COMPUTER STREITEN NICHT
Von künstlicher Intelligenz und natürlicher Dummheit
mit den Storys
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•von einer fürsorglichen KI
•von der natürlichen Auslese
DAVIDA
von Hans Jürgen Kugler
Davida war schön, einfach nur schön. »Eine Göttin, leicht vornübergebeugt, stolz erhobenen Hauptes die offenen Arme nach hinten gestreckt, wie vom Himmel herabgestiegen. Erhaben wie ein Sonnenaufgang hoch im Gebirge, zartflammig schimmernd ihr Antlitz; intensiv und voller Herzenswärme der strahlende Blick. Ihre Gestalt filigran und elastisch wie ein Bambusgeflecht.« Noch war von der so angepriesenen Göttin nicht viel zu sehen, auf den wandfüllenden Widescreens der Halle waberte dramatisch der Kunstnebel über eine nur schattenhaft erkennbare Gestalt.
Der Laudator legte eine wohldosierte Kunstpause ein, ehe er die Hände beschwörend gen Himmel hob und mit samtigem Bariton fortfuhr, feierlich deklamierend die einzigartigen Vorzüge Davidas zu preisen: »Stilvoll und zugleich atemberaubend kühn das Design.« Die Kameradrohnen schwebten in majestätischer Zeitlupe in einem 360-Grad-Schwenk um Davida herum. »In zeitloser Eleganz geschwungene Linien evozieren die Anmutung eines schwerelosen, berauschenden Auftritts; Essenz einer vollendeten Schöpfung, die sich in einem einzigartigen holistischen Kunstwerk in makelloser Vollkommenheit konkretisiert.« Davida ließ sich von den aufgeregt um sie herumsirrenden Kameradrohnen nicht irritieren und blickte ungerührt in die Aufnahmeobjektive.
Das auserlesene Premierenpublikum war entzückt. Oder tat zumindest so. Eine schillernde Riege einstmals angesagter B- und C-Promis, die ihre schwindende Popularität mit einem extravaganten Auftritt in den Finals der Event-Castingshow ChampioNike weltweit aufzupolieren gedachte. Das Outfit so schrill wie nur irgend möglich, ein absurder Wettbewerb manischer Eitelkeiten. Frauen, die ihr verpfuschtes Facelifting durch einen aufgeklebten Backenbart zu kaschieren suchten, in der Hoffnung, als angesagtes Transgender-Reboot ihrer festgefahrenen Karriere zu neuem Glanz zu verhelfen. Männer, die ihre weibliche Seite mit Minirock, Dauerwelle und klischeehafter Mimik fürs zahlende Publikum auslebten, um ihre angeborene Spießigkeit nicht ernsthaft hinterfragen zu müssen. Und sichtbar gealterte Paradiesvögel, die mit weißen, wallenden Gewändern ihre innere Leere zu verbergen suchten. Tausende begeisterter Gesichter verfolgten akribisch jede Bewegung, die sich auf dem Bildschirm zeigte.
»Aufregende Proportionen, klare Abgrenzungen, präzise Linien und ein cleanes Oberflächendesign entfachen einen hypnotischen Sinnestaumel, dem sich kein fühlendes Wesen entziehen kann.«
Als der Ansager zu dem Textbaustein mit den »aufregenden Proportionen« gelangt war, konnte er der ungeteilten Aufmerksamkeit zumindest des männlichen beziehungsweise pubertierenden Teil des Publikums sicher sein.
»Gewagt ihr Auftreten, knisternd erotisch ihre Ausstrahlung. Die grazile Gestalt von zarten Schleiern verhüllt – unverhüllt verlockend, alles verheißend und doch schüchtern-verschämt hingegen ihr Augenaufschlag …« Und tatsächlich: Jedem Besucher der Ausstellung, gleich ob männlich oder weiblich, stockte der Atem beim Anblick des genmodulierten Kunst-Wesens. Wäre der Conférencier ein menschliches Wesen gewesen, sein Herzschlag hätte sich erhöht, der Brustkorb gehoben und der Schweiß wäre ihm aus allen Poren getreten.
»Wahrhaft eine Göttin!« Ein dicklicher Zwerg mit himmelblauem Schleifchen im schütteren Haarkranz und einem rosaroten Mops auf dem Schoß warf theatralisch die Hände in die Luft. Der Mops jaulte verängstigt auf.
Mit einem gellenden »Pff!«, quittierte eine üppige Blondine mit Irokesenschnitt den ekstatischen Jubelschrei ihres Sitznachbarn. Ihre Brüste wippten konvulsivisch in einem hysterischen Lachanfall, dass die Nippelringe nur so klimperten.
Irgendein kunstsinniger Redakteur war auf den Einfall gekommen, Davida auf Zuruf des Publikums spontan eine Haltung einnehmen zu lassen, wie man sie von berühmten antiken Marmorstatuen her kennt. Wie vorauszusehen war, scheiterte diese allzu ambitionierte Idee jedoch an der Resonanz der ausgewählten Gäste. Der Moderator der Show konnte das Spektakel gerade noch retten, indem er das weltweit zugeschaltete Publikum zu einem kleinen interaktiven Gewinnspiel animierte. Jeder, der sich berufen fühlte, konnte über einen Chatkanal seine Vorschläge einbringen, welche antike Statuen die Artrice darstellen sollte. Die üblichen Posen hatte Davida bald abgehakt – die Nike von Samothrake hatte sie ohnehin schon als Opener in ihre Show eingebaut, die Venus von Milo stellte für Davida keine Herausforderung dar – ganz im Gegensatz zu der als »Emmentaler Venus« bekanntgewordenen Statue von Henry Moore, die ein hintersinniger Kunstfreund vorgeschlagen hatte. Zur Verblüffung aller verlieh Davida ihrer Haut einen dunklen Bronzeton und nahm eine Haltung ein, die auch dem ignorantesten Zuschauer eine frappante Ähnlichkeit mit Moores abstrakter Bronzeskulptur vor Augen führte. Wiederholte Aufrufe eines allzu leidenschaftlichen Kunstexperten, Auguste Rodins skandalumwitterte Bronzeskulptur Iris, Messagère des dieux (Googeln!) so authentisch wie möglich darzustellen, überhörte die Chimäre hoheitsvoll und stellte nach einem diskreten Hack die Chat-Verläufe dieses Kunstliebhabers auf alle relevanten Social-Media-Plattformen – selbstverständlich komplett mit allen Kontaktdaten. Der Shitstorm ließ nicht lange auf sich warten.
Nach Davidas denkwürdiger Performance kamen die übrigen Teilnehmer*innen mit ihren Programmpunkten an die Reihe. Auch wenn die ChampioNike erst in der Finalrunde gekürt werden sollte, war den Jurymitgliedern ebenso wie dem anwesenden und live zugeschalteten Publikum längst klar, wer dieses Jahr die begehrte Trophäe gewinnen würde. Aber Davida wäre nicht die hochentwickelte artifizielle Superintelligenz, die sie ohne Zweifel war, wenn sie dem ohnehin schon feststehenden Ergebnis nicht noch ein wenig nachhelfen würde. Rein aus Spaß an der Freud.
Als nächster Kandidat für die Endrunde stellte sich der philosophierende Beagle »Diogenes« der Jury und dem Studiopublikum vor. Für Davida kein ernsthafter Konkurrent, den sie allein durch ihre imposante physische Präsenz einschüchterte. Das arme Tier setzte gerade zu einem tiefschürfenden Exkurs Über die philosophisch-anthropologische Dimension menschlicher Vulnerabilität an, als Davida ihn mit einem gezielten Ultraschallimpuls jaulend und mit eingezogenem Schwanz in die Flucht schlug.
Nach diesem unrühmlichen Abgang eines wahrhaft »kynischen« Philosophen kündigte das BioTech-Konsortium e*Volution mit »Cheetah und Spartacus« sein so genanntes Brain-Team an. Das vollmundig als »ironische Replik auf die Entwicklungsgeschichte der Menschheit« apostrophierte Duo erwies sich unfreiwillig als konkurrenzloses Slapstick-Paar der Show. Ein von einem genmodifizierten Schimpansen (Cheetah) ferngesteuerter Androide (Spartacus) sollte per implantiertem Gedanken-Interface jeden noch so unsinnigen Befehl des Schimpansen ausführen und sich somit gewissermaßen »vom Affen zum Affen machen lassen«. Eine kleine Intervention Davidas genügte, dass Spartacus, statt den von Cheetah befohlenen Purzelbaum auszuführen, er dem Affen den gestreckten Mittelfinger präsentierte.
Nicht mehr als eine technische Spielerei war es für Davida, als sie die Emitter der Hologrammatrice (»Schärfer als die Realität«) mit einem nicht ganz regelkonformen Spiegeltrick in eine Endlosschleife von Interferenzen setzte, sodass deren geisterhafte Erscheinung sich nach einigen Sekunden in einer virtuellen Rauchwolke auflöste.
Von ganz anderem Kaliber hingegen erwies sich die nihilistische...