Armin Nassehi
Das große Nein
Über die Eigendynamik gesellschaftlichen Protests
Proteste sind womöglich die sichtbarste Form von Kritik. Nicht jede Kritik ist Protest, aber Kritik wird zum Protest dann, wenn sie sichtbar wird, weil sie Routinen unterbricht und dadurch einen hohen Informationswert bekommt. Protest unterbricht Erwartbarkeiten und zwingt das Gegenüber geradezu zur Stellungnahme. Deshalb sind die meisten Protestformen nicht nur an den Gegenstand der Kritik gewandt, sondern ebenso an Dritte. Daher ist die Demonstration der vielleicht sinnfälligste Ausdruck von Protest. Die Demonstration ist die klassische Form der Visibilisierung von Konflikten. Denkt man an die klassischen öffentlichen Konflikte der letzten Jahrzehnte, dann sind es oftmals Bilder von Demonstrationen, an denen sich die Protestformen ablesen lassen. Nur auf den deutschen Fall bezogen: Die Protestklassiker der frühen Bundesrepublik sind die Ostermärsche zu Zeiten der Wiederbewaffnung in den 1950er-Jahren, die vor allem studentischen Proteste in den späten 1960er-Jahren hin zu den Alternativbewegungen der 1970er-Jahre und der Anti-AKW-Bewegung. Dann die Friedensbewegung der 1980er-Jahre mit dem Höhepunkt der großen Kundgebung 1983 in Bonn, die zu einer der größten Demonstrationen in der Geschichte der Bundesrepublik gehört. Die DDR ist aus vielen Gründen zugrunde gegangen, aber der sinnfälligste Ausdruck waren die Montagsdemonstrationen in Leipzig und anderen Städten, an denen man nicht vorbeisehen konnte. In den Nullerjahren waren es antikapitalistische Proteste aus Anlass von G-7- oder G-8-Treffen, aber auch die Proteste gegen die Banken während der Finanzkrise. PEGIDA und seine Derivate gehören auch zur Protestgeschichte der Bundesrepublik, genauso wie die großen Gegenproteste. Und derzeit schicken sich die Klimaproteste an, die Dimension der 68er-Proteste zu übersteigen. Man kann die Geschichte der Bundesrepublik (und natürlich auch anderer Länder) als Protestgeschichte erzählen, weil sich in den Protesten letztlich die wesentlichen Konflikte öffentlicher Debatten materialisierten. Protest ist ein Seismograf für Grundkonflikte, die sich nicht von selbst auflösen und nicht mit den üblichen Routinen bearbeiten lassen. Man denke an die Arabellion vor einigen Jahren oder an die Proteste in Hongkong, um nur wenige zu nennen. Man kann daran eine der Funktionen von Protesten ablesen: Es geht nicht nur um die Adressierung eines Gegners oder um die Bearbeitung eines empfundenen Missstands, sondern auch darum, eine Form der Sichtbarkeit herzustellen, die vor allem politische Öffentlichkeiten adressiert. Protest wendet sich nicht nur an den anderen, sondern auch an Dritte. Der Protestant wird damit zum Seismografen von Konfliktlagen. Der protestantische Klassiker schlechthin ist der Protestantismus der Reformation.
Protestant zu sein, war eine Fremdzurechnung. Diejenigen, die evangelisch sein wollten, also die Praxis der Kirche an der Auslegung der Heiligen Schrift orientieren wollten, erschienen aus der Perspektive der katholischen Kirche als Protestanten, also als solche, die gegen die Praktiken der Kurie opponierten. Protestanten waren die Evangelischen zunächst tatsächlich aus der Perspektive des Adressaten von Kritik. Es geht hier nun nicht um den Protestantismus, sondern darum, die Form des Protests zu verstehen. Zunächst fällt an diesem historischen Beispiel auf, wie sehr Protest sich über den kritisierten Gegenstand definiert. Die Evangelischen sind eben nicht nur jene, die das Evangelium und seine Auslegung zur Richtschnur des eigenen Glaubenslebens machen wollten, sondern vor allem jene, die gegen die Praktiken der mächtigen Kirche angehen. Deutlich wird daran: Protest hängt stärker an seinem Gegenstand, als es zunächst den Anschein hat. Die definierende Größe ist das Gegenüber, gegen das der Protest sich richtet.
Dabei ist der Wortsinn ganz anders. Es ist nicht von Contratest die Rede. Das Verb protestari hat eine positive Konnotation. Es bedeutet bezeugen, Zeugnis abzulegen, für etwas zu stehen. Der Protestanlass freilich ist eine Opposition, lebt von einem Gegenüber, das offensichtlich dazu zwingt, Zeugnis abzulegen, für etwas zu stehen, weil offensichtlich die Strukturen des kritisierten Gegenstandes nicht ausreichen, um die eigenen Ziele zu erreichen. Protest wird immer dann wahrscheinlich, wenn der Protestierende seine Ziele nicht mit den Mitteln des kritisierten Gegenstandes erreichen kann. Wenn sich ein politisches Ziel nicht mit den Bordmitteln des parlamentarischen Verfahrens erreichen lässt, wenn eine Tarifverhandlung nicht innerhalb der Verhandlungen zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern zu einem Ergebnis kommen kann, wenn ein Jugendlicher bei Eltern oder Lehrern nicht mit Argumenten durchkommt, steigt die Wahrscheinlichkeit für Protest. Protest ist zwar im Wortsinne ein positives Zeugnis, aber Protestanlässe sind zunächst Negationen, Nein-Stellungnahmen, in diesem Sinne Formen, die sich gegen etwas wenden, was sich nicht aus sich selbst heraus ändert. Um dem Protest auf die Spur zu kommen, ist es wohl sinnvoll, zunächst diese Bedeutung von Nein-Stellungnahmen genauer zu untersuchen. Darin wird nämlich deutlich, dass Protestpotenziale schon in der Struktur von Kommunikation angelegt sind.
Das Protestpotenzial von Kommunikation
Wer kommuniziert, setzt sich dem Risiko des Protestes aus. Dieser sehr einfache Satz hat es in sich, weil er das Protestantische bereits in die Struktur der Kommunikation, insbesondere sprachlicher Kommunikation einbaut. Kommunikation wäre keine, wenn es nicht die grundlegende Möglichkeit der Negation gäbe. Es ist kein Zufall, dass die meisten Selbstbeschreibungen der gesellschaftlichen Moderne auf Kommunikation setzen. Das gilt sowohl für (sozial)wissenschaftliche Selbstbeschreibungen der Gesellschaft, die auf symbolische Interaktion setzen oder auf kommunikative Verständigung, auf selbstreferenzielle Kommunikationsprozesse oder Benennungspraktiken. Überall wird Kommunikation als Grundbegriff gebraucht. So unterschiedlich solcherlei Modelle sind, so ist ihnen doch gemein, dass sie auf die Organisation oder Bearbeitung von Alternativen setzen.
Kommunikationsprozesse, auch wenn man sie an Handlungsketten beobachtet, zeichnen sich dadurch aus, dass sie andere Verläufe nehmen können, als man es erwartet. So würde man etwa das Nacheinander von Reaktionen von Kugeln auf einem Billardtisch nicht als Kommunikation auffassen. Wenn eine Kugel auf eine andere trifft und ihr einen kinetischen Impuls verleiht, kommunizieren die Kugeln nicht miteinander – weil sie keinen Handlungsspielraum haben. Eine Kugel könnte sich nicht weigern, sich in exakt dem Winkel zu bewegen, der durch den Aufprallwinkel der impulsgebenden Kugel bewirkt wird. Da sie nicht anders kann, würden wir der Kugel keinen Handlungsspielraum unterstellen und das Verhältnis der Kugeln nicht als ein Kommunikationsverhältnis auffassen. Erst dort, wo die Kugel auch anders könnte, wenn sie eine Wahl hätte, würde man ihr ihre Bewegung selbst zurechnen und das Verhältnis der Kugeln als ein Kommunikationsverhältnis auffassen.
Wir würden die ziemlich genau berechenbare Reaktion der Kugel auch nicht als ein »Ja« auffassen, nicht als Zustimmung. Sie kann schlicht nicht anders, als sich so zu bewegen, wie sie es tut. Sie tut es nicht mal. Es geschieht ihr. Es geschieht ihr nicht mal. Es geschieht. Die Kugel kann nicht zustimmen, nicht »Ja« sagen, weil sie nicht »Nein« sagen kann. Erst wenn das Risiko von Nein-Stellungnahmen vorliegt, kann man von Kommunikation sprechen. Kommunikation ist gewissermaßen das Management möglicher Nein-Stellungnahmen. Kommunikation ist das Management von Nicht-Kausalität in dem Sinne, dass wir alle kausalen Bewirkungsformen eben nicht Kommunikation nennen würden.
Sozialtheorie und soziale Praxis auf einem spezifischen Verständnis von Kommunikation aufzubauen, rechnet also systematisch mit der Möglichkeit der Nein-Stellungnahme – an Kommunikationsprozessen ist interessant, dass der Adressat der Kommunikation auch »Nein« sagen kann oder wenigstens anders reagiert, als es erwartet wurde – wer auch immer die Instanz der Erwartung sein mag. Genau genommen ist in Kommunikationsprozessen die vollständige Erwartungserfüllung der voraussetzungsvollere Vorgang als die Abweichung von konkreter bzw. festgelegter bzw. kausalähnlich gebauter Erwartung. Der analytische Normalfall von Kommunikation ist die Abweichung, wie klein sie immer sein mag, oder wenigstens ihre Vermeidung, die mit der Abweichung rechnen muss. In newtonphysikalischen Räumen wie auf einem Billardtisch wäre das Gegenteil, die Abweichung, der erklärungsbedürftige Fall, der letztlich nicht auftritt, weil es eben zu solcher Abweichung nur aufgrund von kausal beschreibbaren Abweichungen in den Randbedingungen kommen kann.
Wer auf Kommunikation setzt, setzt auf den Umgang mit Abweichung. Um nur einige Beispiele zu nennen:
•Die Demokratie im politischen System setzt geradezu eine epidemische Form der Kommunikation in Gang, weil Demokratie ja nicht einfach die Exekution irgendeiner Mehrheitsentscheidung ist, sondern einen Kommunikationskreislauf in Gang setzt, in dem die Nein-Stellungnahme geradezu institutionalisiert wird. Selbst wenn eine Entscheidung kollektiv völlig unumstritten wäre, könnte der politische Prozess gar nicht anders, als hier auch noch so etwas wie Opposition, Widerspruch, Kommunikationsanlässe einzubauen, eben weil genau dies institutionalisiert ist und für die Legitimation wie die Legitimität einer Entscheidung geradezu unvermeidlich ist.
•Rechtliche Verfahren arbeiten ähnlich. Sie bringen Rede und Gegenrede in Gang, institutionalisieren Rederechte, Gehörzwang und ordnen Kommunikanden in unterschiedlichen Rollen an. So ist die Umsetzung von Rechtsregeln auch nicht die Eins-zu-eins-Übertragung von Vorschriften oder Gesetzen in eine gesellschaftliche Praxis, sondern letztlich ihre kommunikative Begleitung mit Entscheidungs- und Widerspruchskompetenz.
•Beide, Recht und demokratische Politik ermutigen Sprecher, sich als solche zu inszenieren. Sie gewöhnen ein Publikum daran, unerwartete Kommunikationsbeiträge zu präsentieren und damit einen Informationswert zu erhalten. Fast nichts, wenigstens nicht die Demokratie selbst oder die Geltung des Rechts, kann dafür sorgen, was da kommuniziert wird, gerade weil kommunikative Anschlüsse und damit die Etablierung von Sprecherpositionen geradezu universal werden. Selbst die Klage darüber, wer keine Stimme hat oder bekommt, muss kommunizieren und paradoxerweise dementieren, was sie behauptet.
•Massenmedien bilden nicht einfach die Welt ab, sondern überziehen die Gesellschaft mit einem Kommunikationsnetz, in dem es einen Unterschied macht, wer was wann wie zu wem und zu welchem Anlass sagt. Besonders interessante Medienformate sind die, die nicht einfach simulieren, die Welt abzubilden (was sie selbstverständlich nicht können), sondern solche, die explizit das Kommunizieren von anderen kommunikativ abbilden. In Talkshows oder in Interviews, aber auch in Filmen und Dokumentationen sieht man anderen beim Kommunizieren zu – und einen Informationswert (die Währung des Mediensystems) hat das dann nur, wenn sich der eine Satz nicht notwendig aus dem anderen ergibt. Dass in den Medien meistens auch bestimmte Abweichungen erwartbar sind, variiert nur die besondere Funktion von Kommunikation.
•Bildung etabliert sich zumeist als Einübung von Kommunikation. Gebildet ist derjenige, der in der Lage ist, auf einen Satz entweder einen kompetenten oder richtigen Satz folgen zu lassen und/oder eine gepflegte Abweichung zu formulieren. Deshalb sind Bildungsprozesse in erster Linie Prozesse in Form von Kommunikationsproduktion – man muss sprechen und schreiben, antworten und fragen, anschließen und anschlussfähig sein.
•Wissenschaftliche Forschung findet die Wahrheit nicht einfach vor, sondern erzeugt wissenschaftlichen Fortschritt vor allem durch Widerspruch gegen vorherige Ergebnisse. In der Wissenschaft ist die Nein-Stellungnahme geradezu konstitutiv für die Herstellung neuen Wissens.
•Es etabliert sich in den Medien ein eigenes Kritikwesen, das Literatur, Kunst, Musik, Bücher usw. unter die Lupe nimmt und Kritik gewissermaßen zivilisiert. Die Nein-Stellungnahme wird geradezu erwartet, niemals kann eine Kritik ohne Kritik auskommen, wenn sie irgendeinen Informationswert haben soll.
•Vielleicht ist die Leittechnik der vordigitalen Welt, der Buchdruck, das treffendste Beispiel dafür, wie sehr sich die Gesellschaft an Kommunikation gewöhnt hat. Sollte das Ziel des Buchdrucks tatsächlich je gewesen sein, für eindeutige Informationslagen zu sorgen, dann wäre er kläglich gescheitert. Die Distribution der Heiligen Schrift (und dann auch noch in der Verkehrssprache der Gläubigen) jedenfalls hat nicht nur zu ihrer Kenntnis und Verbreitung beigetragen, sondern noch mehr die Wahrscheinlichkeit für Widerspruch erhöht. Aus der Verkündigung des Gotteswortes wurde Kommunikation dazu und darüber, wurden Anschlüsse mit dem Risiko der Nein-Stellungnahme. Überhaupt ist die Verbreitung der Schrift ein Generator dafür, dass Bedeutungen kontingent werden, und führt damit selbst wieder zu Anlässen für weitere Kommunikation. Dass man die Dinge unterschiedlich lesen kann, heißt ja nur, dass kommunikative Anschlüsse offen, kontingent, nicht eindeutig bestimmt sind.
Das letzte Beispiel führe ich deshalb ...