1. Vorwort
Am 3. Oktober 1990 vollzog sich mit der deutschen Einheit eine historische Zäsur. Kein Historiker wird ernsthaft bestreiten, dass an diesem Tag Weltgeschichte geschrieben wurde. Beim Festakt zum 20. Jahrestag des Mauerfalls in Berlin trafen die Politiker Kohl, Gorbatschow und Bush am 31.10.2009 wieder aufeinander.1 Für die am Festakt beteiligten Personen bestand kein Zweifel, dass diesen drei Staatsmännern ein wesentlicher Anteil an der deutschen Einheit zugutekommt. Die Frage nach den Voraussetzungen und Ursachen, welche den Weg zur deutschen Einheit überhaupt erst ermöglichten, wird unter Politikern und in der Forschung dagegen durchaus differenziert beantwortet.2 Ebenso fällt das Urteil in der deutschen Öffentlichkeit hierzu sehr unterschiedlich aus und nicht selten findet eine Verklärung von Personen und Ereignissen statt. Einerseits steigt der Kanzler der Einheit in der Jungen Union immer mehr zum Übervater auf.3 Andererseits findet man in der Bundesrepublik mitunter Kommentare vor, die Kohl als Verräter titulieren und große Antipathie erkennen lassen.4 Unabhängig davon scheint aber auch die Bedeutung des historischen Meilensteins der Wiedervereinigung in der öffentlichen Wahrnehmung zu schwinden und man begegnet immer wieder überzeugten Anhängern der sogenannten „Ostalgie“.5
In dieser Arbeit soll grundsätzlich der Frage nachgegangen werden, wie Helmut Kohl sein Verdienst um die deutsche Einheit aus seiner subjektiven Selbstwahrnehmung heraus beurteilt und dies im Gegensatz von den ebenfalls am Prozess der Wiedervereinigung beteiligten Hauptakteuren gesehen wird. Daraus wird sich ein
Abgerundet werden die Urteile mit einer Darstellung über den aktuellen Forschungsstand. Im Rahmen dieser Arbeit kann zwar schon allein aus Kapazitätsgründen nicht jeder dazu vorherrschende Beitrag aus der Forschung berücksichtigt werden. Der Verfasser hofft jedoch, aus den zahlreichen wissenschaftlichen Beiträgen insgesamt eine ausgeglichene Auswahl getroffen zu haben, so dass ein gesicherter Überblick entsteht und die subjektiven Beurteilungen Kohls und seiner politischen „Weggefährten“ ausreichend ergänzt werden. Insgesamt soll für den Leser ersichtlich werden, in welchen Bereichen weitestgehend Eintracht bzw. Zwietracht besteht. Nicht zuletzt ist es das Ziel dieser Arbeit, dass sich der Leser mit den hier bearbeiteten Beiträgen aufgrund solider Information und ausreichendem Hintergrundwissen ein eigenes und fundiertes Urteil über Helmut Kohls Verdienst an der Wiedervereinigung verschaffen kann.
Die grundlegende Frage dieser Arbeit bedingt, dass das primäre Quellenmaterial überwiegend auf den jeweiligen Autobiographien bzw. Memoiren sowie weiteren öffentlichen Äußerungen (so z.B. Interviews) basiert. Freilich sind die Aussagen zu einem nicht unbedeutenden Anteil stark subjektiv geprägt. Dass z.B. Helmut Kohl in seiner Beurteilung andere Schwerpunkte setzt als die britische Premierministerin Margaret Thatcher, dürfte grundsätzlich nicht allzu sehr überraschen. Durch die Einbeziehung aller „wichtigen“ politischen Akteure am Prozess der deutschen Wiedervereinigung wird aber gerade aufgrund heterogener Ansichten und Schwerpunktsetzungen insgesamt ein sehr aufschlussreiches und differenziertes Bild entstehen. Darüber hinaus dienen Gesprächsprotokolle aus Bonn, Moskau und London als wertvolles Quellenmaterial. Diese tragen wesentlich dazu bei, noch genauer hinter die Kulissen zu blicken und einen authentischen Eindruck der Gemütslage und Atmosphäre des Politikgeschehens der Jahre 1989 und 1990 zu vermitteln. Insbesondere eröffnen die im Jahre 2010 von der britischen Regierung publizierten „Documents on British Policy Overseas“6 neue Erkenntnisse im Hinblick auf vertrauliche Gespräche zwischen London und Paris, die nicht nur das Bild Thatchers weiter konkretisieren, sondern auch neue Hinweise auf Mitterands „Doppelspiel“7 liefern. Dadurch werden die subjektiven bzw. bewusst „gefärbten“ Beiträge mitunter relativiert und ergänzt.
Ebenso sei noch darauf hingewiesen, dass diese Arbeit keine Chronologie der Wiedervereinigung darstellt. So wird z.B. nicht der Inhalt des Zehn-Punkte-Plans oder der Währungsunion an sich behandelt, sondern jeweils in Bezug auf Kohls Verdienst bzw. Verfehlungen. Aus diesem Grunde wird nicht jeder einzelne politische Schritt der Jahre 1989/90 auszuführen sein, sondern stets die Ereignisse, welche von den hier zu Wort kommenden Akteuren als besonders bedeutend in Bezug auf Helmut Kohls Verdienst angesehen werden.
Die Hauptaufgabe besteht freilich darin, eine objektive Auswertung der subjektiven Beurteilungen anzustreben. An manchen Stellen wird der Verfasser jedoch eigene Kommentare hinzufügen, wann immer dies m.E. notwendig bzw. hilfreich erscheint, um auf bewusst verfälschte oder missverständliche Aussagen aufmerksam zu machen. Zuletzt wird im Epilog noch einmal ein zusammenfassender Überblick wiedergegeben und abschließend eine Gesamtbilanz gezogen.
Christian Bayer
im März 2012
1 Hierzu z.B.: Welt-online. Richter, Christine: Historischer Abend mit Kohl, Bush, Gorbatschow. 1.11. 2009, Quelle: http://www.welt.de/politik/article5041490/Historischer-Abend-mitKohl-Bush-Gorbatschow.html (Stand: 15.02.2012).
2 Hierzu Forschungsbeiträge, welche das Verdienst Helmut Kohls äußert positiv bewerten. So z.B. Fröhlich, Stefan: Auf den Kanzler kommt es an. Helmut Kohl und die deutsche Außenpolitik. Persönliches Regiment und Regierungshandeln vom Amtsantritt bis zur Wiedervereinigung, Paderborn 2001.
Auch Rödder, Andreas: Deutschland einig Vaterland. Die Geschichte der Wiedervereinigung, München 2009. (Lizenzausgabe für die Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn 2010). Dagegen zum Teil kritische Stimmen gegenüber Kohl, z.B. Noack, Hans-Joachim/Bickerich, Wolfram: Helmut Kohl. Die Biographie, Berlin 2010. Besonders deutlich wird die Kritik in Vilmar, Fritz (Hrsg.): Zehn Jahre Vereinigungspolitik. Kritische Bilanz und humane Alternativen (Kritische Analysen zur Vereinigungspolitik, Bd. 1), Berlin ²2000.
3 Vgl. hierzu z.B. Berichte der Jungen Union: Begeisterung für Helmut Kohl – gelungene JU-Aktion in Ludwigshafen, Quelle: http://www.jungeunion.de/content/presse/mitteilungen/1070 (Stand: 1.03.2012). 20 Jahre Kanzler der Deutschen Einheit – Danke, Helmut Kohl, Quelle: http://www.junge-union.de/content/presse/mitteilungen/1145 (Stand: 1.03.2012).
4 Z.B. Internetforen, die Kohl politisch und persönlich attackieren. Helmut Kohl, Verräter Deutschlands!, Quelle: http://www.deutschlanddebatte.de/2012/02/29/helmut-kohl-verrater-deutschlands/ (Stand: 1.03.2012).
5 Vgl. hierzu auch Kommentare Joachim Gaucks bzgl. Geschichtsvergessenheit und einem „Nachtrauern“ der DDR. So z.B. Welt-Online: Thomas Schmid im Gespräch mit Joachim Gauck: Freiheit ist anstrengend, denn man muss wählen, 6.6.2010, Quelle: http://www.welt.de/politik/deutschland/article7922299/Freiheit-istanstrengend-denn-man-muss-waehlen.html (Stand: 02.02.2012). Gesamtbild ergeben, welches Konsens, Dissens und Parallelen zwischen den einzelnen Beurteilungen aufzeigt.
6 Salmon, P./Hamilton, K. (Hg.): Documents on British Policy Overseas. German Unification, 1989-1990 (Foreign and Commonwealth Office, Series III, Volume VII), London/New York 2010.
7 Kohl, Helmut: Vom Mauerfall zur Wiedervereinigung. Meine Erinnerungen, München 2009, S. 78.
2. Helmut Kohls Selbsteinschätzung
2.1 Persönliche Beziehungen, Vertrauen und Prinzipien
„Was im privaten Umgang miteinander richtig ist, ist auch in der Politik richtig. […] Wesentlich für stabile Beziehungen im privaten wie im politischen Bereich ist das Vertrauen in die Verlä[ss]lichkeit des Partners.“8
2.1.1 Die amerikanischen Freunde: Partner in leadership!
Ein persönliches und menschliches Verhältnis zu anderen Politikern aufzubauen, war für Helmut Kohl stets eine wichtige Voraussetzung, um langfristig erfolgreich zusammenarbeiten zu können. Mit der amerikanischen Mentalität konnte sich Kohl durchaus identifizieren. „Die Arroganz mancher Europäer“, so Kohl, „die voller Dünkel auf die Amerikaner herabsehen, habe ich nie verstanden. Ich fühle mich wohl unter den Amerikanern.“9 Und in der Tat pflegte Helmut Kohl sowohl zu Ronald Reagan (1981-1989), viel mehr aber noch zu dessen Nachfolger George Bush senior ein außerordentlich gutes Verhältnis. Mit Letzterem verbindet Kohl bis heute eine tiefe Freundschaft.
Während man 1979 dem amerikanischen Präsidentschaftskandidaten Ronald Reagan bei einem Besuch in Bonn mehrheitlich mit Nichtachtung und Überheblichkeit begegnete, sei Helmut Kohl damals der Einzige gewesen, der sich Reagans angenommen habe, um mit ihm während eines kleinen Abendessens in Kohls Büro eine persönliche Beziehung aufzubauen. In einer äußerst freundschaftlichen Stimmung sei der Grundstein für die menschliche Nähe zwischen Kohl und Reagan gelegt worden. Und in der Tat sollte der in Deutschland viel belächelte Reagan bald darauf als 40. Präsident der Vereinigten Staaten in die Geschichtsbücher eingehen.10 Während in Bonn weder ein Minister noch ein Abgeordneter sich für Reagan Zeit nahm, bewies Helmut Kohl bereits hier sein feines Gespür für die Wichtigkeit persönlicher Beziehungen. Ronald Reagan betont in seinen Tagebucheinträgen vom 15. November 1982 die Unterschiede zwischen Kohl und dessen Vorgänger Helmut Schmidt. Darin bezeichnet er Kohl als äußerst warmherzig und freundlich. Der Präsident beendet seinen Tagebucheintrag mit den Worten, dass man sicher eine sehr gute Beziehung aufbauen werde.11 Laut Kohl sei das Vertrauen der westlichen Verbündeten von großer Wichtigkeit gewesen. Dabei betont er besonders Reagans Nachfolger George Bush.12 Nicht nur habe die beiden Staatsmänner
„gegenseitige politische Wertschätzung [geprägt], sondern auch tiefe menschliche Sympathie. George Bush ist ein Mann mit gesundem Menschenverstand und von bodenständiger Lebensart, gläubig und zu echter Freundschaft fähig. Er ist außergewöhnlich kultiviert und weltläufig. Von Außenpolitik, von Deutschland und Europa verstand er mehr als die meisten seiner Vorgänger.“13
In der Zeit zwischen dem Mauerfall bis zur Deutschen Einheit war die Zusammenarbeit zwischen Bonn und Washington besonders intensiv und Kohl ist davon überzeugt, dass die Rückendeckung der amerikanischen Regierung zu einem großen Teil auf die Sympathie zwischen dem deutschen Bundeskanzler und dem amerikanischen Präsidenten zurückzuführen sei. Bei unzähligen Telefongesprächen und persönlichen Begegnungen scheint ein enger „Schulterschluss“ in der Tat spürbar gewesen zu sein. Demnach sei George Bush ein „Glücksfall für uns Deutsche“ gewesen, ohne den die deutsche Einheit im Jahr 1990 nicht zustande gekommen wäre.14 Freundschaft und Treue habe Bush vor allem in seiner Reaktion zum Zehn-Punkte-Plan bewiesen, mit dem sich der Kanzler vor allem aus Moskau und London heftigster Kritik ausgesetzt sah. Bush habe Kohl seine Zustimmung und Unterstützung zugesichert, woraufhin sich dieser sichtlich bewegt mit dem durchaus ernst gemeinten Kompliment bedankt habe, dass es seit der Ära Adenauer-Dulles nicht mehr eine so gute und gefestigte deutsch-amerikanische Beziehung gegeben habe.15
Kohls Besuch in Camp David im Februar 1990 stelle einen Höhepunkt in der Beziehung zu Bush dar. Auf dem Landsitz des amerikanischen Präsidenten sei Kohl noch einmal deutlich geworden, dass die enge Freundschaft und vertrauensvolle Partnerschaft mit den USA eine entscheidende Vor...