Der Gestank der Heiligkeit

Die Geschichte der großen Reinigung betrifft vor allem die christlichen europäischen Länder, die zum Beginn der Neuzeit einige Jahrhunderte des Lebens im extremen Dreck und mit einer vermeintlich medizinisch begründeten Wasserphobie durchliefen. Nirgendwo sonst war die Aversion gegen die körperliche Reinigung so groß. Nicht nur in Asien wunderte man sich über den Gestank der Europäer, auch die Osmanen rümpften die Nase über die schmutzigen Barbaren, die sich in die Nachfolge der frühchristlichen Eremiten und Asketen stellten. In Amerika eroberten die wasserscheuen Europäer etwa das Reich der Azteken, welches über ausgeklügelte Wassersysteme verfügte und hohe Reinlichkeitsstandards aufwies. Mit dem Aufkommen des fundamentalistischen, zunächst eher asketischen Christentums und dem Zusammenbruch des Römischen Reichs mit seiner urbanen Kultur wurde auch die bislang zelebrierte Bade- und Reinheitskultur, die ihren Ursprung im antiken Griechenland hatte, wo bereits viele Häuser auch mit Badewannen ausgestattet waren, als elementarer Bestandteil des sozialen Lebens in den Städten für unwichtig oder gar dekadent befunden.
Baden sorgte für Sauberkeit und war Ausdruck von Hygiene, aber auch der Lebenskultur, zumindest für diejenigen, die es sich leisten konnten und die Bäder betreten durften. Die ausgefeilten Badeprozeduren galten als eines der wesentlichen Rituale der römischen Kultur. Große Teile der Bevölkerung hatten allerdings auch im antiken Rom kein fließendes Wasser, die Töpfe wurden auf die Straße, in den großen Mietshäusern (insulae) meist in im Erdgeschoß aufgestellte Fässer, in Gruben oder Misthaufen geschüttet. An den Straßen und Plätzen waren Latrinen aufgestellt, um die Verschmutzung des öffentlichen Raums zumindest dort einzudämmen. Urin sammelte man zum Weiterverkauf als Rohstoff an Gerber oder Färber. Die öffentlichen Bäder boten neben Umkleideräumen verschiedene Warm-, Dampf- und Kaltbäder an, ebenso wie Möglichkeiten zu speisen und zu trinken, sich massieren zu lassen, Sport zu treiben, zu spielen und vor allem mit anderen zu kommunizieren. Zwar sollten Männer und Frauen eigentlich getrennt baden, doch die Klagen über sexuelle Ausschweifungen waren häufig, wie Bilder in einer Therme mit Bodenheizung und Badebecken in Pompeji belegen. In Rom landete das Abwasser der Latrinen oder Toiletten über die gemauerte cloaca maxima und andere Abflüsse, die zudem schnell verschlammten, im träge fließenden Tiber, der zumal im Sommer mit geringem Wasserstand strenge Gerüchte verbreitet haben muss. Die herrschaftlichen Villen auf dem Land, die mit Latrinen und fließendem Wasser ausgestattet waren, dienten neben der Verwaltung der Latifundien den wohlhabenden Römern dazu, dem Gestank im Sommer zu entgehen. Der Körper wurde allerdings nicht mit Seife und Wasser gesäubert, sondern mit Öl, das man mit einem Metallstab, strigil genannt, wieder abschabte.
Die aufwendige Infrastruktur der Wasserversorgung für die teils gigantischen Thermen, aber auch für die privaten Bäder hielt sich noch bis ins 7. Jahrhundert hinein, dann zerfiel sie allmählich und ging im ausgehenden Mittelalter weitgehend verloren. Durch den Aufstieg des Christentums und seiner »Kulturrevolution« verschwanden allmählich das Wissen und das Verlangen nach dieser Form der körperlichen Hygiene. Wichtiger war schließlich die seelische Reinheit, während die Verachtung des Körpers und des irdischen Jammertals die Reinlichkeit in den Städten und Wohnungen, aber auch des Körpers in den Hintergrund treten ließen. Schon die frühen Christen hatten als Fundamentalisten versucht, die römische Zivilisation als verderbt zu beseitigen. Wie Vandalen, nicht weit entfernt von den heutigen Islamisten, plünderten und zerstörten sie Kulturen ganz im destruktiven Geist der religiösen Säuberung. Ein kärgliches Relikt aus der römisch geprägten Zeit des frühen Christentums überlebte lediglich in Gestalt des obligatorischen Bads vor der Taufe.
Tertullian, ein strenger Moralist, der in den Jahren von 150 bis 200 nach Christus lebte, schrieb etwa, die Christen seien doch »keine Waldmenschen oder aus dem Leben ausgeschieden«, sie würden keine der Früchte von Gottes Werken verschmähen und daher »in der Welt mit euch zusammenleben, nicht ohne Benützung des Marktplatzes, nicht ohne den Fleischerladen, nicht ohne die Bäder, die Verkaufsbuden […]«.1 Das sollte sich aber ändern, wenn auch im Osten des ehemaligen Römisches Reichs weniger stark als im Westen; beispielsweise beschimpfte der spätantike Sophist Eunapios von Sardes im 4. Jahrhundert die Christen als »Rasse schmutziger Tiere«. Es gab allerdings keine einheitliche Praxis, so war das Waschen und ...

Inhaltsverzeichnis

  1. Titel
  2. Inhalt
  3. Einleitung
  4. Anthropologie des Wohnens: Von der biologischen Zelle zum Wohngebäude
  5. Philosophen: Vom Wohnen und Gewohnten
  6. Die Erde als Wohnung
  7. Recht auf Wohnung, Wohnungslosigkeit und neuer Nomadismus
  8. Vilém Flusser: Philosophie des Unbehaustseins
  9. Die neue Unbehaustheit im digitalen Zeitalter
  10. Gäste und Hospitalität
  11. Nach dem Schmutz: Aufklärung, Entlüftung und die große Reinigung
  12. Obdachlosigkeit und das Phänomen des Entwohnens
  13. Wohnen in abgeschlossenen Gehäusen
  14. Die neue »Un-Heim-lichkeit«
  15. Anmerkungen