Kapitel III
Eine qualitative Analyse des Suchtphänomens: Die Souveränität der Sucht und die Ohnmacht des Menschen – ein Ort von Religion
Um der Aufgabe einer pastoralen Positionierung am Ort der Suchttherapie in der Klinik im Hinblick auf die Bedeutung von Spiritualität und Religion in der Suchttherapie gerecht werden zu können, bedarf es zunächst einer Analyse des Zeitzeichens der Sucht. Als Methode wird die qualitative Sozialforschung gewählt. Das erscheint weiterführend, denn es gilt eher einen eigenen Theorierahmen im Format von Pastoral zu entwickeln als die Validität bestehender suchtpastoraler Konzepte zu überprüfen.
Daher wird im ersten Teil dieses Kapitels die Methode der qualitativen Sozialforschung am Beispiel der hier angewandten Grounded Theory (GT) erläutert. Der zweite Teil bringt die einzelnen Schritte der konkreten Theoriegenerierung im Feld der Klinik und deren Gesamtergebnis zur Darstellung.
10Qualitative Sozialforschung
Was kennzeichnet qualitative Sozialforschung? Mayring bietet in seiner Einführung in die Qualitative Sozialforschung folgende Beschreibung an: „Unter dem Stichwort Qualitative Sozialforschung‘ sammeln sich vor allem soziologische, aber auch erziehungswissenschaftliche Ansätze, die sich einig sind in ihrer Kritik an den weit verbreiteten sozialwissenschaftlichen Forschungsinstrumenten: Skalen, Tests, Fragebögen, standardisierte Instrumente lassen die Versuchsperson‘ nicht zu Wort kommen, sondern reduzieren sie auf das Reagieren auf vorgegebene Kategorien (Kreuzchen machen). Dagegen versucht man hier anzuknüpfen an die Tradition amerikanischer Feldforschung (Chicago-Schule,...) die sich der sozialen Realität mit unstrukturierten Beobachtungen und offenen Befragungen in natürlichen Situationen annähert. Mittlerweile ist Qualitative Sozialforschung‘ zum interdisziplinären Bezugspunkt neuer qualitativer Ansätze geworden“ (Mayring 2002, 9-10).
In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts haben sich auf dem Terrain dieses Verfahrens zahlreiche unterschiedliche Methoden entwickelt. Als formale Gemeinsamkeit der verschiedenen qualitativen Forschungsprozesse postuliert Flick den Weg von der Theorie zum Text und vom Text zur Theorie. Jede Methode erhebe Daten in Form von Interviews oder Beobachtungen, die durch Transkriptionsverfahren in Texte überführt, anschließend in Prozessen des Kodierens interpretiert und letztlich wieder dokumentiert und publiziert werden (Flick 20042, 20-29).
Auf der Suche nach einem dem Untersuchungsgegenstand dieser Arbeit angemessenen Methode fiel die Wahl auf ein Konzept aus der von Mayring genannten Tradition amerikanischer Feldforschung: Die Grounded Theory (GT).
10.1Zum Verfahren der Grounded Theory (GT)
Als Begründer dieser Forschungsmethode gelten insbesondere die beiden Soziologen Barney G. Glaser und Anselm L. Strauss (Glaser, Strauss 1988). Sie formulieren in ihrem Grundlagenwerk The discovery of grounded theory die Strategie auf der Basis empirisch erhobener Daten neue Theorien zu generieren.11 Als Ausgangspunkt und Impulsgeber für solch einen Entdeckungsprozess (hier zeigen sich ihre Wurzeln im Pragmatismus) bedarf es immer eines positiven Grundes: Wenn Verstehens- und Verhaltensge-wohnheiten „im aktuellen Handeln problematisch werden, Dinge also nicht so funktionieren, Menschen sich nicht so verhalten, wie wir auf der Basis unserer Vor-Urteile meinten annehmen zu können. Daraus resultiert ein Prozess praktischer Problemlösung“ in Form eines kreativen steten Hinund Herspringens, Vergleichens und Überprüfens, der Klärung und Stabilisierung oder aber auch der Verwerfung der neu entdeckten Lösungsvarianten (Strübing 2004, 41). Dieses Alltagsformat von Problemlösung gilt als Paradigma für die GT. Sie geht von einem praktischen Problemdruck aus, der einen kreativen Suchprozess in Gang setzt und dessen Lösung nicht allein in bereits Bekanntem gefunden werden kann. Es gilt Neues zu entdecken, dessen Wahrheit an seiner pragmatischen Tauglichkeit offenkundig wird. Erkenntnis ist daher stets ein perspektivisches und heuristisches Unternehmen. „Problemlösen wird im Pragmatismus nicht einfach als eine systematische Re-Kombination bekannter Zusammenhänge verstanden, sondern als kreativer Prozess, der zunächst mit spontanen Eingebungen und Assoziationen beginnt, dann aber sukzessive zu konkreteren, ausge- arbeiteteren Handlungsvorgaben voranschreitet“ (Strübing 2004, 42).
In der weiteren Entwicklung der GT führten sehr grundlegende konzeptionelle Unterschiede zwischen Glaser und Strauss zur Aufteilung der GT in zwei Schulen. Die hier vorgelegte Studie folgt dem Konzept von Strauss, das er gemeinsam mit Juliet Corbin 199012 unter dem Titel Grounded Theory: Grundlagen qualitativer Sozialforschung formulierte.
Im Folgenden sollen jeweils im Anschluss an die Beschreibung der formalen Grundzüge dieser Methode die Formen ihrer konkreten Anwendung auf die Thematik dieser Studie im Feld der Klinik dargestellt werden.
10.2Indikatoren einer adäquaten Verortung der GT
Strauss und Corbin benennen zu Beginn Orte und Problemkonstellationen als Forschungsbereiche, in denen Ergebnisse gerade nicht mittels analytisch-mathematischer Quantifizierungsverfahren generiert werden können und sich daher eine qualitative Methode wie die GT empfiehlt. „Einige Forschungsgebiete sind ihrem Wesen nach angemessener mit qualitativen Methoden zu beforschen. So zum Beispiel Forschung über die Art der persönlichen Erfahrung mit Phänomenen wie Krankheit, Glaubenswechsel oder Sucht. Qualitative Methoden können verstehen helfen, was hinter wenig bekannten Phänomenen liegt. Sie können benutzt werden, um überraschende und neuartige Erkenntnisse über Dinge zu erlangen, über die schon eine Menge Wissen besteht. Darüber hinaus können qualitative Methoden Aufschluss geben über verwickelte Details von Phänomenen, die mit quantitativen Methoden schwierig aufzuzeigen sind“ (Strauss, Corbin 1996, 4-5).13 Qualitative Sozialforschung im Sinne der GT betont den situativen, kontextuellen und interaktiv-prozessualen Charakter von Erkenntnisgewinnung und wertschätzt demzufolge die Autorität partikularer Perspektiven in der Konstruktion der Beschreibung von Lebensphänomenen im Hinblick auf die darin sich neu eröffnenden Handlungsmöglichkeiten. Sie versteht sich daher nicht nur als Methode für Soziologinnen, sondern durchaus als disziplinübergreifenden Weg. „Man muss sich vor Augen führen, dass Forscher aus verschiedenen Disziplinen an ebenso verschiedenen Phänomenen interessiert sein werden – oder aufgrund ihrer fachspezifischen Perspektiven und Interessen dieselben Phänomene unterschiedlich betrachten“ (Strauss, Corbin 1996, 11).
Auch in der Frage, an welchen soziologischen Orten diese Methode indiziert ist, zeigt sich die Verwurzelung der GT in der Tradition des Pragmatismus. Sie begreift sich nicht nur als Methode im intellektuellen Wissenschaftsbetrieb, sondern adressiert sich gerade auch an Berufspraktiker, denn sie begreift die Alltagspraxis als Forschungsanreiz. „Oder jemand stößt in seinem Beruf oder am Arbeitsplatz auf ein Problem, für das bisher keine befriedigende Antwort bekannt ist (...) Einige Berufstätige kehren zum Studium zurück, um sich weiter zu qualifizieren. Die Forschungsthemen, die sie wählen, entspringen oft dieser Motivation“ (Strauss, Corbin 1996, 21). Auch in den konkreteren Ausführungen zum Verfahren wird die berufliche Erfahrung als wichtige Ressource in der Anwendung der Methode unterstrichen. So wird beispielsweise als Bestandteil des Kodierens der erhobenen Daten die sogenannte theoretische Sensibilität gefordert. Als Quellen dieser Sensibilität wird in der GT neben Fach- und Literaturkenntnis auch berufliche Erfahrung gewürdigt. „Berufliche Erfahrung ist eine andere Quelle für Sensibilität, wenn ein Forscher das Glück hatte, solche Erfahrungen zu machen. Durch Jahre der Praxis in einem Feld entwickelt man ein grundlegendes Verständnis dafür, wie und warum die Dinge in diesem Feld vor sich gehen, … Dieses Wissen wird - auch implizit - mit in die Forschungssituation eingebracht und hilft ihnen, beobachtete und gehörte Ereignisse und Handlungen zu verstehen – und zwar schneller, als wenn sie diesen Hintergrund nicht mit in die Forschung einbringen könnten (Strauss, Corbin 1996, 26).
Anwendung
Die Formatierung der Methode eröffnet einen Rahmen, in der in verschiedenster Hinsicht jene konkreten Umstände aufgegriffen werden können, in denen diese Studie wurzelt. Ganz offensichtlich berühren sich Merkmale dieses Verfahrens mit Motivation, Kontext und Problemstellungen der hier vorgelegten Studie und stellen somit methodische Perspektiven zur Verfügung.
Zweifelsohne ist die Sucht im Bereich von psychosozialen und medizinischen Perspektiven ein bereits sehr vielfältig erforschtes Phänomen. Zahlreiche aktuelle Untersuchungen basieren weitgehend auf der gegenwärtig üblichen bio-psycho-sozialen Untersuchungsmatrix und stehen im Trend der quantitativ-empirisch angelegten Evidenz-basierten-Medizin. Im Hinblick auf religiöse, spirituelle und theologische Implikationen des Phänomens ist die Forschungslage allerdings dünn (Sellmann 2006, 7-9), der praktische Problemdruck aber vorhanden. Das verlangt nach neuen Perspektiven auf das Phänomen.
Die Frage der Bedeutung von Religion und Spiritualität im Kontext von Suchttherapie für die Betroffenen, die Klinik und die Seelsorge erwächst aus einer konkreten Problemlage. Für die Patienten ist zu klären, welche Bedeutung die Auseinandersetzung mit Religion für die Bewältigung der Suchterkrankung besitzt. Für die Kirche geht es um die Bedeutung der Sucht in der Pastoral und umgekehrt und für die Klinik um eine konzeptionelle und pragmatische Positionierung in diesen Fragen.
Der Problemdruck erwächst aus der Praxis. Die Patienten verlangen am Ort der Klinik Antworten auf ihre Fragen und die Seelsorge steht vor der Frage, ob sie sich an diesen Ort begeben soll und wenn ja, wie hier das Evangelium ausgesagt werden kann.
Fertige Konzepte liegen nicht bereit und können von keiner Seite aus allein gefunden werden. Vorhandene Konzepte müssen auf ihren Bedeutungsgehalt in der Praxis kommuniziert und überprüft werden.
Der eingeleitete Suchprozess verlangte den steten Wechsel von Theorie und Praxis; welche Themen der Praxis rufen welche Inhalte der Tradition auf, bzw. welche Inhalte der Tradition bringen eine neue Praxis zur Sprache? Was bewährt sich vor Ort?
Fazit
Der pragmatische Ansatz der GT entspricht dem Ort der Seelsorge in der Klinik. PatientInnen kommen, weil sie auf der Suche nach Handlungsvarianten sind, die ihnen Perspektiven aus der Sucht ermöglichen. Ausgangslage ist also der Handlungsdruck, dem man nicht ausweichen kann. Man kann nicht nichts tun. Man weiß aber auch, wenn man das tut, was man bislang tat, kostet es das eigene Leben. Daher ist die Lage prekär. In dieser Arbeit geht es darum, ausgehend von der Beschreibung der PatientInnen das Phänomen der Sucht zu betrachten. Das Spezifische dieser Betrachtung liegt darin, das Phänomen hinsichtlich seiner religiösen Implikationen, insbesondere im Hinblick auf seine Deutung im Licht des Evangeliums, zu untersuchen. Es geht also um die Entwicklung einer Theorie, deren Gegenstandsorientierung den religiös-spirituellen Aspekt des Phänomens untersucht, im Hinblick auf eine theologische Positionierung dazu.
10.3Zur Methodologie: Grounded Theory entsteht…
Strauss und Corbin verstehen die Methode der GT als „eine qualitative Forschungsmethode bzw. Methodologie, die eine systematische Reihe von Verfahren benutzt, um eine induktiv abgeleitete, gegenstandsverankerte Theorie über ein Phänomen zu entwickeln“ (Strauss, Corbin 1996, 8).
Diese systematischen Vorgehensweisen und ihre konkreten Anwendungen sollen im Folgenden dargestellt werden. GT entsteht...
10.3.1...induktiv gegenstandsverankert
Dem induktiven Charakter der Methode kommt für Strauss zentrale Bedeutung zu. Immer wieder verwendet er diesen Begriff zu ihrer Qualifizierung insbesondere um den Unterschied zu nomologisch-deduktiven Methoden quantitativer Forschung hervorzuheben. In der methodenpolitischen Auseinandersetzung führte das insbesondere in der frühen Selbstdarstellung zu Verabsolutierungen in den Formulierungen, die den Eindruck erweckten, als müsse der Forscher sich quasi ‘theorielos‘ in das zu untersuchende Feld begeben. Allein in der Wahrnehmung und im beobachtenden Vergleichen der Phänomene emergiere neue Theorie, also „Phänomene selbst seien Indikatoren für theoretische Konzepte“ (Strübing 2004, 50f). Das führte in Fachkreisen natürlich zu berechtigter und anhaltender Kritik und vielen Missverständnissen, sodass ca. 25 Jahre später Strauss und Corbin selbstkritisch bemerken, dass das induktivistische Erscheinungsbild der GT
„has occurred as a result of the initial presentation of grounded theory in Discovery that has led to an persistent and unfortunate misunderstanding about what was being advocated. Because of a partly rhetorical purpose of that book and the authors‘ emphasis on the need for grounded theories, Glaser and Strauss overplayed the inductive aspect.“ (Strauss, Corbin 1994, 277).14
Die starke Betonung des induktiven Charakters in Kombination mit dem Adjektiv gegenstandsverankert bezeichnet aber zweifelsohne eine wirklich wichtige Veränderung in der Forschungsmethodik. Hier wird eine Option für die konstitutive Bedeutung empirischer Praxis für neue Theorieentwicklung getroffen. Die GT verankert hier Theorie an einem konkreten Ort. Sie anerkennt den topologischen Charakter von Theorie und den pragmatischen Charakter des Topos. Die Fokussierung auf den pragmatischen Gehalt dieses Topos erfolgt in zweifacher Hinsicht: Die Verortung der Theorie ist im situativen Problemdruck verankert und ihre Bedeutung validiert sich in der Eröffnung neuer Handlungsoptionen in der jeweiligen Situation, die zugleich zum Ort empirischer Bewährungsprobe wird (Strauss, Corbin 1996, 8ff). Die Bezeichnung induktiv stellt also den pragmatischen Gehalt der Empirie heraus. Der Ort der Daten ist keine leblose Materie, sondern ein Handlungsgeflecht. Von der Situation, dem zu untersuchenden Phänomen, geht selbst etwas aus. In ihm ist ein eigener Handlungsimpuls gegenwärtig. Die Kennzeichnung der Methode als induktiv gegenstandverankert benennt eine deutliche erkenntnistheoretische Option hinsichtlich des pragmatischen Gehalts des zu erforschenden Phänomens, bzw. des gesamten Forschungsvorgangs. Das steht auch durchaus in der Tradition des Pragmatismus, den Strauss als philosophische Referenz seiner Methode mitbringt und bedeutet nicht automatisch Induktivismus. Dieser Gefahr wurde methodologisch auch bereits 1967 in der Anfangskonzeption von Strauss und Glaser das Konzept der theoretischen Sensibilität entgegengesetzt. Unter diesem Begriff werden in der GT die Bedeutung und die notwendige Integration theoretischen Vorwissens thematisiert. Dass Strauss keinen Induktivismus predigte, wird auch in und an sei...