TEIL 1: BETRIEBSWIRTSCHAFTLICHER ANSATZ ZUR SANIERUNG ODER VORBEUGUNG VON KRISENPROJEKTEN
Wie man in meinem ersten Buch „Warum Projekte schiefgehen - und wie man sie erfolgreich stabilisiert“ gesehen hat, liegen viele Ursachen für Projekte in Schieflage in ihrem Umfeld, in der sie durchführenden Organisation. Man sollte meinen, dass die Vermeidung der dort beschriebenen Fehler genügen sollte, um Projektkrisen nachhaltig zu verhindern. Leider wäre das aber etwas kurz gesprungen, denn die Fehler, die in den Organisationen gemacht werden, haben ja einen tieferen Hintergrund, den ich in der Folge unter Zuhilfenahme einiger betriebswirtschaftlicher und praxisbezogener Fakten näher beleuchten möchte.
Die Zusammenhänge von und in Organisationen zu beschreiben ist Aufgabe der Organisationslehre als Teil der Betriebswirtschaftslehre. Hier sind auch die Ansätze für Fehlentwicklung und deren Behebung zu suchen.
1. Bestandsaufnahme: Die Betriebswirtschaftslehre der Veränderung
Die Betriebswirtschaftslehre (BWL; in der Schweiz oft Betriebsökonomie) ist ein Teilgebiet der Wirtschaftswissenschaft und damit in weiterem Sinne eine spezielle Form der Sozial-, Kultur- und Geisteswissenschaften. Sie beschreibt die ökonomischen Funktionen des Betriebes innerhalb einer Volkswirtschaft. Dazu gehört neben den Unternehmenszielen und den betriebswirtschaftlichen Funktionen vor allem die optimale Organisation der Produktionsfaktoren. Das sind die dem Betrieb zur Verfügung stehenden Ressourcen.
Wirtschaft ist das deutsche Wort für oikonomia (griech.), das im antiken Hellas und Rom die Verwaltung des Haushaltes bezeichnete. Hinter dem Begriff „Wirtschaft“ steckt das Wirtschaften - oder die eigentliche Wortbedeutung "Wert schaffen" - als eine Tätigkeit. Wirtschaften ist der Umgang mit knappen Gütern und wurde traditionell als übergreifende Bezeichnung für die wirtschaftliche Verbindung von Boden, Rohstoffen, Handel, Arbeit und Kapital verwendet.
Der Begriff Wirtschaft umschreibt somit alle Einrichtungen und Handlungen bzw. Maßnahmen von Menschen mit dem Ziel, die in der Umwelt vorhandenen Ressourcen und die vom Menschen geschaffenen Ressourcen zur Befriedigung ihrer materiellen und immateriellen Bedürfnisse zu nutzen und zu fördern.
Der Inhalt dieses Buches befasst sich mit einem kleinen Teilaspekt im weiten Feld der Betriebswirtschaftslehre, und doch betrifft dieser in der heutigen Unternehmensrealität in vielen Fällen fast die Hälfte der Aktivitäten und den Großteil der Investitionen im Unternehmen1. Ein Paradoxon? Nein, denn wie jede Wissenschaft ist auch die Betriebswirtschaftslehre „gewachsen“, hat sich im Laufe der Zeit verändert und neue Objekte des wissenschaftlichen Interesses entdeckt und weiter entwickelt. Und wie dieses Buch zeigen wird, ist noch längst nicht das Ende der Entwicklung erreicht.
Um sich dem Problem zu nähern, müssen wir etwas in die Vergangenheit der Betriebswirtschaftslehre zurückblicken:
Obwohl schon bei den Pharaonen gelehrt, war in Europa das Wissen um das Wesen und die Methoden des Handels bis in die Renaissance eher ein in den Handelsfamilien gehütetes Geheimnis, mit dem der aus dem jeweiligen Knowhow entspringende Geschäftsvorteil gegenüber Konkurrenten bewahrt werden sollte.
Als die Geburtsstunde der „Handels- wissenschaft“ wird heute Adam Smith mit seinem Werk „An Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations“ (1776) angesehen. Er gilt als Begründer der klassischen Nationalökonomie und der Freien Marktwirtschaft. Erst mit dem Beginn der Industrialisierung und der Gründung der ersten Handelshochschulen ab 1898 in Leipzig, Aachen und Wien richtete sich das Interesse der „Handelsbetriebslehre“ auch auf einzelne Unternehmen.
Abbildung 1: Adam Smith
1911 entwickelte Joseph Schumpeter seine „Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung: eine Untersuchung über Unternehmergewinn, Kapital, Kredit, Zins und den Konjunktur- zyklus“.
In der Folge haben Unternehmer wie Henry Ford mit der Entwicklung von Modellen der Arbeitsteilung in der Fertigung, oder Forscher wie Walter Shewhart und Edward Deming mit ihren Modellen der statistischen Prozesslenkung und der Qualitätssicherung, und nicht zuletzt Peter Drucker als Begründer der modernen Managementlehre viele Facetten zur Steigerung betrieblicher Effektivität und Effizienz beigetragen. Die daraus entstandene Lehre der Betriebswirtschaft hat diese Forschungen und Erkenntnisse aufgenommen und in die Köpfe und Herzen vieler tausend Manager gepflanzt.
Abbildung 2: Joseph Schumpeter
Allen gemeinsam ist ihre anbieterdominierte und daher unternehmenszentrische, produktorientierte Sicht auf den Markt. Bis in die 1990er Jahre hinein nahm der Markt dankbar das Angebot an Produkten und Dienstleistungen an. Es konnten sich über technologische Führerschaft teilweise monopol- oder oligopolistische Angebotsstrukturen entwickeln, in denen die Kunden sich mangels Alternativen nicht selten in einem Abhängigkeitsverhältnis von ihren Lieferanten befanden. Die „klassische“ Betriebswirtschaftslehre befasste sich daher dem „ökonomischen Prinzip“ folgend mit der Beschreibung, Analyse und Optimierung der Produktion und der Organisation des laufenden Betriebs und entwickelte entsprechende Managementmodelle.
Abbildung 3: Peter Drucker
Mit zunehmender Globalisierung sind spätestens seit der Jahrtausendwende viele traditionelle Marktführerschaften infrage gestellt worden. Internationale Konkurrenz, preisgünstigere und/oder einfachere, aber ausreichende Alternativprodukte aus Schwellenländern mit niedrigeren Herstellungskosten, Transparenz von Preisen und Leistungen über moderne Kommunikationsmittel usw. haben die Dominanz der hiesigen Industrie in vielen Branchen stark angekratzt. Hinzu kommt eine Emanzipation der Kunden, gefördert durch die neue Konkurrenzsituation auf der Anbieterseite und die Transparenz vieler Angebote durch das Internet. Der Wandel vom Anbietermarkt zum Käufermarkt fordert mehr Flexibilität von den Produzenten, aber auch das Einhalten von Verkaufsversprechen, da sonst Claims d.h. Abzüge, Nachbesserungen, Margenverluste usw. drohen.
Diesen Wandel haben viele Unternehmen, aber auch die moderne Betriebswirtschaftslehre noch nicht ausreichend nachvollzogen. Bis in die jüngere Vergangenheit stand in den Lehrplänen selbst renommiertester wirtschaftswissenschaftlicher Universitäten und Business Schools (siehe Abbildung 4) wenig über das Management in sich ändernden Bedingungen oder von Unternehmen, deren Geschäft einem ständigen Wandel unterworfen ist. Das Angebot der meisten Hochschulen beschränkte sich auf einige studienbegleitende Scheine, manchmal auch Studiengänge und Credit Points, die im Fach Projektmanagement zu erwerben waren. Immer noch sind spezialisierte Lehrstühle für Projektmanagement noch selten2, wenn auch langsam zunehmend. Die Entwicklung mathematischer Planungsverfahren in der Unternehmensforschung („Operations Research3“) hat bisher kaum wissenschaftliche Brücken zur Umsetzung der Planung, Steuerung der Umsetzung und dafür sinnvolle Organisations- und Infrastrukturen geschlagen.
Abbildung 4: Führende ManagementUniversitäten
Die Lücke haben vielmehr seit den 60er Jahren Berufsverbände wie das Project Management Institute (PMI®) oder die International Project Management Association (IPMA) mit ihren Sammlungen von „Best Practices“ und den daraus entwickelten Standards und Zertifizierungen geschlossen. Projektmanagement - so nennen es vornehmlich die mit diesen Situationen befassten Führungskräfte - ist leider vielfach immer noch in den Augen vieler Manager und Executives eher ein Gebrauchsgut („Commodity“).
Wie also sollen Manager etwas von Projektmanagement wissen bzw. ihre Rolle auf dieser Bühne richtig spielen, um schwerwiegende und letztlich teure Fehler zu vermeiden? Erfreulicherweise haben sich viele Geschäftsführungen für ihre Managementetagen Nachwuchs aus der Beratungsindustrie rekrutiert. Dort ist man schon länger "in Projekten „unterwegs“, bringt also etwas vom benötigten Knowhow mit. Dennoch sitzen nach wie vor viele Executives „vom alten Schlag“ in den Entscheider-Stühlen.
1.1. Run vs. Change the Business
Die „klassische“ Betriebswirtschaftslehre kennt und beschreibt viele Fachbereiche, in denen es um das laufende Business, also um Produktion, Controlling, Marketing, Einkauf, Steuern, Finanzen usw. geht. Diese Bereiche sind die zentralen Aufgabengebiete des Managements, wenn es um das laufende Tagesgeschäft, das „Run the Business“ eines Unternehmens geht. Da wo nach „klassischer“, produktorientierter Lesart „das Geld verdient“ wird.
Wenig Beachtung wird dabei einem Bereich des Unternehmens geschenkt, in dem es sich den Veränderungen seiner Umgebung, der gesetzlichen Anforderungen, der Technik, des Marktes, der Kundenwünsche usw. anpasst. Ohne diese permanente Weiterentwicklung und Anpassung droht Stillstand, gehen jeder Vorsprung und Marktvorteil schnell verloren, werden keine neuen Chancen eröffnet und kein Wachstum erreicht. Der Tod jedes Unternehmens! Dieser Bereich des „Change the Business“ kann je nach der Häufigkeit und Eingriff-Tiefe der Veränderungen recht umfangreich sein und damit einen nicht unerheblichen Teil der Unternehmenstätigkeit einnehmen. Er muss demnach nicht minder sorgfältig und professionell gemanagt werden als das „Run the Business“.
Menschen ändern sich, z.B. in ihrer Kommunikation, gehen mit der Zeit, auch ohne dass es dafür Projekte braucht. Veränderungen und Weiterentwicklungen in Unternehmen hingegen erfolgen meist in Investitionen, und diese wiederum werden in Projekten umgesetzt. Die Zukunft der Unternehmen wird demnach in Projekten gemacht. Das bedeutet: Projekte sind ein Muss in allen Unternehmen, sie gehören zum Alltag, wenn Unternehmen fortbestehen und wachsen wollen. Grund genug, dem Management von Projekten etwas mehr Aufmerksamkeit - auch in der Betriebswirtschaftslehre - zu widmen.
Abbildung 5: Dualität der Unternehmens-Aktivitäten
1.1.1. Projekte funktionieren anders als das laufende Geschäft
Projekte sind auf Veränderung ausgelegt. Sie entwickeln etwas Vorhandenes weiter oder „erfinden“ etwas vollkommen Neues. Das Produkt, mit dem sie sich beschäftigen ist - im Unterschied zu dem des Tagesgeschäfts - neu und einmalig4. Es wird, wenn es marktreif ist, dem laufenden Geschäft übergeben und realisiert dann dort sein ökonomisches Potenzial, wenn es in die Produktion für den Markt geht. Mit der Übergabe an den laufenden Betrieb endet in der Regel das Projekt.
Das impliziert, dass Projekte, die sich mit der Entwicklung von etwas Neuem, d.h. bis dahin Unbekanntem und Einmaligem beschäftigen, im Unterschied zum laufenden Geschäft in einer Umgebung der Unsicherheit stattfinden, weil es dazu i.d.R. eben noch keine Erfahrungswerte gibt. Demnach müssen auch die Managementmethoden diesen Rahmenbedingungen Rechnung tragen. Im Grunde müssen sie gleiche Management-Aufgaben in ihrem „Unternehmen Projekt“ leisten, aber unter „erschwerten Bedingungen“:
- Neues birgt ein höheres Risiko, Unsicherheit statt erprobte Abläufe
- Projekte finden unter Zeitdruck (Meilensteine, Time-to-Market) statt.
- Projekte haben ein kalkuliertes Budget mit direktem Bezug zu ihrem Business Case anstelle von variablen Kosten, die sich der Betriebstätigkeit anpassen.
- Projektmanagement erfolgt meist ohne direkten Durchgriff auf Ressourcen, d.h. die Projektmitarbeiter sind aus den Fachabteilungen „geliehen“ und unterstehen dort der disziplinarischen Führung.
- Projektteams werden pro Projekt neu zusammengestellt, sind keine eingespielte Mannschaft.
- Projekte verändern Bestehendes und stehen daher oft Widerständen gegenüber, die ihre Durchführung erschweren.
Diese Besonderheiten des „Change the Business“ werden in vielen einschlägigen Aufsätzen des Projektmanagements immer wieder behandelt. Es gibt dazu auch vielfältige Vorgehensmodelle und Best Practices bis hin zum ANSII- bzw. DIN-Standard und einer ISO-Nor...