Es gibt wohl wenige Autoren in der jĂŒdischen Tradition, die einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen Isaak Newton, der lurianischen Vorstellung der SelbstverschrĂ€nkung Gottes, dem korrekten Schliff eines Diamanten und den zehn Sefirot aus der kabbalistischen Literatur herstellen können. Isaak ben Moshe Halevi aus Satanow meistert eben jenes KunststĂŒck und zwar in solcher Weise, dass sowohl jĂŒdische Intellektuelle als auch christliche Gelehrte von seinem Wissen in allen Bereichen beeindruckt sind. Satanows einzigartige Synthese verschiedener jĂŒdischer Traditionen, naturwissenschaftlicher Errungenschaften und philosophischer Wahrheitsfindung werde ich in der vorliegenden Untersuchung aus unterschiedlichen Perspektiven beleuchten, um aufzuzeigen, dass die gĂ€ngigen Analyse-Kategorien der jĂŒdischen AufklĂ€rung wie SĂ€kularisierung, Assimilation, Rationalismus, Krise oder auch Bildungsreform zu kurz greifen, um Autoren wie Satanow und deren Bedeutung fĂŒr die europĂ€ische Geistesgeschichte angemessen beurteilen zu können.
Gershom Scholem, der BegrĂŒnder der wissenschaftlichen Erforschung der jĂŒdischen Mystik, schreibt in seinem Aufsatz âDie letzten Kabbalisten in Deutschlandâ:
DaĂ bei diesem ProzeĂ manchmal auch schon merkwĂŒrdige Amalgamierungen der kabbalistischen Studien mit der neuen Gedankenwelt der AufklĂ€rung vorkamen, lĂ€Ăt sich nicht nur an der reichen literarischen Produktion des Isaak Satanow (1732 â 1804) erweisen, der dem Kreise Moses Mendelssohns und des Ha-Meâasseph angehörte, zugleich aber in seinen Schriften auf alle mögliche, z. T. recht versteckte Weisen auch kabbalistischen Ideen EinlaĂ gewĂ€hrte. In der Druckerei der jĂŒdischen Freischule in Berlin, aus der eine groĂe Zahl der ersten AufklĂ€rungsschriften hervorging, erschienen 1783 und 1784 auch zwei Schriften Satanows, die ausschlieĂlich der Propagierung seiner Synthese kabbalistischer und moderner Ideen gewidmet waren und keineswegs als versteckte Polemik aufzufassen sind. Es wird immer erstaunlich bleiben, daĂ gerade Satanow es war, der schon lange nach seiner BerĂŒhrung mit dem Mendelssohnschen Kreis im Jahre 1784 die erste Drucklegung des Buches Ez Chajim, des Hauptwerkes der Lurianischen Kabbala, veranstaltete, die er in Koretz in Wolhynien herausbrachte. Eine Studie ĂŒber diese eigenartige Figur steht noch aus.1
Bislang wurde Scholems Aufruf zur weiteren Untersuchung dieses bedeutenden Autors der jĂŒdischen AufklĂ€rung (Haskala), Isaak Satanow, noch nicht Folge geleistet. Dies ist zum einen der Tatsache geschuldet, dass Satanow bereits bei seinen Zeitgenossen einen zweifelhaften Ruf genoss. Sein Zeitgenosse Moses Mendelssohn Frankfurter, der Sohn des Hamburger Rabbiners Moses ben Menaáž„em Mendel Frankfurt, der fĂŒr sich selbst aus Bewunderung fĂŒr den Berliner Gelehrten den Familiennamen Mendelssohn wĂ€hlte,2 meinte etwa, er sei âhalb HĂ€retiker und halb Frommerâ.3 Zum anderen sind die meisten seiner Schriften auf HebrĂ€isch / AramĂ€isch verfasst, wobei die Vielfalt seiner kunstvollen Stilrichtungen und Imitationen der unterschiedlichsten Sprachstufen verschiedener Epochen eine Interpretation derselben erheblich erschwert.
In der vorliegenden Studie wird die jĂŒdische AufklĂ€rung (Haskala) in ihrer spezifischen AusprĂ€gung bei Satanow dargestellt, analysiert und kontextualisiert. Besondere Aufmerksamkeit erhalten dabei die von Scholem indirekt erwĂ€hnten Schriften Imre Bina (Worte der Einsicht) von 1784 und Satanows Neufassung des Hauptwerkes der mittelalterlichen jĂŒdischen Mystik, das Sefer ha-Zohar (Buch des Glanzes), aus dem Jahr 1783 mit dem Titel Zohar Tinyana (Ein zweiter Zohar).4 Ich möchte hierbei primĂ€r die Rolle kabbalistischer Symbole und Konzeptionen in ihrer Aufnahme und Interpretation bei Satanow beleuchten. Zudem finden deren Funktionen innerhalb seiner einzigartigen Synthese zwischen Haskala, Philosophie, Tradition und Naturwissenschaft angemessene Beachtung.
Es soll gezeigt werden, dass nicht nur sĂ€kularisierende Tendenzen des Rationalismus sowie assimilatorische Perspektiven5 eine entscheidende Rolle beim Eintritt der jĂŒdischen Religion und Kultur in die Moderne spielten, sondern auch Traditionen der mittelalterlichen Philosophie und Mystik an dieser Schwellenposition eine nicht zu vernachlĂ€ssigende Wirkung ausĂŒbten.6 Indirekt stelle ich damit die Frage, ob die jĂŒdische AufklĂ€rung und die Wissenschaft des Judentums einen Bruch oder eine KontinuitĂ€t mit ihrer jĂŒdischen Vergangenheit verkörpern und in welcher Form jĂŒdische Traditionen aus der Geschichte in neuen Epochen adaptiert werden.7
Bei unserem Autor, wie auch bei seinem Zeitgenossen Salomon Maimon (1753 â 1800), nahm die Vereinbarkeit von traditionellem Glauben, zeitgenössischen Erkenntnissen aus den Naturwissenschaften und philosophischen Positionen der jĂŒdischen Tradition sowie kabbalistischen Gedanken eine ĂŒbergeordnete Funktion ein. Verschiedene Fragen schlieĂen sich fĂŒr die Interpretatoren dieses Typs von AufklĂ€rer an: Worin lagen Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen jĂŒdischer und nichtjĂŒdischer AufklĂ€rung, wo fanden sich BerĂŒhrungspunkte der beiden PhĂ€nomene im Hinblick auf kabbalistische Symbolik? Welche Persönlichkeiten und Kontexte prĂ€gten die jĂŒdische AufklĂ€rung diesbezĂŒglich und wie wurde der Eintritt in die Moderne von diesen Denkern in Idealform angestrebt? Welche neuen Traditionen bildeten sich aus den zahlreichen kulturellen und intellektuellen Interaktionen dieser Epoche und unter welchen UmstĂ€nden? Welche Positionen innerhalb und auĂerhalb der jĂŒdischen Tradition nahmen jene Maskilim ein, die kabbalistisches Gedankengut in ihre Konzeptionen einzubinden versuchten? Dabei wird vornehmlich die Rolle mystisch-kabbalistischer Vorstellungen in Bezug auf das jĂŒdische Selbst- und GeschichtsverstĂ€ndnis zu bedenken sein.
Ein weiteres Augenmerk der vorliegenden Studie liegt auf den damals virulenten Migrationsprozessen zwischen Ost- und Westjudentum, die in der Folge einen religiös-kulturellen Austausch zwischen den intellektuellen Eliten der Haskala im Westen und im Osten initiierten und nachhaltig prĂ€gten.8 Welche Auswirkung hatte Satanows osteuropĂ€ische Herkunft auf seine schriftstellerischen und editorischen TĂ€tigkeiten und inwieweit fand eine Integration seiner Ideen in westeuropĂ€isches Denken der damaligen Zeit statt? Welche Konsequenzen hatten seine zahlreichen Reisen zwischen Berlin und Koretz oder anderen StĂ€dten im Königreich Polen? Simon Dubnow (1860 â 1941) beschrieb den Einfluss der kabbalistisch-philosophischen Gedankenwelt (meist aus Italien und Sefarad) auf die jĂŒdische Gesellschaft in Polen und Russland. Diese traf nun in Folge der Ost-West Migration auf die jĂŒdische AufklĂ€rung in Deutschland.9 Denn wenngleich das PhĂ€nomen der AufklĂ€rung meist mit Aspekten wie Rationalismus, Innovationen in den Naturwissenschaften, Akkulturation und SĂ€kularisation in Verbindung gebracht wird, treten zugleich auch bedeutende VerschrĂ€nkungen mit mystischen, chassidischen, sabbatianischen und frankistischen Themen bei fĂŒhrenden Persönlichkeiten der Haskala auf.10 Es stellt sich so die Frage nach dem Charakter, dem Stellenwert und der Funktion mystischer Traditionen innerhalb dieser âRevolution der Vernunft, des Humanismus, der Ethik und Toleranzâ11 oder der âgröĂten Revolution der jĂŒdischen Intellektuellen [âŠ] in Königsberg, Berlin, Prag, Wilna, Amsterdam und Odessaâ12 um so dringender fĂŒr die nachfolgenden geistesgeschichtlichen Entwicklungen in Europa. Haskala tritt dabei als ein PhĂ€nomen zu Tage, das sich sowohl durch eine zeitliche als auch durch eine geistesgeschichtliche âUngleichzeitigkeitâ zur europĂ€ischen AufklĂ€rung auszeichnet. Letztere setzte frĂŒher ein und wies andere Zentren auf als die jĂŒdische AufklĂ€rung in Deutschland.13 Aufgrund der divergierenden Tendenzen spricht man auch von letzterer im Plural, um der PluralitĂ€t der Strömungen gerecht zu werden.14
Die jĂŒdische AufklĂ€rung â Haskala
Der hebrĂ€ische Terminus Haskala wird vom hebrĂ€ischen sekhel (Verstand, Vernunft, Intellekt)15 bzw. der Wurzel s-kh-l im Hifâil (wörtl. veranlassen zu verstehen, einsichtig zu werden)16 abgeleitet. Haskala kann nicht nur als Prozess der Rationalisierung und SĂ€kularisierung des europĂ€ischen Judentums verstanden werden, sondern im weitesten Sinne auch als Bezeichnung fĂŒr eine Renaissance bzw. Wiederbelebung jĂŒdischer Kultur und religiöser Tradition von der Mitte des 18. bis der des 19. Jahrhunderts.
Innerhalb der jĂŒdischen Philosophie des Mittelalters prĂ€gte vor allem Rabbi Moses ben Maimon, Maimonides, (ca. 1138 â 1204) die Lehre zur Einheit von sekhel (Vernunft, Wissen, Verstand), maskil (dem Wissenden, Verstehenden) und muskal (dem Objekt des Wissens, Verstehens).17 In seinem Werk More ha-Nevukhim (FĂŒhrer der UnschlĂŒssigen, ca. 1190 â 1200)18 ent...