Zwinglis gefährdetes Erbe
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Zwinglis gefährdetes Erbe

Reformation und Geldwesen

  1. 218 Seiten
  2. German
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Zwinglis gefährdetes Erbe

Reformation und Geldwesen

Über dieses Buch

Zwingli steht für grundlegenden Wandel - aktiv vorangetrieben mit Worten und Taten. 1519 trat Ulrich Zwingli das Leutpriesteramt am Grossmünster an und läutete die Reformation ein. Innerhalb kurzer Zeit wurden auf dem Zürcher Stadt- und Landgebiet Klöster säkularisiert, das Zölibat aufgehoben, der Solddienst verboten und das Armenwesen erneuert.Die Reformation veränderte die wirtschaftlichen Voraussetzungen des Stadtstaates, der neue Glauben trug zu Zürichs Stellung als führender Wirtschaftsmacht bei. Doch bald waren einige der Errungenschaften gefährdet.«Zwinglis gefährdetes Erbe» beleuchtet den Zürcher Alltag der Reformationsjahre. Die Aufhebung der Klöster, das Soldwesen und die Währungssysteme kommen ebenso zur Sprache wie die Stellung der Frau, das Almosenwesen oder Zwinglis Schreib- und Redeweise.

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Information

Abbildung 1
Sie verbindet Gross- und Fraumünster und schliesst gleich noch die Wasserkirche mit ein. Die Zürcher Münsterbrücke ist so etwas wie die geistliche Schlagader der Stadt.
1
Zürich um 1500
Mit der Kirchenreform der 1520er-Jahre schlägt Zürichs Bevölkerung das wichtigste Kapitel der neueren Schweizer Geschichte auf. Die Reformation bringt – auf Kosten der nationalen Einheit – neue Impulse für Wissenschaft, Handel und Industrie. Der erbitterte Kampf der Reformatoren gegen den Ablass und gegen die Fremden Dienste hat unerwartete Folgen. Wo Seelenheil und Menschenleben zur handelbaren Ware zu verkommen drohen, drängt sich eine neue Sicht auf die Beziehungen zwischen Geld, Arbeit und Ware auf.
Monza, 5. September 1515. Ein grosser Teil der eidgenössischen Streitkräfte hat sich versammelt in Monza – ein schöne, hüpsche Stadt vor den Toren Mailands. Die Stimmung ist angespannt, Aufwiegler mischen sich unter die Truppen, auch unter den Hauptleuten weiss niemand so recht, wie es weitergehen soll. Zieht man nun dem Feind entgegen, kommt es zur Schlacht gegen die Franzosen? Oder tritt man den Rückmarsch in die Heimat an, so wie ein grosser Teil der Berner Truppen? Vielleicht weiss der Feldprediger der Glarner mehr, der für diesen Samstag eine Rede vor dem Palazzo Arengano angekündigt hat, an offner gass beim koufhus. So findet sich denn viel Kriegsvolk zu dieser Predigt unter freiem Himmel ein, darunter der Zuger Chronist Werner Steiner, unser Augenzeuge. Was genau der Glarner Kilchherr vorbringt, überliefert zwar auch er nicht. Er weiss nur: Hätte man auf die Worte dieses Ulrich Zwingli gehört, wäre der Eidgenossenschaft grosses Unheil erspart geblieben. Leider ist dies nicht der Fall: wer aber nit glaubt, der erfarts mit sinem schaden, als unss geschehen ist. Der muss es auf die harte Tour lernen, so wie es uns widerfahren ist.
Von Glarus nach Monza
Denn einige Tage später, am 13. und 14. September, erleiden die eidgenössischen Streitkräfte eine vernichtende Niederlage. Die Schlacht von Marignano endet mit dem Rückzug eines auf die Hälfte reduzierten eidgenössischen Heers. Um die 10‘000 Gefallene sind zu beklagen – eine verheerende Katastrophe für ein Land, das kaum zwei Millionen Einwohner zählt!
Beim Konflikt in Norditalien stehen sich der Papst, der deutsche Kaiser, der französische König und die Fürsten der umliegenden Kleinstaaten gegenüber. Sie sind die Hauptakteure in einem seit Jahren umkämpften Krisengebiet, das durch die Ansprüche der französischen Krone zum europäischen Brandherd geworden ist. Von der unsicheren Rechtslage, die seit Jahrhundertbeginn besteht, profitieren auch die Eidgenossen. Sie haben grosse Teile des Tessin unter ihre Herrschaft gebracht und erheben Ansprüche auf das Veltlin und das Livinental. Zu jedem Zeitpunkt sind ihrer vier- bis sechstausend irgendwo in der Lombardei oder dem Piemont unterwegs, bald als Söldner im Dienst des Papstes oder des französischen Königs, bald – so wie in Marignano – als eigenständige Partner in einer antifranzösischen Koalition.
Zu diesen Truppen gehört auch ein Teil des Glarner Auszugs, der in diesem Spätsommer 1515 in drei «Fähnchen» zu je etwa 150 Mann aufgebrochen ist. So wie zwei Jahre zuvor, als der Papst um eidgenössische Hilfestellung bat, reist Zwingli mit. Trotz aller Abneigung gegen den Solddienst erachtet es der Kilchherr als Pflicht, seine Schäfchen als Feldprediger zu begleiten. 1513, anlässlich der Schlacht von Novara, erlebt er zum ersten Mal die grauenvolle Wirklichkeit des Schlachtfelds mit und wird vollends zum erbitterten Gegner des Prinzips «Geld gegen Menschenleben». Dass er an diesem Samstag in Monza seinen Landsleuten diesen blutigen Spiegel vorhält und sie zur Rückkehr auffordert – darüber besteht kein Zweifel.
Glücksfall
Ulrich Zwingli spielt in dieser Darstellung eine zentrale Rolle – Grund genug, seinen Lebenslauf bis zur Berufung nach Zürich wenigstens zu skizzieren. Seine Biografie ist Dutzende Male geschrieben worden, in volkstümlich-knapper Form, als vierbändige eingehende Studie, als Ausgangspunkt für eine Chronik der Reformation in der Schweiz. In zwei Dingen sind sich alle Darstellungen einig: Seine Herkunft aus einer bäuerlichen Familie als «Bub aus dem Volk» und seine eminente sprachliche und rhetorische Begabung tragen ganz wesentlich zu einer erstaunlichen Laufbahn bei. Diese macht ihn als Mittdreissiger zum Anführer der wichtigsten geistesgeschichtlichen Strömung seiner Zeit und führt ihn 1531, als Opfer seiner eigenen Politik, mit 48 auf dem Schlachtfeld von Kappel in den Tod.
Ulrich kommt im toggenburgischen Wildhaus zur Welt, am ersten Tag des Jahres 1484. Seine Familie gehört zu den alten Bauerngeschlechtern der Gegend, sein Vater nimmt als Ammann der stattlichen Gemeinde eine angesehene Stellung ein. Mehrere unter seinen zahlreichen Geschwistern schlagen eine geistliche Laufbahn ein und folgen so dem Beispiel ihres Onkels Bartholomäus, der in Weesen am Walensee als Dekan amtet. Der kleine Ulrich – sein Vorname lautet zeitgenössisch «Huldrych» oder «Huldreich» – kommt bereits als Fünfjähriger bei Onkel Bartholomäus unter, der das Sprachtalent des Neffen staunend zur Kenntnis nimmt und seine weitere Ausbildung überwacht: Lateinschule in Basel, Studium in Wien und wiederum in Basel. Hier schliesst er als Werkstudent mit dem Titel eines Magister Artium ab und wird mit 22 zum Priester geweiht. 1506 beruft ihn die Stadt Glarus als Leutpriester, wobei der in der regionalen geistlichen Szene gut vernetzte Bartholomäus seine Beziehungen spielen lässt.
Die Berufung nach Glarus erweist sich als Glücksfall für einen jungen Geistlichen, der keinerlei seelsorgerische Praxis vorweisen kann. Statt einer abgelegenen ländlichen Pfarrei übernimmt der 22-Jährige die Betreuung einer Gemeinde von 2000 Seelen, Hauptort eines Standes, der sich schon früh der Eidgenossenschaft angeschlossen hat. Die Glarner gewähren dem Neuling erstaunlich viele Freiheiten und honorieren damit wohl auch, dass das Amt an einen ernsthaften Bewerber gegangen ist statt an den päpstlichen Günstling Heinrich Göldli. Diesem war die Pfründe dank einer Verordnung aus Rom ursprünglich zugedacht, nur dass Göldli bereits als Chorherr in Embrach und als Priester in Baden amtete und einen beliebigen Vikar nach Glarus abgeordnet hätte. Die Sache hat allerdings einen Haken: Göldli tritt keineswegs freiwillig zurück, lässt sich vielmehr erst gegen eine Jahresrente von zehn Gulden zum Verzicht bewegen, die Zwingli persönlich aufbringen muss.
Von diesem Ärgernis abgesehen gehören die zehn Jahre in Glarus zu den fruchtbarsten in Zwinglis Leben. Er erfüllt seine Pflichten als Seelsorger, errichtet eine Lateinschule für begabte Knaben, findet Musse zum Musizieren und beherrscht schliesslich ein Dutzend volkstümlicher Zupf- und Streichinstrumente (was ihm unter seinen Gegnern prompt den Ruf eines spilmans und lautenschlechers einbringt). Vor allem aber: Er findet Zeit für seine Sprachstudien, eignet sich – weitgehend als Autodidakt – Griechisch und Hebräisch an. Für Zwingli sind die antiken Sprachen «Gaben des Heiligen Geistes», die ihn näher ans biblische Original bringen. Und als homo humanissimus, als den ihn seine Kollegen verehren, wagt er sich an ein Lehrgedicht in elegantem Latein, eine gereimte «Fabel vom Ochsen», die bald auch auf Deutsch erscheint. Das Gleichnis vom friedlichen Tier, das von heimtückischen Nachbarn wie Leopard und Löwe auf gefährliche Abwege gelockt wird, ist allerdings mehr als eine spielerische Fingerübung, es ist eine leicht zu entziffernde Absage an die Reisläuferei und die Verstrickung der Eidgenossenschaft in die europäische Machtpolitik (siehe «Fabel vom Ochsen). So sehen das auch Zwinglis Gegner in Glarus, wo praktisch die gesamte Führungsschicht einen Soldvertrag mit Frankreich befürwortet. Die Ochsen-Fabel und Zwinglis zunehmend schärfer formulierte Kanzelreden lassen den Argwohn gegen den aufmüpfigen Seelsorger wachsen. Als im Frühjahr 1516 das Kloster Einsiedeln mit einem Leutpriesteramt lockt, sagt Zwingli zu.
« Fabel vom Ochsen. In der polemischen Fabel Das Gedicht vom Ochsen (1510) stellt Zwingli die Eidgenossenschaft in Gestalt eines gutmütigen Ochsen dar. Umworben wird er vom Leopard (dem französischen König), vom Löwen (dem deutschen Kaiser), vom guten Hirten (dem Papst) und mehreren Katzen (den Fürsten der italienischen Stadtstaaten). Sie alle haben nur eines im Sinn: die Kraft des Ochsen für ihre Zwecke einzusetzen.
Do nun mit list der lechpard bkam
den ochssen schlecht, dass er
annam sin bundt, fuort er in nach siner
bger hiehar, dorthin, beid wyt und ferr.
Also ward ingefuert der schlecht
ochsss von katzen, das er meynt recht,
wo er den lechpard mit siner sterck
erhöhen möcht und gflissnem werck.
Nympt an all schaden,
klein und gross,
streych, schwertschleg, glich als ein amboss,
dass er den leopard rich mach;
ein schlangenzüchen was im gach.
Do nun des lechpards glück erblickt
der lew, zum ochssen er bald ficht
und redt in an, het schwantz und burst
niderglan, sagt ouch, wie in ducht
nach sinr geselschafft, batt in daby
früntlich, nit zwungen sunder fry
darin zegan. (ZW I, 2, S. 15f.)»
Als so der listige Leopard den biederen Ochsen dazu gebracht hatte, ein Bündnis einzugehen, führte er ihn nach Lust und Laune bald hierhin, bald dorthin, fern und nah. So hatten die Katzen dem einfachen Ochsen beigebracht, er würde mit seiner Kraft und harter Arbeit das Ansehen des Leopards erhöhen. Ohne kleineren oder grösseren Schaden zu erleiden, erduldete der Ochse Schläge und Schwertstreiche, die er wie ein Amboss hinnahm, um so den Leoparden reich zu machen; selbst vor Schlangen schreckte er nicht zurück. Als nun der Löwe das Glück des Leoparden mit ansah, näherte er sich dem Ochsen und sprach ihn an, mit bescheiden hängendem Schwanz und Mähne. Er beteuerte dem Ochsen, wie sehr ihm an seiner Gesellschaft gelegen sei, und bat ihn, einen freundschaftlichen Bund mit ihm zu schliessen, in aller Freiheit und ohne jeglichen Zwang.
In seinen Augen bietet der europaweit populäre Pilgerort unschätzbare Vorteile. Das Pflichtenheft hier ist bescheiden; es bleibt noch mehr Zeit für Sprachstudien, für Kontakte mit humanistischen Freunden in Basel und Zürich. Bescheiden ist zwar auch das Salär, mit mageren 20 Gulden im Jahr, dafür stehen jedoch Pferde und Bediente zur Verfügung, Unterkunft und reichliche Verpflegung sind garantiert. Vor allem aber: Hier kann Zwingli seine Kanzelrhetorik ausbauen und weiterarbeiten an seinem bereits legendären Vortragsstil, der populäre Vergleiche und messerscharfe theologische Interpretation verbindet. Während andere Priester sich mit der herkömmlichen Liturgie begnügen und der Messe allenfalls ein paar besinnliche Worte anfügen, baut Zwingli in diesen zweieinhalb Einsiedler Jahren die Predigt zu einem vielseitigen und gefürchteten Instrument der Verkündigung aus. Er wird zum charismatischen Redner, der das Wort wie eine Waffe einsetzt – und dies vor einem Publikum, das aus allen Teilen der Eidgenossenschaft stammt. Darunter findet sich oft eine kleine, aber aufmerksame Zürcher Delegation, zu der immer öfter auch der Zürcher Bürgermeister Marx Röist gehört.
Käufliches Seelenheil
Es gab zwei Dinge, mit denen die Einsiedler Jahre Zwingli immer wieder konfrontierten. Der Kult um die Schwarze Madonna liess ihn intensiv über die Heiligenverehrung und die Vermittlerposition der Heiligen im Glaubensgefüge nachdenken. Denn das Gnadenbild, das die Muttergottes mit Kind zeigt und als Folge eines Altarbrands eine dunkle Färbung aufweist, ist die zentrale Attraktion des Wallfahrtsortes. An ihm machen sich die Wünsche und Gebete der Gläubigen fest: eine Zwischeninstanz, für die sich in der Heiligen Schrift keinerlei Grundlage findet. Vom zweiten Einsiedler Jahr an warf der Kreuzzug des Franziskanermönchs Bernardin Sanson zudem grosse Wellen. Zumindest inoffiziell trug Sanson – so wie Zwingli ein charismatischer Prediger – im Auftrag des Vatikans an die Ausbaukosten der Peterskirche in Rom bei, und dies mit Hilfe eines Spezialangebots: Ablassbriefe, sogenannte Indulgenzen, bescheinigten gegen ein Entgeld den Erlass von Strafen für begangene Sünden. Sie wurden an effektvoll inszenierten Massenanlässen an die Gläubigen verkauft, und dies in bisher ungewohnten Nominationen, die auch den wenig Bemittelten das eigene Seelenheil oder jenes ihrer Vorfahren sicherten.
Sansons effekthascherischen, aber effizient organisierten Grossveranstaltungen führten auch dem Zürcher Regime vor Augen, dass hier die ohnehin fragwürdige Praxis der Ablassgewährung (siehe i Ablass: Seelenheil gegen Geld) auf schamlosen Missbrauch der kirchlichen Gewalt hinauslief. Ganz generell war seit Marignano der Widerstand gegen die Sittenlosigkeit und Raffgier des Klerus in offene Ablehnung umgeschlagen; immer öfter griffen die weltlichen Behörden in innerkirchliche Angelegenheiten ein – etwa wenn es um die Lebensführung der Geistlichen ging. Zwar gab der für Zürich zuständige Bischofssitz in Konstanz auch weiterhin regelmässig offizielle Weisungen heraus, die den Geistlichen geboten, dass sy keine concubinenby sich habind, ouch von allem spillen, frevlen und sauffen abstandind. Sehr ernst war das aber nicht gemeint: Einen beachtlichen Teil seiner Einkünfte erzielte der Bischof gerade mit den Abgaben, die «in Unzucht» lebende Geistliche jährlich zu entrichten hatten …
Wenn sich die Zürcher Obrigkeit auf der Suche nach einem neuen Leutpriester auf Ulrich Zwingli festlegte, so weil sie sich im Konflikt mit «Konstanz» einen Scharfmacher erhoffte, der die Bevölkerung auf die gewünschte Linie bringen würde. In Einsiedeln hatte sich Zwingli zudem mehrfach gegen das Mönchswesen im Allgemeinen und die Bettelorden im Besonderen gewandt. Dass diese mit Franziskanern, Barfüssern und Augustinern gleich mit drei Zürcher Niederlassungen vertreten waren, war vielen Stadtvätern ein Dorn im Auge. Mit ihrem Grundbesitz, ihren zahlreichen Rechten und Einkünften stellten diese – theoretisch der Besitzlosigkeit verpflichteten – Orden ein riesiges wirtschaftliches Potenzial dar, das im Sinne des weltlichen Gemeinwesens ungenutzt blieb. Kurz: Mit seinem kompromisslosen Eintreten gegen den Solddienst und den Ablassmissbrauch, mit seiner Skepsis gegenüber Heiligenverehrung und überholten kirchlichen Ritualen stellte dieser scharfzüngige Einsiedler Priester für den reformgesinnten Teil der Zürcher Behörden die ideale Wahl dar. Im November 1518 wurde Ulrich Zwingli zu einem der drei Leutpriester der Stadt ernannt. Am 1. Januar des folgenden Jahres, seinem 35. Geburtstag, hielt er im Grossmünster seine Antrittspredigt.
i Ablass: Seelenheil gegen Geld – Seit dem frühen Mittelalter haben Gläubige die Möglichkeit, gegen Bezahlung Gnade für begangene Sünden zu erwirken. Der sogenannte Ablassbrief wird von Papst, Kardinäle...

Inhaltsverzeichnis

  1. Cover
  2. Titel
  3. Impressum
  4. Inhalt
  5. Vorwort
  6. 1. Zürich um 1500
  7. 2. Solddienst
  8. 3. Im Sinn des Allmächtigen: Verweltlichung der Klöster
  9. 4. Vom Umgang mit Schätzen
  10. 5. Schrittmacher aus dem Süden: die Locarneser Flüchtlinge
  11. 6. Geld im Alltag
  12. 7. Umschichtung der Werte: Arbeit und Almosen, Zeit und Geld
  13. 8. Frauenrollen, Frauenwelten
  14. 9. Aberglaube, Hexenwahn
  15. 10. Schlusspunkt: Zwinglis Rede, Zwinglis Schreibe
  16. Nachweise Bild und Text
  17. Bibliografie
  18. Über den Autor