01 1 Musik in meinem Kopf
Morgen wird sie dort drüben sein und Beethovens 6. Sinfonie hören, die „Pastorale“. Man sagt, die Musik klingt wirklich toll dort, und auf jeden Fall sieht sie von außen sehr schön aus: die Elbphilharmonie.
Natascha hat eine Konzertkarte zum Geburtstag geschenkt bekommen und nun steht sie an der Elbe und schaut über das Wasser auf das berühmte Konzerthaus. In Gedanken hört sie schon die Musik.
„Schön, nicht?“, fragt da jemand neben ihr.
Natascha erschrickt, sie hat den Mann gar nicht kommen gehört. Sie macht einen Schritt zurück.
„Keine Sorge, ich will kein Geld von Ihnen“, sagt der Mann.
„Ich habe gar nicht gesagt, dass …“
„Aber gedacht haben Sie es, stimmts?“
Der Mann trägt alte Kleidung, die nicht zusammenpasst, und seine Haare sind nicht gewaschen. Er ist ein Obdachloser.
„Wenn ich ehrlich bin, es stimmt. Ich habe das gedacht.“
„Warum?“
„Weil … ich weiß nicht … viele Obdachlose wollen Geld, oder?“
„Ich möchte eigentlich nur die schöne Aussicht genießen.
So wie Sie.“
Natascha ist noch nicht ganz überzeugt, dass der Mann wirklich nichts von ihr will. Also bleibt sie erst mal ein Stück von ihm entfernt stehen.
„Waren Sie schon einmal drin?“, fragt der Mann nach einer Weile.
„Nein. Aber ich habe eine Karte für morgen.“
„Sie sind nicht aus Hamburg, oder? Das hört man.“
„Ich komme aus Leipzig. Freunde haben mir das Ticket zum
Geburtstag geschenkt.“
„Freuen Sie sich schon?“
„Ja, Beethovens 6. Sinfonie wird gespielt.“
„Die Pastorale, wie schön.“ Der Mann beginn leise eine Melodie zu summen.
„Sie kennen das Stück?“
„Warum nicht?“
„Ich weiß nicht, Sie sind obdachlos. Ich hab nicht gedacht, dass …“
„… dass ich mich für Musik interessiere?“
„Sie haben doch sicher andere Probleme. Und Sie können sich wahrscheinlich auch keine Konzertkarte leisten.“
„Das stimmt“, sagt er. „Aber wissen Sie, ich hatte auch ein Leben, bevor ich obdachlos wurde.“
„Oh ja, natürlich, bitte entschuldigen Sie.“
Sie schweigen eine Weile. Der Mann summt weiterhin Melodien aus der Pastorale.
Schließlich fragt Natascha: „Und in Ihrem früheren Leben – da war Musik wichtig?“
„Ja, sehr. Ich habe Geige gespielt, in einem großen Orchester.“
„Oh, wow, das ist ja toll.“
„Meine früheren Kollegen spielen heute und morgen in der Elbphilharmonie.“
„Und deshalb sind Sie hier?“
„Genau.“
Natascha sieht den Mann an.
„Was mit mir passiert ist, wollen Sie wissen, nicht wahr?“, sagt er.
Sie nickt.
„Ich hatte einen Unfall. Und habe mir die Finger der linken Hand gebrochen.“
Er zeigt ihr seine Hand.
„Sie sieht eigentlich ganz normal aus.“
„Aber sie funktioniert nicht mehr normal.“
„Wie meinen Sie das?“
„Ich kann die Finger nicht mehr so gut und so schnell bewegen wie früher. Ich habe oft Schmerzen.“ Der Mann bewegt vorsichtig seine Finger. „So kann man nicht Geige spielen.“
„Das tut mir sehr leid. Aber … warum sind Sie obdachlos geworden? Warum haben Sie nicht einfach einen anderen Job gemacht? Musikmanager, oder so etwas Ähnliches? Wo die linke Hand nicht so wichtig ist.“
„Ja, das wäre gut gewesen. Aber als ich nicht mehr Geige spielen konnte, ...