Arnold Reisberg. Jüdischer Revolutionär aus dem Königreich Galizien
eBook - ePub

Arnold Reisberg. Jüdischer Revolutionär aus dem Königreich Galizien

Eingeleitet von Hermann Klenner

  1. 184 Seiten
  2. German
  3. ePUB (handyfreundlich)
  4. Über iOS und Android verfügbar
eBook - ePub

Arnold Reisberg. Jüdischer Revolutionär aus dem Königreich Galizien

Eingeleitet von Hermann Klenner

Über dieses Buch

Arnold Reisberg, geboren am 17. Februar 1904 in Borislav (Galizien) war Erstgeborener einer ostjüdischen Familie, die zu Beginn des Weltkrieges 1914 aus Galizien nach Wien geflohen ist. Durch die Begegnung mit Schriften der Kommunistischen Internationale, die 1919 zum I. Kongress zusammengekommen ist, erhielt der Begriff Freiheit für Reisberg in jungen Jahren eine konkrete humane Dimension. Es war für ihn nicht mehr die bürgerlich-liberale Freiheit, ein Ghetto möglichst auf dem Weg zum Friedhof zu verlassen, sondern eine Freiheit, die mit allen Menschen geteilt werden sollte, die Freiheit von Unterdrückung und Würdelosigkeit jeder Art. So trat er 1923 dem Kommunistischen Jugendverband und 1924 der KPÖ bei, nicht als eskapistischer Idealist, sondern als Aktivist und Propagandist. Über Wien (1914-1934), Prag (1934) und Moskau (1934-1937), über den GULag (1937-1946), eine Strafansiedlung in Tassejewo (1946- 1954) sowie über einen Aufenthalt in Mossalsk (1955?1959) kam Reisberg im Februar 1959 in Berlin an. Dort hat er als marxistisch-leninistischer Historiker, zu dem er an der Wiener Universität ausgebildet worden war, bis zu seinem Tode am 20. Juli 1980 herausragende wissenschaftliche Arbeiten zur Geschichte der Republik Österreich und über Wladimir Iljitsch Lenin veröffentlicht.Arnold Reisberg ist zeitlebens "unverbesserlicher" Kommunist geblieben. Er gab Zeugnis für die Utopie einer neuen ökonomischen sozialen, politischen und kulturellen Ordnung der Welt.

Häufig gestellte Fragen

Ja, du kannst dein Abo jederzeit über den Tab Abo in deinen Kontoeinstellungen auf der Perlego-Website kündigen. Dein Abo bleibt bis zum Ende deines aktuellen Abrechnungszeitraums aktiv. Erfahre, wie du dein Abo kündigen kannst.
Derzeit stehen all unsere auf mobile Endgeräte reagierenden ePub-Bücher zum Download über die App zur Verfügung. Die meisten unserer PDFs stehen ebenfalls zum Download bereit; wir arbeiten daran, auch die übrigen PDFs zum Download anzubieten, bei denen dies aktuell noch nicht möglich ist. Weitere Informationen hier.
Perlego bietet zwei Pläne an: Elementar and Erweitert
  • Elementar ist ideal für Lernende und Interessierte, die gerne eine Vielzahl von Themen erkunden. Greife auf die Elementar-Bibliothek mit über 800.000 professionellen Titeln und Bestsellern aus den Bereichen Wirtschaft, Persönlichkeitsentwicklung und Geisteswissenschaften zu. Mit unbegrenzter Lesezeit und Standard-Vorlesefunktion.
  • Erweitert: Perfekt für Fortgeschrittene Studenten und Akademiker, die uneingeschränkten Zugriff benötigen. Schalte über 1,4 Mio. Bücher in Hunderten von Fachgebieten frei. Der Erweitert-Plan enthält außerdem fortgeschrittene Funktionen wie Premium Read Aloud und Research Assistant.
Beide Pläne können monatlich, alle 4 Monate oder jährlich abgerechnet werden.
Wir sind ein Online-Abodienst für Lehrbücher, bei dem du für weniger als den Preis eines einzelnen Buches pro Monat Zugang zu einer ganzen Online-Bibliothek erhältst. Mit über 1 Million Büchern zu über 1.000 verschiedenen Themen haben wir bestimmt alles, was du brauchst! Weitere Informationen hier.
Achte auf das Symbol zum Vorlesen in deinem nächsten Buch, um zu sehen, ob du es dir auch anhören kannst. Bei diesem Tool wird dir Text laut vorgelesen, wobei der Text beim Vorlesen auch grafisch hervorgehoben wird. Du kannst das Vorlesen jederzeit anhalten, beschleunigen und verlangsamen. Weitere Informationen hier.
Ja! Du kannst die Perlego-App sowohl auf iOS- als auch auf Android-Geräten verwenden, um jederzeit und überall zu lesen – sogar offline. Perfekt für den Weg zur Arbeit oder wenn du unterwegs bist.
Bitte beachte, dass wir keine Geräte unterstützen können, die mit iOS 13 oder Android 7 oder früheren Versionen laufen. Lerne mehr über die Nutzung der App.
Ja, du hast Zugang zu Arnold Reisberg. Jüdischer Revolutionär aus dem Königreich Galizien von Gerhard Oberkofler im PDF- und/oder ePub-Format sowie zu anderen beliebten Büchern aus Geschichte & Osteuropäische Geschichte. Aus unserem Katalog stehen dir über 1 Million Bücher zur Verfügung.

VI Seit 1959 in der DDR

„Ich verehre in Lenin einen Mann, der seine ganze Kraft unter völliger Aufopferung seiner Person für die Realisierung sozialer Gerechtigkeit eingesetzt hat. Seine Methode halte ich nicht für zweckmäßig. Aber eines ist sicher: Männer wie er sind die Hüter und Erneuerer des Gewissens der Menschheit.“
Albert Einstein (1879–1955)179
Johann Koplenig als Vorsitzender der KPÖ und Friedl Fürnberg als deren Zentralsekretär wussten über die Rehabilitierung von A. R. Bescheid und wollten ihn für die nationale und internationale Parteiarbeit in Wien einsetzen. Vor allem Fürnberg war daran interessiert, weil er als Leiter der Kominformabteilung der KPÖ hoffte, für seine Pläne zur Errichtung einer eigenen Telegraphenagentur für die rasche und regelmäßige Informierung der internationalen Ereignisse, die die Arbeiterbewegung tangieren, qualifizierte Unterstützung zu erhalten. Das war nicht möglich, weil die österreichischen Behörden dem „Polen“ A. R. kein Einreisevisum erteilten. A. R. wandte sich an die Sozialistische Einheitspartei Deutschlands (SED), die ihm nach Ausräumung einiger Vorbehalte den Aufenthalt in der Hauptstadt der DDR, Berlin, ermöglichte. Die DDR gab es seit 1949, ihre Gründung als sozialistischer Arbeiter- und Bauern-Staat war historisch legitim, weil in ihr die im Potsdamer Abkommen völkerrechtlich festgeschriebenen Grundsätze der Antihitlerkoalition verwirklicht wurden und die Ziele, für welche die fortschrittlichen Kräfte des deutschen Volkes über Jahrhunderte hinweg gekämpft haben, zum Staatsgesetz erhoben worden waren.
Seit 2. Februar 1959 war A. R. in der Gubitzstraße 30, Berlin NO 55, gemeldet, hatte eine Arbeitsstelle im Karl-Liebknecht-Haus des ZK der SED und wurde zuerst als Lehrer eingesetzt. Etwa ein Jahr später wurde A. R. von der Staatssicherheit überprüft, weil er als Inhaber einer Konspirativen Wohnung (KW) geworben werden sollte. Das Ergebnis der Ermittlungen wurde am 29. April 1960 aktenkundig:180
„R. ist Mitglied der SED und der DSF [d. i. Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft].
R. leitet das Parteilehrjahr in der Wohnparteiorganisation der SED, die Schulungen führt er in sachlicher und gut zu verstehender Art aus. Sein politisches Wissen wird als gut bezeichnet, er war mehrere Jahre in der SU und hat dort reiche Erfahrungen gesammelt.
Im vorigen Jahr ist er mit seiner Ehefrau aus der SU nach Deutschland zurückgekehrt. R. beteiligt sich stets an Versammlungen und flaggt immer bei feierlichen Anlässen. Die politische Einstellung des R. ist einwandfrei.
Im Wesentlichen ist er stets freundlich und zuvorkommend den Bewohnern gegenüber, pflegt aber mit niemandem einen direkten freundschaftlichen Verkehr.
Er führt einen anständigen, soliden Lebenswandel und hat einen guten Leumund. Das Ehepaar wird als ein harmonisches bezeichnet, man sieht R. zumeist in Begleitung seiner Ehefrau weggehen.
Die finanzielle Lage wird als geordnet angesehen, da die Ehefrau auch berufstätig ist und beide Eheleute keinerlei Aufwand treiben. R. bewohnt eine 2 ½ Zimmerwohnung mit Küche und Bad.
Soweit ersichtlich ist, erhält R. sehr selten Besuch. Es ist auch immer still und ruhig in der Wohnung.
Die Befragte, die sich schon mehrmals mit R. und dessen Ehefrau unterhalten hatte, entnahm aus einem Gespräch, dass das Ehepaar R. einen Sohn hat, der sich noch in der SU befindet und mit dem sie in Verbindung stehen.
Über sonstige Verwandte in der DDR, Westberlin und Westdeutschland ist nichts Näheres bekannt. Dass R. oder dessen Ehefrau die Westsektoren aufsuchen, wird auf Grund ihrer politischen Einstellung nicht vermutet.“
Über Eleonore Reisberg wird zusammengetragen:
„Frau R. ist seit einiger Zeit berufstätig, die Anschrift der Arbeitsstelle konnte nicht genau gesagt werden. Die Befragte nimmt an, dass sie wahrscheinlich auch im Karl-Liebknecht-Haus beschäftigt ist.
Sie ist Mitglied der SED und gehört dem DFD [Demokratischer Frauenbund Deutschlands], der DSF und dem Kultur-Bund an. Eine Funktion gesellschaftlicher Art führt sie im Wohngebiet nicht aus. Da sie vorher nicht berufstätig war, sollte sie für die Mitarbeit im Kultur Ausschuss des Wirkungsbereichs herangezogen werden. Frau R. hatte nicht abgelehnt, sie hat sich aber schnellstens um eine Beschäftigung bemüht, so dass es für die Mitarbeit im Kultus Ausschuss wegen Zeitmangels ausfiel.
Ansonsten besucht sie die Mitgliederversammlungen der DFD-Gruppe und beteiligt sich auch im positiven Sinne an der Diskussion. Über ihre Einstellung zur Regierung der DDR und der SU ist nichts Nachteiliges bekannt.
Frau R. ist stets freundlich und aufgeschlossen, sie führt einen anständigen Lebenswandel und hat einen guten Leumund. Direkten freundschaftlichen Verkehr mit Personen aus dem Wohngebiet hat sie nicht. Es konnten auch keine näheren Angaben über ihren Verwandten- und Bekanntenkreis gemacht werden. Desgleichen auch über Verbindungen mit westlichen Personen.“
Die Staatssicherheit der DDR wird in einer separaten Aktenmappe andere Niederschriften zu A. R. gehabt haben. Zum 100. Geburtstag von Lenin (1969) schrieb A. R. für die Grundorganisation des Ministeriums für Staatssicherheit einen Text über Lenin als Lehrmeister des konspirativen Kampfes und die Notwendigkeit der Tscheka.181 Der Begriff Tscheka war in der DDR bekannt als Abkürzung der von Feliks Dzierżyński (1877–1926) vorgeschlagenen und am 20. Dezember 1917 vom Rat der Volkskommissare zum Kampf gegen Konterrevolutionäre und Saboteure geschaffenen Gesamtrussischen Außerordentlichen Kommission zur Bekämpfung von Konterrevolution und Sabotage (Tscheka). Es gelte, die leninistische Sicherheitspolitik durch die SED zum Schutz und zur Sicherung der DDR anzuwenden. A. R. kannte die Werke von Lenin und bezog sich auf dessen Unterstützung der Tscheka als Institution, „die unsere schärfste Waffe war gegen die unzähligen Verschwörungen, die unzähligen Anschläge auf die Sowjetmacht seitens der Leute, die unvergleichlich stärker waren als wir. […] Ohne eine solche Institution kann die Macht der Werktätigen nicht bestehen, solange es auf der Welt noch Ausbeuter gibt, die nicht gewillt sind, den Arbeitern und Bauern ihre Gutsbesitzer- und Kapitalistenrechte auf dem Präsentierteller darzubieten.“182 A. R. machte auf die von Lenin angesprochenen Mängel und Schwächen der Arbeit der Tscheka aufmerksam, die im Kampf gegen einen skrupellosen und hinterhältigen Feind naturgemäß auftreten.
Die „Vergangenheit“ von A. R. in den GULags der Sowjetunion wurde in der DDR trotz des nach dem XX. Parteitag der KPdSU im Februar 1956 einsetzenden „Tauwetters“ tabuisiert. Zu sehr war der Rückblick auf die vielen Jahre mit Stalin kanonisiert. In den seinen Büchern beigegebenen biographischen Vorstellungen ist darüber nichts zu lesen. Noch in dem 1980 herausgegeben Buch über die Arbeiterinternationale steht bloß: „Nach den Februarkämpfen 1934 wurde Arnold Reisberg verhaftet und verurteilt. Auf Beschluss der Partei ging er nach seiner Freilassung in die Sowjetunion, wo er in Moskau als Leiter und Lektor des österreichischen Sektors an der Internationalen Leninschule tätig war. Seit 1959 lebt Arnold Reisberg in der DDR und ist Mitarbeiter des Instituts für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED“.

VI.1 Biographische Forschungen über Wladimir Iljitsch Lenin

Die DDR war, das wusste A. R., noch keine sozialistische Gesellschaft, aber sie hatte, wie Jürgen Kuczynski nach 1990 festgehalten hat, Elemente, die die Zukunft der Sozialismus, wie ihn Karl Marx verstand, andeuteten. Kuczynski nennt: „Absolute soziale Sicherheit: Keiner brauchte auch nur einen Tag zu hungern oder war – bei wahrlich nicht guten Wohnverhältnissen – obdachlos. Keiner war arbeitslos“.183 A. R. genügte das, er kannte den Kapitalismus. Der Blick in die Geschichte der deutschen Arbeiterklasse sollte beim ganzen deutschen Volk Verständnis für den Versuch wecken, dem Sozialismus in der DDR eine Basis zu geben. Dafür schien ein historisch wissenschaftliches, politisches und ideologisches Handbuch nützlich zu sein. Vorbildhaft war die viel gelesene Darstellung der Geschichte der deutschen Sozialdemokratie von Franz Mehring (1846–1919). Walter Ulbricht (1893–1973), seit 1950 (bis 1971) an der Spitze des ZKs der SED, ergriff für eine Gesamtdarstellung der Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung die Initiative. 1963 erteilte das ZK der SED mit Ulbricht dem IfML in Berlin den Auftrag, sich darum zu kümmern. Das IfML organisierte mit riesigem Aufwand etwa 200 Autoren aus vielen Bereichen der Gesellschaftswissenschaften, voran Historiker. Lothar Berthold, Sekretär des Autorenkollektivs, konnte auf dem 10. Plenum des ZK der SED (23. Juni – 25. Juni 1965) berichten, dass der Entwurf für eine achtbändige Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung fertiggestellt sei.184 A. R. wird nur am Rande eingebunden gewesen sein, seine Aufgabenstellung war an den biographischen Forschungen zu Lenin ausgerichtet. Nach der Befreiung vom Faschismus wurden in der Sowjetischen Besatzungszone viele Werke von Lenin wie Was tun?, Der ‚linke Radikalismus‘, die Kinderkrankheit im Kommunismus, Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus und Zwei Taktiken der Sozialdemokratie in der demokratischen Revolution in dem am 30. Juni 1945 von der KPD gegründeten Verlag Neuer Weg in deutscher Sprache verlegt.185 Dass einige Schriften von Lenin von der Bevölkerung der DDR nicht bloß zur Verzierung in den Bücherschrank gestellt wurden, darf angenommen werden, zumal Lenin immer lesbar geschrieben hatte. Seine 1917 als Broschüre veröffentlichte Arbeit Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus ist die noch heute gültige Anatomie des Imperialismus. Lenin hatte in der Zürcher Zentralbibliothek, wohin er von der kleinen, mit Nadeshda Krupskaja (1869–1939) bewohnten Absteige in der Spiegelgasse der Zürcher Altstadt täglich geeilt war, aus einer Vielzahl von Büchern Materialien in 21 Heften exzerpiert, verarbeitet und trotz der Zensurbedingungen ohne intellektuelle Sklavensprache geschrieben. Lenin weist mit den Mitteln der marxistischen Analyse erstmals nach, dass der Kapitalismus sich zum Imperialismus entwickelt hat, der die Herrschaft der Monopole darstellt, der das höchste und letzte Stadium des Kapitalismus ist, ein parasitärer, faulender, sterbender Kapitalismus, dessen Politik ständig zu Reaktion und Kriegen tendiert, aber in dem auch alle objektiven Voraussetzungen für seine revolutionäre Ablösung herangereift sind. A. R. verband die wissenschaftliche Erkenntnis von Lenin mit dem Sinn, für die Umgestaltung der Gesellschaft zu kämpfen.
Auf Grundlage der vom IfML beim ZK der KPdSU besorgten vierten Ausgabe der Werke von Lenin in russischer Sprache gab das für die deutsche Ausgabe allein autorisierte IfML beim ZK der SED Lenins Werke als Gesamtausgabe heraus, die 1965 mit vierzig Bänden und zwei Registerbänden abgeschlossen war, denen zwei Ergänzungsbände folgten. Ulbricht dankte den Mitarbeitern des IfML beim ZK der SED und des Dietz Verlages in einem Schreiben vom 25. April 1965 für die Fertigstellung der Ausgabe der Lenin-Werke. Die geschichtlichen Erfahrungen des deutschen Volkes mit den zwei verheerenden Weltkriegen würden die Lehre von Lenin nur bestätigen, „dass der Imperialismus in höchstem Maße antinational, Reaktion auf der ganzen Linie und der Todfeind der Nation ist.“186 A. R. war bei Spezialfragen, die sich bei der Herausgabe der Lenin-Werke ergaben, eingebunden.187 Wie aufmerksam er Notizen zu der von Lenin benützten Literatur verfolgte, zeigt seine Recherche zu einem in Erinnerungen von Krupskaja genannten Roman „Bei Mama“.188
Ausgangspunkt der Lenindarstellungen von A. R. waren die Schriften, Reden und Aufzeichnungen wie Briefe, die in den russischen Ausgaben der Werke von Lenin zur Verfügung standen und welche er wenigstens in den letzten Jahren seiner Verbannung in der Sowjetunion schon studieren und auswerten hatte können. In Moskau waren von 1956 bis 1960 Erinnerungen an Wladimir Iljitsch Lenin in drei Bänden vom Institut für Marxismus-Leninismus herausgegeben worden. A. R. betrieb keine Hagiographie über Lenin, sondern er dachte ganz im Sinne von Lenin selbst, der im Dezember 1906 geschrieben hatte, dass die Arbeiterklasse der ganzen Welt „Autoritäten“ brauche: „Die Marxisten können nicht auf dem üblichen Standpunkt des radikalen Intellektuellen stehen, der scheinrevolutionär verallgemeinernd erklärt: ‚Keine Autoritäten‘. Nein. Die Arbeiterklasse, die in der ganzen Welt einen schweren und hartnäckigen Kampf für die volle Befreiung führt, braucht Autoritäten, aber selbstverständlich nur in dem Sinne, in dem junge Arbeiter der Erfahrung alter Kämpfer gegen Unterdrückung und Ausbeutung bedürfen […].“189
Lenin hatte sich seit dem Dekret über den Frieden vom 8. November 1917 grundlegend zu Fragen der friedlichen Koexistenz zwischen Staaten mit unterschiedlicher Gesellschaftsordnung geäußert. Zuletzt hatte Lenin den Bericht der sowjetischen Delegation auf der Genuakonferenz mit dem zwischen Sowjetrussland und dem imperialistischen Deutschland in Rapallo am 16. April 1922 abgeschlossenen Vertrag begrüßt (15. oder 16. Mai 1922) „als den einzigen richtigen Ausweg aus den Schwierigkeiten, dem Chaos und der Kriegsgefahr (solange zwei Eigentumssysteme, darunter ein so veraltetes wie das kapitalistische Eigentum, bestehen)“.190 Vor diesem Hintergrund hat A. R. als publizistische Empfehlung in der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) Lenins Idee der Koexistenz gewählt. Das steht natürlich im Zusammenhang mit den Polemiken aus dem Westen um die mit 13. August 1961 eingeleiteten Sicherungsmaßnahmen zum Schutz der DDR-Grenze und den vielen öffentlich ausgetragenen Kontroversen mit Spitzenintellektuellen wie Ernst Bloch (1855–1977), der vorgab, seine groß angelegte Geschichte der Philosophie in drei Bänden in der DDR nicht veröffentlichen zu dürfen, und darüber in Westdeutschland schimpfte, ehe er dorthin ganz übersiedelte.191 Zuvor hatte der Dietz Verlag eine chronologische Anordnung mit Auszügen aus unterschiedlichen Artikeln von Lenin zu diesem Stoff herausgegeben.192 Zu persönlichen Hauptquellen gehörten neben den Erinnerungen von Nadeshda Krupskaja jene von John Reed (1887–1920). Dieser, aufgewachsen im luxuriösen Umfeld seiner reichen Familie in Oregon, der die mexikanische Bauernrevolution geschildert, die Standard Oil Company der Rockefellers geklagt und für Bergarbeiter Colorados gekämpft hatte sowie Mitbegründer der Communist Party of America war, hatte als Soldat der Revolution den Auftritt von Lenin am Abend des 26. Oktober 1917 auf der zweiten und letzten Sitzung des II. Sowjetkongresses mit dem Vorschlag zu diesem Dekret selbst erlebt. Sein Buch Zehn Tage, die die Welt erschütterten ist der unmittelbarste Bericht über die Revolution und wird vom Schweizer Kommunisten Konrad Farner (1903–1974) als „seltene Einheit von Kenntnis – Erkenntnis – Bekenntnis“ als ein „dokumentarisches Kunstwerk“ charakterisiert.193 Koexistenz bedeutet mit A. R. „Verzicht auf Krieg und jegliche Aggression“, nicht aber ideologische Koexistenz, weil es ideologische Koexistenz nicht geben könne. A. R. argumentiert für einen Friedensvertag beider deutschen Staaten. Gerade die Entspannung in Deutschland würde die Koexistenz beider gesellschaftlichen Systeme in der ganzen Welt fördern. Es gelte, den deutschen Imperialismus zu bändigen, so wie es die kommunistischen Parteien der kapitalistischen Länder Europas auf ihrer Tagung in Rom vom 21. bis 24. November 1959 erklärten. Die Friedenskräfte der Welt, insbesondere die friedliebenden Kräfte in Westdeutschland müssten die volks- und friedensfeindliche Regierung von Konrad Adenauer (1876–1967) durch eine verständigungsbereite Regierung ersetzen. Erinnerte sich A. R. an seine Diskussionen über die Rolle von Nationen an der Leninschule im Jahre 1937? A. R. zitiert Walter Ulbricht, der als Hauptaufgaben für eine echte Friedenspolitik in Europa „die Stärkung der DDR als Bastion des Friedens, als Basis für die nationale Wiedergeburt Deutschlands als friedliebender und demokratischer Staat“ definiert hatte.194 Auch nach seinem nicht freiwillig angeb...

Inhaltsverzeichnis

  1. Cover
  2. Impressum
  3. Titel
  4. Einleitung von Hermann Klenner
  5. Vorwort
  6. I Die Familie Reisberg flüchtet 1914 nach Wien
  7. II Kindheit und Jugend
  8. III Vortragender, Agitator und Organisator in verhängnisvollen Jahren
  9. IV Februar 1934
  10. V In der Sowjetunion (1935–1959)
  11. VI Seit 1959 in der DDR
  12. Verzeichnis der Veröffentlichungen
  13. Biographische Skizzen über Arnold Reisberg
  14. Anmerkungen
  15. Namenregister